Stettin, Pommern

Mormon Deutsch Hans Ulrich DretkeMein Name ist Hans-Ulrich Dretke. Ich wurde in Stettin [Polish Szczecin] am 11. Dezember 1938 geboren. Stettin war eine deutsche Stadt zu der Zeit aber jetzt gehört sie zu Polen und liegt direkt an der Grenze zu Deutschland. Wir hatten dort eine Gemeinde. Ich wurde in der Kirche geboren; ich wurde aber nicht mehr in Stettin getauft, denn die Evakuierung, die der Krieg mit sich gebracht hat, sind wir nach Lübeck, Schleswig-Holstein verschlagen worden, wo ich aufgewachsen bin und zur Schule gegangen bin. Erst mit acht Jahren und 10 Monaten bin ich getauft worden. Es geschah in der Trave; das ist ein Fluss, der in die Ostsee fließt.

In Lübeck hatten wir jeden Sonntag Kirche. Wir hatten FHV, GFV – meine Mutter war täglich in der Kirche, und wir sind immer zu Fuß gegangen, viele Kilometer. Wahrscheinlich schien es viel weiter, wie ich Kind war; jetzt wo ich es ausgemessen habe, waren es bloß sechs Kilometer. Aber wir sind morgens hingegangen und nach der Sonntagsschule sind wir manchmal wieder nach Hause gegangen und manchmal sind wir mit Geschwister geblieben und dann abends wieder zur Kirche und dann abends nach Hause, manchmal wieder zu Fuß im Dunkeln weil die öffentlichen Verkehrsmittel zu der Zeit noch nicht verlässlich waren. Es fuhr eine Straßenbahn, aber oftmals fuhr sie auch nicht.

Zu dieser Zeit waren wir unter britischer Besatzung. Die Polen waren einquartiert in die vorhergehende Kaserne und sie haben sich nicht sehr gut benommen. Sie haben Kinder überfallen, Menschen in allen Altern beraubt, die jüngeren Frauen vergewaltigt. Und wir wurden immer angewiesen in Gruppen zu gehen und uns auch nicht einzulassen mit denen auf irgendwelche Weise. Sie haben uns Brot angeboten, was immer sehr verlockend war, da wir Hunger hatten. Aber wir haben es nicht genommen, um eben nicht mit denen ins Gespräch zu kommen oder nah genug zu sein, dass sie uns greifen konnten.

Eines sonntags kam unserer Gemeindevorsteher zerschlagen und blutig in die Gemeinde. Er sagte er war mit seinem Fahrrad auf dem Wege zur Kirche. Die Polen hatten ihn niedergeschlagen und das Fahrrad weggenommen. Und dann ist er den Rest des Weges zu Fuß gekommen und auch spät zur Kirche gekommen. Wir haben eigentlich immer in Zuständen der Ungewissheit gelebt. Es war an der Tagesordnung, dass Straßen gesperrt waren, und dass man nicht über die Brücke gehen konnte.

Wir haben unsere Kirchenversammlungen abgehalten. Auch am Dienstag hatten wir GFV; wir sind später dann von jungen Missionaren über die Pfadfinder gelehrt worden und haben auch dort einige Knoten gelernt; aber den richtigen Pfadfinder Programm haben wir leider nicht mitmachen können. Die Kirche an und für sich hat uns Halt gegeben. Meine Mutter hat mich immer angehalten zum Beten und hat mich belehrt. Und die Dinge, die an der Tagesordnung waren – zu stehlen und solche Sachen – sind von meiner Mutter sehr unterdrückt worden. Sonst hätte ich mich ganz bestimmt anderes benommen.

Ich kann mich einmal daran erinnern, da bin ich ganz stolz nach Hause gekommen mit einer Handvoll Kartoffeln. Ich habe meiner Mutter berichtet, dass die von einer Pflanze kamen, wo der Bauer nie merken würde, dass die weg waren, weil ich sie von unten ausgegraben habe. Die Pflanze stand noch. Da hat meine Mutter dann gesagt, ich sollte sie noch mal von unten eingraben. So bin ich schweren Herzens wieder zurückgegangen und habe die Kartoffeln wieder eingegraben. Es war schwer, wenn man nichts zu essen hat und dann das Prinzip der Ehrlichkeit pflegen sollte. So ich persönlich habe wirklich gute Anhaltungen gehabt von meiner Mutter und von der Kirche.

Es war überwältigend, wenn ich von Christus gehört habe, wie der am Kreuz gelitten hat, ich habe mich sehr sicher gefühlt. So die Jugendjahre nach dem Kriege sind mir wirklich zum Bewusstsein gekommen, wie schwer die waren, nachdem ich erwachsen wurde. Während der Jugendzeit, da ist es mir nicht so aufgefallen. Ich bin als Kind öfters über den schwarzen Markt gegangen, wo geschachert wurde, aber ich war einfach zu klein, ich konnte da nicht mitmischen.

Die Ruinen, die übrig waren, die haben wir nicht als Ruinen gesehen; die haben wir als Spielplätze gesehen. Wir haben viele Munition entschärft, das Pulver herausgemacht und dann haben wir Burgen gemacht, Pulver gestreut und dann in der Mitte einen großen Haufen Pulver rein Konservendosen rüber und dann alles zusammengestellt und dann haben wir es angesteckt und ist es explodiert. Und eines Tages mein Freund und ich, wir haben wieder Munition entschärft, um das Pulver zu kriegen und irgendwie sind die Patronen doch explodiert und in einen Schuhschrank geschossen und die Rückseite, die ist bei mir ans Knie geschossen. Ich habe die Narbe heute noch, den Eindruck. Wir haben gefährlich gespielt, aber wir haben die Gefahr nicht erkannt. Es hat allesherumgelegen, es war zugänglich für uns und wir haben nicht im Geringsten daran gedacht, dass es uns schaden könnte.

Es war in 1947, glaube ich, es sind von Amerika von der Wohlfahrt Sendungen geschickt worden an die Gemeinde. Der Gemeindepräsident hat dann Konserven oder auch Grütze verteilt und wann wir dann einen kleinen Beutel mit Graupen oder Grütze, eine oder zwei Dosen Pfirsiche. Das war ein großes Festessen. Es ist kaum zu glauben gewesen, dass es so was gegeben hat. Denn ich hatte vorher nie Schokolade gesehen oder geschmeckt oder irgend so etwas Süβes. Das kam erst nach dem Krieg. Ich kann mich gut erinnern, wir hatten alles in den Schaufenstern aufgebaute tafeln, im Geschäft Schokoladen Tafeln, aber es war alles nur aus Pappe. Meine Mutter hat dann erklärt, dass vor dem Krieg, alles richtige Schokolade war. Und das war fast unvorstellbar.

Und dann sind auch noch Kleidungstücke gekommen. Ich weiß, ich habe da einen Mantel bekommen, der wirklich sehr schön warm war. Wir hatten viel Kälte; wir haben am Wasser gewohnt, wo wir im Winter Schlittschuh gelaufen sind. Und der Mantel, der ist sehr gut von mir gebraucht worden. So ich habe wirklich gute Erfahrungen gemacht. So das ist auch heute eines der Hauptgründe, wenn wir aufgerufen werden von unserer Gemeinde, der deutsch sprechenden Gemeinde, im Wohlfahrtszentrum zu arbeiten, dass ich dorthin gehe. Denn ich sehe die Leute im Geiste, die die Sachen einmal bekommen, und wie sie sich freuen, das weiß ich genau, denn ich war dabei und habe mich gefreut. Und das war ein großer Segen.