Königsberg, Ostpreußen
Mein Name ist Christa Helene David. Ich bin in Königsberg in Ostpreußen geboren am 17. Januar 1939. Mein Vater, Max Adolf Noetzel, ist in Osznogarren geboren am 4. März 1998. Meine Mutter, Anna Helene, geborene Glagau, ist auch in Königsberg geboren am 25. Mai 1903. Ich bin in Lauth, einem Vorort von Königsberg, geboren. Meine Eltern hatten vier Töchter. Es wären auch zwei Söhne dort gewesen. Aber leider sind sie im Kindesalter verstorben. So haben meine Eltern mit ihren vier Töchtern in einem Haus gewohnt.
Mein Vater hatte das Haus mit seinen eigenen Händen erbaut aus Bahnschwellen, das war das Ungewöhnliche. Er hatte einen Freund, der Eisenbahner war, und von dem erhielt er diese Bahnschwellen. Meine Eltern waren sehr fleißige Leute. Sie hatten einen kleinen Nebenverdienst durch die Landwirtschaft. Sie hatten sich Hühnerlegebatterien angeschafft, und sie hatten eine Kuh, ein Pferd und Enten und Hühner. So wuchs ich ein bisschen auf einem Kleinbauernhof auf. Ich bin ja zu Beginn des Krieges geboren worden. Und bald konnte man das auch feststellen.
Meine Eltern hielten sich zuerst der NSDAP fern, bis mein Vater es doch versuchte, dort als Hauswart oder etwas Ähnlichem mitzuwirken. Meine Mutter lehnte jede Teilnahme ab. Sie sollte von Hitler das Verdienstkreuz erhalten, weil sie sechs Kinder geboren hatte. Aber sie lehnte es ab. Sie wollte mit dem Ganzen nichts zu tun haben. Dann kam der Krieg mit seinen schrecklichen Bombenangriffen, obwohl es bei uns in Lauth noch nicht so schlimm war. Doch gegen Ende des Krieges, als meine Mutter meinem Vater sagte, dass sie das Näherrücken der Front hörte, sagte mein Vater: „Nein, Königsberg wird nie eingenommen. Das wird gehalten. Du kannst ganz beruhigt hier bleiben.“ Aber die Bomben kamen immer näher. Mein Vater hatte auf einem Stück Land, das uns gehörte, einen Bunker gebaut. Und als wir einmal in diesem Bunker saßen, hörten wir sehr viele Bomben fallen. Wir sind auf das Dach des Hühnerhauses gestiegen und haben dann gesehen, wie Königsberg brennt. Das war sehr weit sichtbar. Und in meiner Erinnerung sehe ich noch, die hohen Flammen und wie die Rauchwolken in den Himmel stiegen.
Ich hatte zwei Schwester, die älter waren als ich: Inge und Elfriede, die ein Jahr auseinander lagen und sechs und sieben Jahre älter waren als ich. Diese Schwestern mussten nach Königsberg zur Schule, ich war ja noch zu klein. Sie haben in Königsberg viele schreckliche Dinge gesehen. Auch verbrannte Menschen. Es war furchtbar, und sie sind wieder nach Hause gekommen. Das hat meine Mutter aber sehr beunruhigt. Viele aus unserer Nachbarschaft waren schon fortgegangen. Aber mein Vater, da er Blockwart war, getraute sich nicht, weil es verboten war. Meine Mutter bettelte, dass wir gehen könnten. Und er meinte dann auch, dass es an der Zeit wäre. Meine Mutter bettelte, dass er mit uns gehen solle. Aber mein Vater war einkaserniert. Er war nicht wehrfähig, weil ihm zwei Finger fehlten. Es gab damals nicht die Sicherheitsvorkehrungen an den Maschinen wie heute, und deshalb hat er durch einen Unfall zwei Finger verloren. Es waren die Finger, die man benötigt, um ein Gewehr zu bedienen. Er war trotzdem eingezogen worden. Er hatte die Aufgabe, russische Arbeiter zu beaufsichtigen. Wir wohnten nahe am Flugplatz, auf dem viele russische Arbeiter beschäftigt waren. Und er musste dort bleiben. Einige Männer hatten sich als Frauen verkleidet und hatten das Gebiet verlassen. Meine Mutter bettelte, er möge doch mit uns gehen. Aber mein Vater sagte: „Soll ich vor euren Augen erschossen werden? Das werde ich nicht tun. Ihr müsst gehen. Ich werde die Kampfhandlungen abwarten, und dann hole ich euch wieder zurück. Geht nach Prenzlau.“
Wir sollten mit dem Schiff nach Pilau fahren, um von dort nach Kohlberg [Kołobrzeg] zu kommen. Und von dort aus konnte man dann nach Prenzlau fahren. Ende Januar, einige Nachbarn haben sich mit uns zusammengetan, sind wir dann aufgebrochen. Die Schwierigkeit war, dass meine Mutter noch ein Baby bekommen hatte, meine letzte Schwester Annelies. Wir mussten mit einem Kinderwagen unterwegs sein. Das Baby war erst acht Wochen alt. Annelies ist am 6. Dezember geboren, und Ende Januar gingen wir auf die Flucht. Und es war wirklich sehr kalt.
Ich möchte über den Abend sprechen, als mein Vater von uns Abschied genommen hat. Es war bei uns in der Küche. Meine Mutter hatte das Baby auf dem Arm, und wir Mädchen standen um die Gruppe herum. Meine Mutter weinte und wollte nicht alleine gehen, aber mein Vater sagte dann: „Du hast doch noch deinen Gott.“ Er hatte anscheinend nicht mehr seinen Gott. Er hatte seinen Glauben verloren, als er seine zwei Söhne verloren hatte. Er hatte Probleme mit deren Tod, weil er der Ansicht war, dass kein Gott so etwas tun könne. Er war doch so stolz gewesen auf seine zwei kleinen Söhne. Und deshalb sagte er zu meiner Mutter: „Du hast doch noch deinen Gott.“ Und das hatte sie auch. Wir haben gebetet und sind dann mit dem Kinderwagen auf ein Pferdefuhrwerk gestiegen, das von der Nachbarschaft gestellt wurde. Meine Mutter erlaubte uns noch, irgendetwas mitzunehmen, aber es durfte nicht schwer sein. Ich bin dann in unsere beste Stube gegangen und habe mein kleines Sparschwein aus Silber geholt, welches ich zur Taufe erhalten hatte. Das durfte ich mitnehmen. Meine Mutter nahm komischerweise einen Schöpflöffel mit, der auch aus Silber war. Den fand sie so gut und nahm ihn mit. Und meine Schwestern nahmen Schulsachen mit. Dann sagte sie: „Dreht euch noch einmal um“. Und wir sahen unser Haus im Schnee liegen, und sie sagte: „Vielleicht sehen wir es nie wieder“. Diesen Augenblick haben wir alle nie vergessen. Es war das letzte Mal, dass wir unser Haus sahen. Und auch unseren Vater haben wir nie wieder gesehen.
Wir sind dann Richtung Pilau gefahren. Das lag etwa zwanzig Kilometer von uns entfernt. Mit dem Fuhrwerk fuhren wir zuerst nach Königsberg bis zum Hafen und von dort durch den Pregel nach Pilau. Zum Glück war der Pregel nicht zugefroren. Pilau war zu der Zeit ein Wehrmachtsumschlagplatz. Der Hafen war sehr groß. Und es waren sehr viele Menschen dort. Mein kindlicher Eindruck war, dass ich hier totgetreten werde. Meine Mutter sagte, dass wir einander festhalten sollten, damit wir zusammenblieben. Es gab ein großes Schiff, auf das alle Flüchtlinge stürmten. Meine Mutter mit dem Kinderwagen war sehr im Nachteil. Ein Rad war schon beschädigt. Und dann kamen Männer von hinten und warfen ihren Rucksack auch noch in den Kinderwagen und trampelten alles nieder. Es wurde keine Rücksicht genommen in diesem Gewühl. So mussten wir stehen bleiben und das Leben des Babys retten. Und so bekamen wir dieses Schiff nicht. Aber ich habe gesehen, dass das Personal die Menschen nur ohne das Gepäck auf das Schiff ließen. Sie sagten, dass sie das Gepäck verladen würden. Aber sie haben es ins Wasser geworfen. Die Brücken wurden eingezogen, weil das Schiff übervoll war. Und dann sind trotzdem noch Menschen in das Wasser gesprungen, um mitzukommen. Aber das Wasser war sehr kalt und zum Teil mit Eisschollen bedeckt.
Dieses große Schiff haben wir also nicht bekommen, und meine Mutter war sehr verzweifelt. Es gab da einen Wagen mit einem Polen, der uns aufgenommen hat. Er sagte zu meiner Mutter: „Nicht weinen, Frau. Wir finden eine Lösung.“ Dann kam ein Verlader mit einem kleinen Schiff, und der sagte: „Muttchen, hast du keinen Platz bekommen? Mach dir keine Sorgen, ich habe ein Frachtschiffchen und kann dich mitnehmen“. Wir konnten dann auf Stroh schlafen. Und am nächsten Tag waren noch mehr Leute da. Und alle fanden auf diesem Schiffchen Platz. Der Pole hat uns auch noch eine warme Suppe gegeben. Meine Schwestern erinnern sich nicht mehr daran; aber ich weiß es noch, denn er war sehr nett zu mir. Uns wurde gesagt, dass wir eine Treppe hinunter gehen sollten. Dort gab es Stroh, auf dem wir sitzen konnten. Der Kapitän dieses Schiffchens sagte, ich habe ein Frachtschiff, und ich transportiere Marmeladeneimer. Also verhungern werden wir nicht, denn ihr sitzt alle auf Marmeladeneimern. Dann fuhren wir los. Und der Kapitän sagte: „Leute, habt keine Angst. Ich bring euch hinüber. Wir fahren durch Feindesgebiet. Aber ich bring euch hinüber“. Er hat uns solche Zuversicht gegeben, dass er es schaffen würde. Dann sagte er noch: „ Keine Panik. Ich werde diesen Niedergang mit Brettern zunageln, damit ihr mir nicht in Panik herauslauft. Denn wir müssen in völliger Dunkelheit fahren, damit wir vom Feind nicht gesehen werden“. Das hat er dann auch gemacht. Meine älteste Schwester, die sehr pfiffig war, war draußen auf dem Schiff gewesen und hat sich alles angesehen und hat gesehen, wie wir vom Feind umgeben waren.
Aber alle mussten nach unten in den Laderaum, und es wurde hinter uns zugenagelt. Und da gab es doch einige Unruhe und ängstliche Schreie. Auch unser Baby schrie sehr. Meine Mutter hatte wohl Milchnahrung führ das Baby mitgenommen. Aber die war inzwischen sauer geworden. Zuerst wollte das Baby die saure Milch nicht. Aber weil es nichts Anderes gab, musste es diese doch trinken. Denn bei all dem Schrecken der Flucht war ihre natürliche Milchquelle versiegt. Das Baby schrie, und die Leute um uns herum verlangten, dass meine Mutter es beruhigen sollte. Als es dann dunkel wurde, hörten wir die Bomben um uns herum einschlagen. Das Schiff schaukelte sehr, und alles wirbelte durcheinander. Wir dachten, dass es unser Ende sei. Meine Mutter zog dann alle ihre Kinder ganz dicht zu sich heran und sagte: „Ihr müsst keine Angst haben. Gott wird uns beschützen“. Und sie hat gebetet. Dann hörten wir, wie die Eisschollen an unserem Schiff vorbei schrammten. Aber unser Schiff ist heil geblieben. Es war stark genug bebaut.
Wir waren zwei Tage und zwei Nächte unterwegs. Dann waren wir in Kohlberg. Das war zu der Zeit sicheres Gebiet vor dem Feind. Die Flüchtlinge wurden in öffentlichen Einrichtungen untergebracht. Wir kamen in ein Kinderheim. Ich erinnere mich, dass wir an einem schönen, sauberen Tisch saßen, der weiß gescheuert war. Und wir bekamen etwas zum Essen. Ich erinnere mich auch noch, dass ich einfach nicht verstehen konnte, was um mich herumpassierte. Ich wollte wieder nach Hause in mein Bett und zu meinem Vater und jammerte ziemlich, als wir die Zeit auf dem Schiff waren. Ich war ja erst sechs Jahre alt. Aber hier in Kohlberg waren wir erstmal in Sicherheit.
Dann sind wir mit dem Zug nach Prenzlau gefahren. Da sah ich, wie unheimlich überfüllt der Bahnhof war. Und wenn meine Mutter mit dem Baby auf die RK-Station zum Wickeln ging, denn es war so kalt, dass man das nirgendwo anders tun konnte, begann ich panisch zu schreien. Ich wollte nicht mehr bei meinen Schwestern bleiben. Ich wollte nur in der Nähe meiner Mutter sein. Ich klammerte mich an sie und kam dann auch mit in diese Station. Dort bekamen die Babys Nahrung, und man konnte sie neu wickeln. Meine beiden großen Schwestern hatten die Aufgabe, in der Zwischenzeit auf die zwei Säcke aufzupassen, die wir mitgenommen hatten. Meine Mutter gab uns den Auftrag, immer ganz dicht zusammenzubleiben. Wir sahen, dass manche Mütter ihre Kinder mit einem Band an sich gebunden hatten, um sie ja nicht zu verlieren. Und trotzdem sind sehr viele Kinder verloren gegangen.
Der Zug war sehr überfüllt. Aber man rief: „Lasst die Frau mit dem Kinderwagen in den Zug“. Und wir bekamen dann einen Stehplatz im Zug. Aber es gab Menschen, die saßen oben auf dem Zug oder hingen draußen am Zug, nur um mitzukommen. So kamen wir nach Prenzlau, wo wir Verwandte haben sollten. Aber wir haben sie nicht gefunden, weil es dort schon Bombenangriffe gegeben hatte und manches zerstört war. Das hatten wir nicht erwartet. Irgendwie hatte das mit der Einkesselung Königsbergs zu tun. Wir blieben dort einige Tage. Sehr gute Bekannte aus unserer Nachbarschaft mit ihrer ganzen Familie war mit uns zusammen. Deren eine Tochter hatte bei der Wehrmacht erwirkt, dass wir alle mit Wehrmachtsautos mitkommen konnten, um nach Schleswig Holstein zu kommen. Die Soldaten waren auf dem Rückzug und haben einige Flüchtlinge mitnehmen können. Wir mochten nicht darüber nachdenken, was diese junge Frau tun musste, um unser Mitnehmen zu bewerkstelligen. So konnte auch meine Mutter mit ihren vier kleinen Kindern mitgenommen werden. Dafür waren wir sehr dankbar, obwohl wir die Frau eigentlich nicht leiden konnten.
Wir glauben, dass die Frau von Gott inspiriert war, uns mitzunehmen. Denn in Prenzlau wären wir zugrunde gegangen. Meine Mutter dachte in Prenzlau daran, noch meine Mandeln kappen zu lassen. Das kommt mir heute ganz unwahrscheinlich vor. Denn wie konnte sie an so etwas denken, wo wir doch in solcher Not waren. Und sie hat diesen Eingriff wirklich vornehmen lassen. Wir müssen also schon etwas länger dort geblieben sein. Wenn Angriffe kamen, wurden diese durch eine Sirene angekündigt, und man musste sofort in einen Luftschutzbunker gehen. Das passierte auch, als wir von dem HNO-Arzt kamen. Meine Schwestern waren dabei. Und wir liefen alle ganz schnell in ein Haus, um dort in den Luftschutzkeller zu gehen. Weil meine Schwestern und ich aber so nötig auf die Toilette mussten, verließen wir noch einmal den Keller, um in das obere Stockwerk zu gelangen, weil sich dort eine Toilette befand. Und auf dem Rückweg in den Keller wurde auf uns durch die Treppenhausscheiben geschossen. Neben dem Keller gab es einige Bombeneinschläge. Und viel Betonstaub wirbelte durch die Gegend. Es gab Mütter, die ihren Kindern Handtücher in den Mund gesteckt haben. Die Frau schrie: „Der Luftdruck zerreißt uns alle.“ Es gab sehr viele panische Handlungen. Aber meine Mutter war ganz ruhig. Sie sagte: „Kommt alle her. Ganz dicht zu mir. Wenn jetzt eine Bombe fällt, dann sterben wir alle gemeinsam. Niemand bleibt von uns allein zurück. Es ist nicht schlimm. Wir gehen dann alle zusammen zu Gott in den Himmel.“ Und dann begann sie zu beten. Ich weiß nicht, was sie gebetet hat, aber es hat uns sehr beruhigt. Wir fühlten uns wie auf einer wunderbar ruhigen Insel. Überall schlugen die Bomben ein. Aber nicht bei uns.
Die sich zurückziehenden Soldaten mit ihren Lastwagen haben uns Flüchtlinge auf ihre Wagen verteilt, und meine Mutter und ich fuhren nicht zusammen in einem Auto. Meine Mutter mit dem Baby in einem und meine Schwestern und ich in einem anderen Auto. Das war für meine Mutter sehr beängstigend. Aber man hatte ihr versprochen, dass man in der Kolonne zusammenbleibt. Wir saßen hinten in einem Auto und schauten nur hinaus, um zu sehen, wo unsere Mutter mit dem anderen Auto blieb. In Prenzlau lagen viele tote Menschen und Tiere an den Straßenrändern. Das konnten wir sehen, als wir dort fuhren. Wie lange wir unterwegs waren, das weiß ich nicht. Wir sind wohl auch des Nachts gefahren. Es gab feindliche Angriffe. Einmal riefen die Soldaten: „Raus, raus, raus. Alle schnell raus!“ Es kamen Tiefflieger. Aber um uns herum war freies Feld, und wir konnten uns nirgendwo verstecken außer unter den Autos. So sind wir alle unter die Autos gekrochen. Wir sahen auch unsere Mutter mit dem Baby unter einem anderen Auto liegen. Und dann kamen die Tiefflieger. Dieses Geräusch kann ich nicht vergessen. Bis heute kann ich das Geräusch tief fliegender Flugzeuge nicht ertragen, weil die Angst, die man damals hatte, sofort wieder gegenwärtig ist. Auch heute träume ich noch manchmal davon dazuliegen und kein Loch zu haben, in das man sich verkriechen könnte, um nicht gesehen zu werden. Die Tiefflieger flogen mehrere Male über uns hinweg. Aber sie haben uns nicht getroffen. Und wir konnten später weiterfahren.
An weitere Vorfälle kann ich mich nicht mehr erinnern, außer dass es noch andere Angriffe gab. Dann kamen wir nach Lübeck. Leider haben wir dort keine Verwandten getroffen. Wir kamen in ein Auffanglager. Es gab einen riesigen Saal mit Doppelstockbetten, die aus rohem Holz zusammen gezimmert waren. Wir hatten ein Bett. Und jeder war glücklich, einen Ort zu haben, von dem er sagen konnte: Hier schlafe ich, und hier kommt niemand anders hin. Es war eine Erlösung für uns, ein Bett zu haben. Wie lange wir in dem Lager waren, das weiß ich nicht. Später kamen wir mit einem Transport nach Kellinghusen in Schleswig Holstein. Kellinghusen liegt in der Nähe von Itzehoe und Itzehoe liegt in der Nähe von Hamburg. Kellinghusen ist eine Kleinstadt. Dort kamen wir auch in ein Lager, ein ehemaliges Kino. Als wir aus dem Auto ausstiegen, wurde uns bewusst, dass wir überhaupt nichts mehr besaßen. Die Säcke, die wir von zu Hause mitgenommen hatten, waren schon lange verloren gegangen. Wir hatten von den Soldaten Wehrmachtsdecken erhalten, damit das Baby warm gehalten werden konnte. Aber diese schöne Decke für das Baby hat man ihr dann gestohlen. Wir hatten also nur das, was wir auf dem Leibe trugen. Als wir nun in dieses Auffanglager kamen, riefen die Leute gleich: „Hier ist alles verlaust“.
Meine Mutter hat sehr darauf geachtet, dass wir trotz dieser schwierigen Umstände keine Läuse bekamen. Als wir dort ankamen, haben wir erst einmal gebetet und gedankt, dass Gott uns so beschützt hat. Und oft hat meine Mutter erwähnt, wo Gott uns überall beschützt hat. Immer wieder hat sie uns darauf hingewiesen, und wir haben es ja auch erlebt. Dann wurden die Flüchtlinge verteilt. Wir sollten nach Rensing, einem Vorort von Kellinghusen, mehr auf dem Lande gelegen, gebracht werden. Ein ehemaliges Gut, Luisenberg, lag in der Nähe. Dort gab es Felder und Einfamilienhäuser. Und in so ein Einfamilienhaus sollten wir einquartiert werden. Da sich niemand freiwillig gemeldet hatte Flüchtlinge aufzunehmen, stand man einfach vor deren Tür, und sie mussten von einer Minute zu den anderen Flüchtlingen aufnehmen. Und so war es auch mit uns. Es war acht Uhr morgens, und wir standen vor dem Haus eines älteren Ehepaares mit Namen Steinen. Eine verheiratete Tochter mit Mann lebte dort schon. Die Beamten gingen durch das Haus und beschlagnahmten das Zimmer, in dem das junge Ehepaar gerade noch in den Betten gelegen hatte. Dort wurden wir hineingesetzt. Und das war meiner Mutter sehr peinlich. Zu Hause hatten wir auch ein Haus besessen mit allem, was dazugehört. Und hier standen wir nun mit nichts in der Hand. Aber die Leute waren sehr nett. Sie haben das Zimmer freigeräumt. Es gab dort alte Möbel und einen riesigen Kachelofen. Uns wurde gesagt, dass wir ja nichts kaputt und dreckig machen sollten. Der Besitzer baute uns ein Bett, und ein Bett ließ man im Zimmer. Meine Mutter, das Baby und ich schliefen in dem einen und meine beiden Schwestern in dem anderen Bett. Man gab uns auch ein Federbett, ein richtiges warmes Bett. Aber für meine Schwestern gab es nur Stroh in dem Bett und nichts zum Zudecken. Es war immer noch kalt in den Nächten. Meine Schwestern jammerten in der Nacht, dass ihnen so kalt wäre. Wir hatten zwar unsere Mäntel und was wir noch hatten über sie gedeckt. Aber es war trotzdem sehr kalt.
In dem ersten Winter hatten wir auch keine Nahrung. Es gab keine Kartoffeln, denn es war Winter. Man gab uns zwar einiges von ihrer Nahrung, aber es war sehr spärlich. Wir sind nicht verhungert, aber wir sind gerade nur so am Leben geblieben. Im nächsten Sommer hat meine Mutter sich auf dem Gut zur Feldarbeit gemeldet. Ich bin auch mitgegangen. Die großen Mädchen mussten in die Schule. Und ich habe auf meine kleine Schwester aufgepasst, während meine Mutter auf dem Feld arbeitete. Sie hat für Nahrungsmittel gearbeitet. Wenn die Erntezeit vorbei war, wurden die Felder für die Flüchtlinge freigegeben zum Ährennachlesen. Auch Bucheckern haben wir gesammelt in den Wäldern, überhaupt alles, was essbar war.
Die Kirche haben wir in Duisburg kennengelernt. Um die Gebiete im nördlichen Teil Deutschlands etwas zu entlasten, startete man eine Umsiedlung. Meine Mutter dachte auch daran, dass es einfacher wäre, einen Arbeitsplatz oder Ausbildungsplatz für die älteren Mädchen zu erlangen, und so stimmte sie einer Umsiedlung zu. Zuerst kamen wir nach Remscheid. Eine meiner Schwestern hat dort geheiratet. Sie hat uns auch eine Wohnung besorgt. Auch ich habe geheiratet. Mein Mann hatte in Reinhausen eine Arbeitstelle. Er bekam auch eine Betriebswohnung. Und als junge zwanzigjährige Frau bin ich so nach Reinhausen gekommen.
Zu der Zeit habe ich sehr viel über Religion nachgedacht. Ich war jung verheiratet und hatte ein Kind. Und wenn man ein Kind hat, dann möchte man es richtig erziehen. Man möchte ihm Werte mit auf den Weg geben. Meine Mutter hatte uns religiös erzogen. Doch mir fehlte in der evangelischen Kirche etwas. Auch als ich noch in der Ausbildung in Remscheid war, besuchte ich andere Kirchen, um mehr zu finden, als ich in der Evangelischen hatte. Zum Beispiel fand ich, dass, wenn man etwas falsch gemacht hatte, dass es einen Weg der Umkehr geben müsse. Das hieß in der evangelischen Kirche Buße. Aber es gab nur einen Buß und Bettag. Und ich machte doch öfter Fehler. Ich fühlte mich fern von Gott und wollte ihm näher kommen, aber ich wusste nicht, wie ich umkehren könnte von meinen Fehlern. Ich dachte, dass ich nicht würdig sei, zu schlecht. Und so suchte ich alle möglichen Kirchen auf, fand aber keine, die mir helfen konnte. Als wir drei Kinder hatten, haben wir dieses Haus hier in Krefeld gebaut. Mein Mann war im Rat der Stadt. Das hat uns zwar nicht reicher gemacht. Aber man hatte mehr Möglichkeiten, an Gelder zu kommen. Und so haben wir dieses Haus gebaut. Im Januar 1966 kamen die Missionare an die Tür. Ein Jahr davor habe ich noch am Weihnachtsfest geweint, weil wir Weihnachten gefeiert hatten, wie ich es mir nicht vorgestellt hatte. Es war nicht so, wie es sich ein Gläubiger vorstellt. Mein Mann hatte die Nachbarn von nebenan eingeladen. Und die haben Alkohol getrunken. Am Heiligen Abend. Ich habe bis spät in die Nacht geweint und habe gesagt: „So kann ich nicht leben. So kann ich nicht leben. Ich muss Gott finden“.
Ich habe die Bibel aufgeschlagen und darin gelesen. Ich brauchte etwas! Im Januar kamen dann die Missionare. Ich habe es nicht sofort erkannt, dass dieses die Hilfe aus meiner religiösen Not war. Einer der Beiden war der Bruder Hill. Sie standen da und sagten, dass sie ein Buch für mich haben. Das ist das Buch Mormon. Ich war sehr abweisend und sagte: „Nein, ich kaufe nichts“. Ich dachte, es handelte sich um einen Buchklub. Aber er sagte: „Ich schenke ihnen das Buch“. Ich erwiderte: „Heute schenkt niemand mehr irgendjemandem etwas.“ Ich ließ mich dann überreden, das Buch zu nehmen. Auch machten wir einen Termin aus, um uns wieder zu treffen. Ich legte das Buch zuerst zur Seite. Später nahm ich es dann zur Hand und las die Geschichte von Joseph Smith. Darüber musste ich sehr nachdenken. Es hat mich sehr aufgeregt. Weiter bin ich nicht gekommen. Es hat mich so aufgeregt, dass es eine Religionsgemeinschaft in Amerika gab und einen jungen Mann, der Gott gesehen hat. Uns wurde immer gesagt: „Das gibt es nicht. Gott spricht nicht mehr“. Es war für mich eine schlimme Anmaßung, die sich dieser junge Mann vielleicht ausgedacht hatte.
Während ich noch darüber nachdachte, ob es wohl wahr sei, was ich gelesen hatte über Joseph Smith, kamen die Missionare wieder. Wir haben dann Teile aus dem Buch Mormon gelesen. Als ich den Geist der Missionare spürte, ich wusste nur damals nicht, was das war, was ich spürte, kam ein ganz wunderbares Gefühl über mich während der Zeit, wo wir zusammen waren. Und ich wusste: Es ist wahr. Sie haben ihr Zeugnis gegeben. Und das Zeugnis hat mich sehr berührt. Die Vorstellung, dass es wahr sein könnte, dass es einen Propheten gibt, war es, wonach ich gesucht hatte. Ich war so begeistert, dass ich natürlich meinem Mann auch davon erzählt habe. Er war wohl auch einmal dabei, als die Missionare da waren. Aber er lehnte es ab. Er sagte: „Wir waren immer evangelisch und ich will keine amerikanische Kirche“. Er lehnte es auch ab, sich mit dem Buch Mormon zu beschäftigen und sagte, dass ich es auch bleiben lassen solle. Aber ich konnte das gar nicht mehr anders. Die Missionare kamen weiterhin, mich zu belehren. Irgendwann war ich dann bereit, um getauft werden zu können. Aber ich brauchte die Einwilligung von meinem Mann. Er verweigerte die Unterschrift für die Erlaubnis. Ich konnte bis auf einmal die Kirche vorher nicht besuchen. In Duisburg gab es angemietete Räume in der Turnhallenstraße. Und da habe ich zum ersten Mal die Kirche besucht. Es war schön.
Ich hatte natürlich ein fast vollkommenes Volk erwartet, ein Volk, das nach Gottes Geboten lebt, ein Zion, das fast in den Himmel genommen werden sollte. Ich habe keine Enttäuschungen erlebt. Ich habe freundliche Menschen gefunden, die mich mit meinen Kindern empfangen haben. Und ich sehnte mich immer wieder danach, dort hinzugehen. Damals gab es noch die Sonntagsschulvormittage und nachmittags die Abendmahlsversammlungen. Und ich habe immer sehr gut zugehört. Nach Möglichkeit habe ich die Versammlungen besucht. Ich konnte es nur nicht immer, weil mein Mann gar nicht damit einverstanden war. Zwischenzeitlich habe ich natürlich schon missioniert. Ich habe der Schwester meines Mannes davon erzählt. Auch habe ich ihr Traktate gegeben. Und auch meinen Schwestern habe ich vom Evangelium erzählt. Meine Schwägerin, die Schwester meines Mannes, beschäftigte sich näher mit den Informationen. Aber ihr Mann war ganz böse und hat sich von anderer Seite Informationen geholt, negative Informationen. Zuerst hat er die Missionare in sein Haus gelassen, und dann hat er ganz furchtbar geschimpft. Es gab einen Missionar, der einen Fluch über ihm ausgesprochen hat in Gegenwart seiner Frau. Der Missionar hat sich die Füße abgetreten. Und mein Schwager wurde nur noch böser. Er hat es auch meinem Mann erzählt, dass er von dem Missionar verflucht worden sei. Und er meinte, dass mein Mann auch bald verflucht werden würde.
Ich konnte mit dieser Situation nicht fertig werden. Mein Mann hat mir ganz und gar verboten, die Missionare hier noch einmal in das Haus zu lassen. Aber ich bin in die Versammlungen gegangen, wenn mein Mann am Sonntagmorgen in seine Versammlungen vom Rat der Stadt oder zu seinem Stammtisch gegangen war. Jede Gelegenheit habe ich genutzt, um zu gehen. Dann habe ich mich auch erkundigt, was es mit dem Fluch auf sich hat. Aber niemand konnte mir eine richtige Antwort geben. Im Laufe der Jahre habe ich dann einiges darüber gelesen. Es gibt wohl diesen Fluch, aber er wird nicht angewandt. Der Missionar bedauerte später auch diesen Vorfall. Aber die Ehe meiner Schwägerin ist geschieden worden, aber nicht wegen dieses Vorfalls, sondern ihr Mann hat sich bei einem Kuraufenthalt eine andere Frau genommen. Er hat nie aufgehört, über die Kirche zu schimpfen und zu lästern. Meine Schwägerin ist Mitglied der Kirche geworden und ist alleine mit ihren Kindern geblieben. Es ist die Schwester Klein aus Düsseldorf. Obwohl mein Mann oft geschimpft hat, bin ich mit den Kindern in die Kirche gegangen. Er hatte auch den Kindern den Besuch verboten. Aber meine älteste Tochter, die Martina, sagte: „Papa, ich geh doch in die Kirche“! Einmal wurde es so wütend, dass er ihr eine Ohrfeige gab. Es war das einzige Mal. Sie sagte: „Jetzt gehe ich erst recht in die Kirche“. Und sie ist gegangen. Heute ist sie leider untätig. Das tut mir so leid. Aber sie wird die Erlebnisse nicht vergessen. Sie hat für ihren Glauben gekämpft. Sie stand an meiner Seite. Wir haben Familienheimabende abgehalten. Wir haben am Tisch gebetet. Alles hat meinen Mann weicher gestimmt. Später durften die Missionare auch wieder kommen. Er hat festgestellt, dass die Kirche nichts Übles will. Einmal hat er sogar mit einem Missionar gesprochen. Der hatte es geschafft, weil er Politikwissenschaft studierte in den USA. Er war mein Mann sehr sympathisch. Diesem Missionar versprach er auch, das Buch Mormon einmal zu lesen. Aber ich glaube, er hat es nicht getan, denn es gab keinen Fortschritt. Am Ende seines Lebens, als er an Krebs erkrankte, er wusste es schon länger, dass er an Krebs sterben würde, da hat er sich ganz heimlich mit dem Buch Mormon auseinandergesetzt. Er hat mir nichts davon gesagt. Beinahe am Ende seines Lebens sagte er mir, dass er mit Gott gesprochen hätte, dass er viel Zeit zum Nachdenken gehabt hätte. Er sagte, dass er jetzt geht und dort auf uns wartet.
Er wusste inzwischen sehr viel von uns und dem Glauben. Er hat mich auch in den Tempel gehen lassen, als die Zeit da war. Und er hat auch immer dafür gesorgt, dass es mir möglich war, zu gehen. Am Tag der offenen Tür in Frankfurt, als der Tempel erbaut worden war, hat er sich den Tempel angesehen. Das war der schönste Tag, als er mit in den Tempel kam und wir uns den Tempel angesehen haben. Er war sehr berührt. Ich stand mit ihm vor dem celestialen Raum, und ich sagte: „Hier möchte ich mit dir hin“. Und er fand es gut. Er war ein starker Raucher. Und er konnte als Politiker nicht sein Gesicht verlieren. Deshalb hat er sich nicht taufen lassen. Der erste Besuch im Tempel war damit verbunden, die Arbeit für meinen Vater zu tun. Meine Schwester, die Jüngste, die als Baby die Flucht mitgemacht hatte, war zu der Zeit schon in Afrika. Sie hat einen Afrikaner geheiratet und ist mit ihm und ihren beiden Kindern nach Afrika gegangen. Sie hat dort geholfen, die Kirche zu gründen. Sie ist 1989 nach Deutschland gekommen. Und ich bin dann zum ersten Mal in den Tempel gegangen. Sie hatte im Tempel geheiratet. Mein Schwiegersohn hat sich für meinen Vater taufen lassen. Mein Sohn hat das Endowment für ihn erhalten. Es war eine wunderbare Zeit. Wir wussten, dass unser Vater das Evangelium angenommen hat.
Unser Vater ist im Krieg verschollen. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Als Kind habe ich stark unter dem Verlust meines Vaters gelitten, weil ich sehr an ihm gehangen habe. Jahrzehntelang habe ich geträumt, dass er wiederkommen würde. „Oh, mein Vater ist da“. Und im Traum dachte ich, dass es Wirklichkeit ist. Und ich habe ihn gefragt: „Vater, bist du wirklich da“. Und er antwortete: „Ja, ich bin wirklich da. Du träumst nicht. Ich bin da“. Das ging so lange, bis ich die Arbeit für ihn getan hatte. Danach sind die Träume ausgeblieben. Meine Seele war ruhig.