Plauen, Vogtland
Mein Name ist Rosemarie Karin Drese. Ich wurde am 9. Mai 1940 in der Stadt Plauen im Vogtland in Sachsen geboren. Mein Vater war der Konditormeister Rudi Reinhard Riedel. Meine Mutter ist die Ilse Ida Dorn. Mein Vater wurde am 30. Mai 1909 und meine Mutter am 9. April 1912 in der gleichen Stadt geboren. Ich bin das zweite Kind und die einzige Tochter meiner Eltern. Mein älterer Bruder heißt Klaus und ist acht Jahre älter. Mein jüngerer Bruder heißt Wolfgang und ist viereinhalb Jahre jünger. Auch sie sind gebürtige Plauener. Meine Kindheit war liebevoll und behütet. Ich hatte eine sehr liebe Mutter und einen gütigen Vater. Ich war der Liebling meines Vaters.
Mein Vater wurde 1944 eingezogen. Er kam nach Italien. Dies rettete ihm das Leben. Im Jahre 1945 kam Schlimmes auf uns zu. Die Bombenangriffe wurden immer schlimmer. Einmal saßen wir bei einem Angriff im Keller unseres Wohnhauses und alle Hausbewohner waren still und verstört und meine Freundin Ursula aus dem Haus, sie war ein Jahr älter als ich, schrie: „Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben.“ Und wir hörten das Dröhnen der Flugzeuge und die Einschläge um uns herum. Mein Vater schrieb in seinen Briefen an meine Mutter: „Passe gut auf die Kinder auf, ich will sie alle drei lebend wieder sehen. Gehe bitte bei Luftangriffen immer in den Felsenkeller der Aktienbrauerei. Nur sie ist für euch sicher.“
Dazu ist zu sagen, dass dieselbe etwa 20 Minuten von unserer Wohnung entfernt war. Zusätzlich mussten wir von einer Brücke, die 90 Meter breit und etwa 50 Meter hoch war, etwa 100 Treppenstufen nach unten steigen und von dort waren es noch 30 Meter bis zu diesem Felsen, in dem sich Stollen befanden, die zur Kühlung und Bevorratung des Bieres dienten. Meine Mutter rannte beim ersten Sirenenton mit uns Kindern los, mein jüngster Bruder lag im Kinderwagen, er war im Dezember 1944 geboren worden und, ich wurde vorne draufgesetzt und mein älterer Bruder, er war 13 Jahre alt, begleitete uns. Er musste zusammen mit meiner Mutter den Kinderwagen die Treppen runter tragen. In der Aktienbrauerei standen die Menschen in den Stollen wie die Heringe dicht an dicht aneinander gepresst. Es war schlechte Luft und sehr warm. Meine Mutter musste darauf achten, dass wir nicht von den Menschen erdrückt wurden. Als die letzten Angriffe auf Plauen geflogen wurden, ging meine Mutter vorher mit uns aufs Land zu Verwandten. Und zwar nach Dobareuth. Dies war ein Dorf an der Grenze zwischen Sachsen und Bayern. Es war 25 Kilometer von Plauen entfernt.
Dort kamen die Tiefflieger, sogenannte Jäger, welche Jagd auf Menschen machten, d.h. sie beschossen. Dann kamen die Amis mit ihren Panzern. Wer keine weiße Fahne zum Fenster hinaushing, wurde in Grund und Erdboden geschossen. Die Tochter unseres Verwandten wollte das nicht tun, weil ihr Vater Ortsgruppenleiter war. Meine Mutter hatte aber inzwischen eine weiße Windel von meinem Bruder an einem Stab zum Fenster rausgehängt. Vorher noch wurde ich dort sehr krank. Ich bekam die Masern mit doppelseitiger Mittelohrvereiterung. Meine Mutter legte sich zu mir ins Bett und wärmte mich, weil das Zimmer eiskalt war und wir kein Heizmaterial bekamen.
Dann kam am 10. April 1945 der schlimmste Bombenangriff auf Plauen. Es wurden dabei 75% der Stadt zerstört und Tausende von Menschen getötet. Hier in Dobareuth bebte die Erde, und der Himmel war taghell und feuerrot, obwohl Nacht war. Man hatte über Plauen viele Leuchtstoffbomben abgeworfen, sogenannte „Christbäume“, damit die Ziele gut zu erkennen waren. Plauen erlebte ein Inferno. Es stand in Sachsen zusammen mit Chemnitz an zweiter Stelle in Bezug auf Verluste von Menschenleben und der Zerstörung von Häusern. Danach ging meine Mutter mit uns wieder nach Hause, damit wir unsere Wohnung nicht verloren, weil inzwischen fremde Menschen bei uns einquartiert waren.
Am 9. Mai 1945 war dann Gott sei Dank der Krieg zu Ende. Mein ältester Bruder ging dann hamstern, d.h. er besorgte bei den Bauern etwas zu essen für uns. Er hatte dazu von meiner Mutter unsere Wertsachen zum Tausch mitbekommen. Mein Vater kam kurz nach Kriegsende aus italienischer Kriegsgefangenschaft nach Hause. Im gleichen Jahr kam ich im September in die Schule. Ich besuchte etwa sechs Wochen die Schule, als ich Diphtherie bekam. Ich kam ins Krankenhaus und war acht Wochen dort. Als ich wieder zu Hause war, dauerte es nicht lange, dass ich wieder erkrankte, ich bekam Scharlach. Wiederum kam ich von zu Hause fort und musste sechs Wochen im Krankenhaus bleiben. Ich war ein schlechter Esser und sehr dünn. Hier zeigte sich schon die Hand des Himmlischen Vaters, der mich am Leben erhielt. Wieder zu Hause bekam ich noch Keuchhusten. Da schickten mich meine Eltern zur Erholung zu Freunden meines Vaters aufs Land.
Danach wurde ich wiederum im September 1947 eingeschult. Jetzt ging es mir wieder gut, mir gefiel die Lehrerin und auch meine Klassenkameradinnen, was 1946 nicht der Fall war. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr ist zu sagen, dass sich nichts Besonderes ereignete, d.h., es gab wenig zu essen und nichts zu heizen, es fehlte an allem. Es gab Lebensmittelmarken für den Bezug von Esswaren, die waren sehr knapp bemessen. Die Bevölkerung hungerte. In meinem zehnten Lebensjahr kam ich zur Erholung sechs Wochen an die Ostsee und zwar nach Sellin auf der Insel Rügen.
Als mich meine Mutter am Oberen Bahnhof in Plauen wieder von der Kur abholte, sagte sie mir, dass mein Vater eine andere Frau liebe. Der Schreck fuhr mir in alle Glieder. Mit den anderen Frauen ging es so bis zu meinem 16. Lebensjahr. Dann wurden meine Eltern geschieden. Ich stand daher in diesen Jahren im wahrsten Sinne des Wortes zwischen meinen Eltern. Mein älterer Bruder war aus der Familie, er war jung verheiratet und mein jüngerer Bruder war noch zu klein. Er verstand nicht, was vor sich ging. Von meinem zwölften Lebensjahr ab lebte und arbeitete mein Vater in einem anderen Ort. Bis zu meinem 14. Lebensjahr kam er alle acht Tage übers Wochenende nach Hause. Dann kam er nicht mehr. Mein Bruder Wolfgang und ich mussten ihn alle vier Wochen für ein Wochenende bei seiner Freundin besuchen. Meine Eltern waren nun geschieden und mein Vater ging über die Grenze in die BRD. Er arbeitete in Friedrichshafen am Bodensee als Konditor. Ich durfte ihn dort in den Schulferien besuchen. Das war 1955. Ein Jahr später arbeitete er in Weißenhorn bei Ulm in einem Café als Konditormeister. Seine Freundin folgte ihm nach. Mein Bruder und ich durften ihn dort 1956 in den Schulferien besuchen. Meine Mutter musste sich aber bei meinem Schuldirektor für mich verbürgen, dass ich wieder nach Plauen zurückkomme, sonst hätte ich nicht fahren dürfen.
Ich besuchte in jener Zeit die 10. Klasse der Diesterweg – Oberschule. Das war das letzte Jahr, dass ich in die BRD fahren durfte, dann bekam ich vom Direktor auf Anordnung des Staates keine Genehmigung mehr. Anfang der 11. Klasse wurde meine beste Freundin von der Schule gewiesen, weil ihr Stiefvater in Nürnberg arbeitete. Nur der Scheidung meiner Eltern hatte ich es zu verdanken, dass mich nicht das gleiche Schicksal ereilte.1959 legte ich dann das Abitur ab und nahm dann ein Studium an der Ingenieurschule für Textilindustrie in Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz) auf. Nach drei Jahren legte ich dort eine Ingenieurprüfung ab. Das war 1962.Anschließend trat ich in Frohburg (Sachsen) meine erste Stelle an.
Im gleichen Jahr, d.h., im Oktober 1962 heiratete ich meinen langjährigen Jugendfreund Hansjürgen Meinhold. Im Januar 1963 kam unser Sohn Stefan auf die Welt. Aber dann kam ein Tiefschlag. Mein Mann, mit dem ich sechs Jahre zusammen war, davon drei Jahre verlobt, hatte in der Zwischenzeit mich des Öfteren betrogen, so dass es im Oktober 1963 zur Scheidung kam. Nur mein kleiner Sohn gab mir in jener Zeit die Kraft, alles durchzustehen. Auf einer Stippvisite nach Leipzig lernte ich dann später einen jungen Mann kennen, Gerd Drese, der im Februar 1965 mein Mann wurde. Uns wurden noch zwei Söhne geboren, nämlich Rene und Ulf. Nach viereinhalb Jahren gingen wir von Frohburg weg und zogen nach Leipzig. Ulf war im Februar 1967 geboren und so blieb ich erst einmal dreieinhalb Jahre zu Hause, um mich den Kindern zu widmen. Dann ging ich wieder arbeiten und zwar im Fachbuchverlag Leipzig. Ich wollte der Kinder wegen nur halbtags arbeiten, aber das wurde mir nicht genehmigt, da man mich als Verlagslektorin den ganzen Tag brauchte. Ich arbeitete nun 22 Jahre in dieser Eigenschaft, und es war eine sehr schöne Arbeit. Sie hat mir sehr viel gegeben. Meine Kinder waren im Kindergarten bzw. im Schulhort untergebracht. Sobald ich nachmittags zu Hause war, widmete ich mich ihnen. Auch mein Mann entlastete mich sehr.
Ich war 22 Jahre im Verlag. 1992 wurde mir dann gekündigt, weil die Bücher, die wir herausgaben nicht mehr benötigt wurden. Von ehemals 225 Mitarbeitern blieben 60, dann 25 und später etwa fünf. Bevor ich nun zur Kirche komme, will ich noch eine wichtige Begebenheit erzählen. Es war im Jahre 1976. Meine Großmutter lebte in Oberbayern bei meiner Tante und wurde 85 Jahre. Hierzu muss ich vielleicht Folgendes sagen. Diese Großmutter war zeit ihres Lebens bei uns in Plauen gewesen und hatte uns mit aufgezogen. Sie war wie eine zweite Mutter. Im Alter wurde sie pflegebedürftig und meine Mutter konnte sie nicht betreuen, weil sie noch keine Rentnerin war und noch arbeiten musste. Deshalb siedelte meine Oma zu ihrer jüngeren Tochter nach Bayern über. Ich hatte nun die Eingebung, meine Oma zu ihrem hohen Geburtstag zu besuchen. Dies war in einer Zeit der tiefsten politischen Finsternis in der DDR eine Vermessenheit, und ich wusste nicht, ob ich im Gefängnis landen würde. Ich stellte also mein Gesuch an Honecker und hatte ein mulmiges Gefühl. Nach acht Wochen wurde ich ins Polizeipräsidium zu einer Aussprache gebeten. Außerdem hatte man sich bei uns im Haus nach unseren Familienverhältnissen erkundigt. Auch im Verlag wurde ich befragt und zusätzlich musste ich noch in die Bezirksparteileitung zum Gespräch. Ich wusste nicht, ob ich verhaftet werde. Ich muss hierzu sagen, dass ich immer zum Himmlischen Vater gebetet hatte.
Schon von klein auf hatte mich meine Mutter das Beten gelehrt. Ich bin als Kind mit meinem Bruder zum Kindergottesdienst in der evangelischen Kirche gegangen und wurde dort auch konfirmiert. Wenn ich auch später nicht mehr zur Kirche ging, so hatte ich doch meinen Glauben an den Himmlischen Vater und seinen Sohn Jesus Christus. Ich habe mein Leben lang immer früh und abends gebetet. Nun hatte ich Gott gebeten, dass ich fahren dürfte, denn ich hatte meine Großmutter sehr lieb und wollte sie vor ihrem Tode noch einmal sehen. Und niemand dachte, dass ich Erfolg hätte. Und was soll ich sagen, ich durfte für zehn Tage zu ihr reisen. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, so erschüttert war ich. Ich fuhr also über den Grenzort Gutenfürst nach Bayern und war die einzige junge Frau in einem Zug voller Rentner.
Mir war es immer so, als ob ich träume. Ich war wie aufgezogen. Meine Verwandten weinten, als sie mich in München abholten. Es war eine wunderbare Zeit, und sie verging viel zu schnell. Als ich Abschied nahm, sah meine Großmutter mich so voller Innigkeit an, sie sagte mir Lebewohl mit ihren Augen. Acht Wochen später ist sie gestorben. Ich durfte nicht zu ihrem Begräbnis.
Nun komme ich zur Kirche. Es geht mit dem Jahre 1992 los. Es war eins der schwersten Jahre meines Lebens. Im Januar hatte mein Mann einen schweren Autounfall. Das Auto hatte zwar nur noch Schrottwert, aber glücklicherweise war ihm nichts passiert. Am 9. April hatte meine Mutter ihren 80. Geburtstag, und eine Woche später musste sie ins Krankenhaus. Die Zehen ihres linken Fußes hatten sich blau gefärbt. Dies war eine Folge ihrer Zuckerkrankheit. Zuerst wurde ihr der vordere Fuß amputiert, und weil der Brand noch weiter ging, sechs Wochen später das linke Bein bis zum Knie. Bei jeder Operation betete ich inbrünstig zu Gott, dass sie am Leben bliebe. Sie überstand beide Eingriffe, und ich dankte Gott dafür. In der Klinik lernte sie dann mit einer Prothese zu laufen. Sie wurde dann bald nach Hause entlassen. Ich pflegte sie. Leider musste ich für kurze Zeit nach Leipzig zu meinem Mann. Sie blieb zwischenzeitlich in der Obhut meines Bruders sowie einer Krankenschwester. Ich war kaum fort, da stürzte sie. Nun musste sie wieder ins Krankenhaus, da sie sich beim Sturz einen Haarriss im Becken zugezogen hatte. Von da an stand sie nicht mehr auf. Etwa zur gleichen Zeit wurde mir zur Jahreswende im Verlag gekündigt. Damit gingen 22 Jahre erfolgreiche Lektorentätigkeit zu Ende. Gleichzeitig erhielt ich die Nachricht, dass die einzige Schwester meiner Mutter in Oberbayern schwer erkrankt war. Sie hatte Krebs und verstarb nach kurzer Zeit. Sie war der gute Engel unserer Familie und meine Lieblingstante. Als ich wiederum meine Mutter pflegte, sah ich, wie sie litt. Trotzdem hatte ich Angst, sie zu verlieren, denn ich liebte sie sehr.
Eines Tages wollte ich in Plauen (Wohnort meiner Mutter) Wege erledigen. Es war mir sehr schwer ums Herz, und ich war so richtig verzweifelt. Meine seelische Kraft war fast am Ende. Da flehte ich zu Gott: „Hilf mir bitte, ich kann nicht mehr.“ Kurz darauf traten an der Zentralhaltestelle im Zentrum der Stadt eine junge Frau sowie ein junger Mann an mich heran. Es waren Missionare unserer Kirche. Die junge blonde Frau fragte mich, ob ich das Buch Mormon kenne. Ich verneinte und war etwas misstrauisch. Da sah ich auf dem Einband die Zeilen ein weiterer Zeuge für Jesus Christus und das war das Schlüsselwort für mich. Da wollte ich das Buch umgehend lesen. Denn, wenn mir einer helfen konnte, dann war es Jesus Christus. Ich teilte den Missionaren meine Anschrift in Leipzig mit. Als ich wieder in Leipzig war, suchten mich die Missionare auf. Es kamen Elder Möllemann und Elder Clement. Sie lehrten mich das wiedererstandene Evangelium Gottes und ihre große Frömmigkeit rührte mir ans Herz. Außerdem hatte ich das Gefühl, als ich das Buch Mormon las, dass alles wahr ist. Ich glaubte sofort alles. Der Heilige Geist war mein Begleiter. Im Dezember starb meine Mutter, und ich habe alles dank der Hilfe Gottes einigermaßen überstanden. Das Evangelium und die Missionare gaben mir Kraft und Trost zugleich. Am 7. Februar 1993 ließ ich mich taufen. Ich habe erkannt, dass Gott mich geführt hat und das Beste für mich getan hat. Ich bin nun schon 16 Jahre in der Kirche und mein Zeugnis ist immer stärker geworden. Ohne Gott ist der Mensch nur ein Strohhalm, der im Winde geknickt wird. Man ist nur auf der sicheren Seite, wenn man ihn in sein Leben einbezieht. Seit ich in der Kirche bin, habe ich viele Segnungen für mich und meine Familie erhalten. Uns wurden sechs Enkelkinder geschenkt, mein Mann hat seinen Herzinfarkt gut überstanden, die Enkel sind gesund und gehen einen guten Weg. Wir haben genug zu leben. Zwei Autounfälle gingen glimpflich aus, ich habe in der Kirche eine gute Freundin gefunden. Es geht mir trotz Diabetes gut usw. Das, was mir noch Kummer macht, ist die Tatsache, dass ich bis jetzt die Einzige in der Familie bin, die das Evangelium angenommen hat. Dadurch ist manches für mich nicht so einfach. Aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass der Himmlische Vater im Verborgenen arbeitet und meine Familie das Evangelium noch annimmt. Ich war auch schon im Tempel und habe dort das Endowment empfangen und bin an meine Eltern gesiegelt worden. In der Kirche war ich etliche Jahre Redakteurin der Gemeindezeitung, acht Jahre Lehrerin in der FHV und jetzt bin ich Chronistin der Gemeinde.