Sprindacker, Schloßberg, Ostpreußen

Mormon Deutsch Hilde EmmerlichMein Name ist Hilde Emmerlich, geborene Schindelmeiser. Ich bin in Sprindacker [jetzt Krasilovo], in Kreis Schloßberg in Ostpreußen geboren. Ostpreußen ist bekannt wegen seiner vielen Wälder und Seen. Meine Eltern hatten einen Bauernhof mit rund 40 Morgenländern. Es gab auch noch einen Erbhof von meinen Großeltern. Ich durfte einige schöne Kinderjahre dort verleben. Wir haben viel draußen spielen können und konnten uns immer beschäftigen. Wir formten Vieles aus Lehm und spielten mit einfachen Dingen, die in der Natur vorhanden waren.

Unser Papa war ein ruhiger und fleißiger Mann. Er hatte den Hof von seinem Vater übernommen und Opa Schindelmeiser, lebte bis zu seinem Tod auf seinem Altenteil. Vater hieß Johannes Schindelmeiser. Mutter hieß Minna, geborene Kaeding. Papa hatte immer viel Arbeit. Bei einigen Dingen halfen sich die Nachbarn gegenseitig. Zum Beispiel beim Schlachten eines Tieres. Zu jener Zeit beschäftigten viele Bauern russische oder polnische Kriegsgefangene, als billige Arbeitskräfte. Unser Papa wollte das aber nicht. Im Winter, wenn es nicht mehr so viel zu tun gab, schnitzte Papa uns schöne Dinge aus Holz, Messerchen, manchmal auch Holzschuhe. Ich erinnere mich ebenfalls an schöne Spaziergänge mit Papa. Wir gingen sonntags immer eine Weile spazieren und Papa erzählte uns einiges. An unsere Gespräche kann ich mich leider nicht viel erinnern. Ich kann aber auch nicht erinnern, dass Papa laut oder böse war.

Unsere Mama war ziemlich couragiert. Sie kümmerte sich um alles und konnte auch alles. Jedenfalls empfand ich damals so. An Nahrungsmittel wurde fast alles selbst hergestellt. Auch Sauerkraut wurde gestampft. Obst und Gemüse wurden eingekocht, Marmeladen und Säfte wurden selbst hergestellt. In der Räucherkammer hingen die Dauerwürste, Brot und Kuchen wurden laufend gebacken. Den Geschmack habe ich bis heute nicht vergessen. Mama kümmerte sich auch um das Schriftliche und ging zu den Behörden. Sie konnte gut schneidern und handarbeiten. Sie war der Mittelpunkt der Familie, nahm alles in die Hand und hatte ein Gespür dafür, wo jemand Hilfe brauchte.

Ich erinnere mich, im Winter saßen wir gerne auf der Bank vor dem heißen Kachelofen. Im Ofenfach lagen die Beutel mit den Kirschsteinen, die wir als Wärmeflasche benutzten. Wir lebten so richtig hinter dem Mond. Heute erscheint uns das aber ganz romantisch. Bei Einbruch der Dunkelheit wurden die Petroleumlampen angezündet. Wasser hatten wir aus einer großen Pumpe, die auf dem Hof stand. Wir hatten sogar ein Radio, den so genannten Volksempfänger. Da durften wir die Kinderstunde hören. Ich konnte sehr spät laufen und wurde auf Rachitis behandelt.

Auf unserem Hof gab es eine Menge Tiere, Pferde, Kühe, Schweine, Gänse, Hühner, zeitweise Schafe. Meine Schwester und ich, wir bemutterten die Tiere sehr gerne und fütterten sie. Wenn gemolken wurde, dann warteten unsere vielen Katzen auf ihre Schüsselmilch.

Die Freiheit auf dem Lande in einem Landleben ist wirklich etwas sehr Schönes, was man nicht vergisst. Zum Beispiel, wenn man im Herbst barfuß über die Stoppelfelder läuft. Zur Zeit der Ernte brachten wir Kinder oft den Vesperkorb aufs Feld. In diesem Zusammenhang denke ich immer an den Räderkuchen, den meine Mutter gebacken hatte. Das Klima in Ostpreußen war damals noch viel intakter, als wir es heute kennen. Zum Beispiel schöne lange Sommer und sehr kalte Winter. Im Haus hatten wir Doppelfenster. Zur Weihnachtszeit wurden die Zwischenräume mit Tannengrün ausgelegt und festlich geschmückt. Aus Krepp-Papier bastelten wir schöne Blumen, und der Schmuck für den Weihnachtsbaum wurde auch von uns selbst gefertigt. Die Eisblumen an den Fenstern waren echt, denn es war sehr kalt.

In der schönen Jahreszeit wurde alles draußen gemacht. Wir wurden draußen gebadet. Es blühte Flieder, Jasmin, Schneeball, wir hatten einen wunderschönen Garten; alles blühte zu seiner bestimmten Jahreszeit, auch Pfingstrosen und Maiglöckchen sind für mich eine duftende Erinnerung. Wir hatten einen schönen Obstgarten mit vielen Apfel und Birnbäumen, Pflaumenbäumen, Kirschen und Himbeeren und andere Strauchbeeren. Es gab auch einen Gemüsegarten und Blumengarten.

Ich schlief in demselben Zimmer, wie unser Papa. Ich hatte ein schönes, weißes Sprossenbett. Frühmorgens schlich Papa mit der Laterne in den Stall, um das Vieh zu versorgen. Von meinem Bettchen aus blickte ich auf einen Balken im Zimmer, auf dem die Marmeladengläser standen. Auch die von mir so geliebte Kirschkleide [Marmelade]. Natürlich von Mama selbst hergestellt. Alles war damals viel vollwertiger und schmeckte dementsprechend.

Auf dem Bauernhof ist natürlich nicht alles nur angenehm. Wenn ein Tier geschlachtet wurde- Zudecke über den Kopf und nichts hören und sehen. Wir litten auch sehr, wenn kleine Kätzchen ertränkt wurden. Mäuse und Frösche waren nicht gerade unsere Freunde. Unser Kartoffelkeller war mehr ein Erdloch als ein Keller, wie wir ihn heute kennen. Wenn man Pech hatte, erwischte man, statt einer Kartoffel eine fette Kröte.

Die Störche auf dem Dach liebte ich. Sie kehrten jedes Jahr zurück und nisteten auf unserer Scheune. Das war eine Geklapper. Es war ein schöner Anblick, wenn sie durch diese feuchten Wiesen stolzierten.

Unsere Eltern waren gute, evangelische Christen. Bei Tisch wurde immer gebetet. Papa hielt auch eine Andacht und las ab und an aus der Bibel vor. Der Sonntag war Ruhetag, nur das Vieh wurde versorgt. Meistens fuhren wir zum Kirchdorf Malwen, um den Gottesdienst zu besuchen. Für uns Kinder gab es auch die Sonntagsschule. In Ostpreußen waren wohl fast alle evangelisch. Unsere Vorfahren kamen aus der Salzburger Gegend. Wegen religiöser Verfolgungen mussten sie ihre Heimat verlassen und sie siedelten sich in Ostpreußen an.

Eine schöne Erinnerung aus unserer Jugend waren die Besuche bei den Cousinen Liesbeth und Ella. Unsere Eltern und ihre Eltern hatten ein besonders gutes Verhältnis zueinander. Tante Emma war Vaters Schwester. Sie hat bis zu ihrer Heirat bei uns auf dem Hof gelebt und war auch mit Mutter sehr befreundet. Die Kleinkinder spielten gern mit unseren Cousinen. Und es gab einen Pferdewagen, den wir sonntags benutzten. Und wir spannten an und fuhren Besuch nach Lauterbrucken zu unseren Cousinen und ihren Eltern.

Ich selbst bin noch ein Jahr auf unserer Dorfschule gewesen. Danach musste ich flüchten. Unser Lehrer hatte es nicht leicht. Er musste alle Altersstufen gleichzeitig unterrichten. Gute Schüler durften manchmal abfragen. Wir Schindelmeisers waren alle gut in der Schule und wir waren auch alle brav. Zu jener Zeit stand der Stock noch in der Ecke. Ein Schlag auf die Hand war harmlos. Es wurde auch Feste geschlagen und an den Ohren gezogen.

Gegrüßt wurde damals mit Heil Hitler. Der Schultag begann mit einem Fahnenappell. Eine gesunde Idee war, jeder musste Rohkost vorweisen. Wer nichts hatte, bekam aus dem Schulgarten. Im Winter mussten wir oft mit dem Pferdeschlitten zur Schule gebracht werden, wegen des hohen Schnees und der klirrenden Kälte. Darin wechselten sich die Nachbarn ab.

Jetzt kommt unsere Flucht. Wir lebten ca. 30 Kilometer von der litauischen Grenze entfernt. Im Oktober 1944 mussten wir vor dem Einmarsch der russischen Truppen fliehen; der Winter stand vor der Tür. Auf unserem Hof waren zu der Zeit deutsche Soldaten einquartiert und sie übernahmen erstmal alles. Unsere wichtigsten Sachen wurden auf unseren Leiterwagen gepackt und mit zwei Pferden davor verließen wir die Heimat. Was unsere Eltern damals empfanden, kann ich heute, nach Jahrzehnten ein wenig nachvollziehen. Unser ganzes Dorf zog geschlossen fort. Alles war gut organisiert. Leider machten unsere Pferde unterwegs schlapp und wir blieben zurück. Papa wurde unterwegs noch zum Volkssturm eingezogen. Er wollte sich so schnell wie möglich melden. Aber wir haben nie mehr etwas von ihm gehört. Es kann sein, dass er ziemlich schnell gefallen ist. So ergaben es auch die Ermittlungen des Roten Kreuzes nach Kriegsende.

Wir kamen stückweise voran, bis nach Stolp in Pommern und bekamen eine schöne Wohnung zugewiesen. Die Vermieter waren nämlich schon geflüchtet. Wahrscheinlich glaubte unsere Mama immer noch an die große Wende und an die Deutschen Wunderwaffen. Die Russen waren über Nacht in Stolp, und obwohl sich die Stadt ergeben hatte, wurde sie in Brand gesteckt. Und das war am 8. März 1945. Mit ein paar Habseligkeiten flohen wir aus der brennenden Stadt. Wir suchten erst mal Schutz am Güterbahnhof. Aber auch dort wurde immer zu geschossen.

Aus mangelnder politischer Übersicht entschied unsere Mutter, dass wir versuchen sollten, wieder nach Hause zu kommen. Papa würde sicher auch dorthin kommen, wenn alles vorüber war. So hatte es jedenfalls im Ersten Weltkrieg funktioniert. Aber noch war der Krieg ja nicht zu Ende und viele hofften immer noch auf den Umschwung. Wenn Mama politisch besser informiert gewesen wäre, hätten wir doch alles Stehen und liegen lassen müssen, um westwärts zu ziehen, als man immer noch mit leichtem Handgepäck mit dem Zug entkommen konnte.

Von den Russen hatten wir doch eine schlimme Vorstellung. Eine schwere Zeit, voller Trübsal und Ängste, begann nun. Nach monatelangen Wanderungen, abseits der Straßen und großen Entbehrungen, standen wir im Sommer 1945 wieder vor unserem abgebrannten Zuhause. Als Mutters das sah, konnte sie sich gar nicht mehr beruhigen und alles Leid brach aus ihr heraus.

Mit meinem kindlichen Sinn nahm ich nur wahr, dass Teile meines schönen weißen Sprossebettes, als Steg benutzt worden war. Im Garten entdeckte ich ein paar reife Himbeeren und aß davon. Wir suchten zunächst Zuflucht im alten Haus der Großeltern, das nicht vernichtet war. Aber wir waren dort nicht sicher.

Unterwegs hatten wir alle die Ruhr gehabt. Eine polnische Familie hat uns versteckt gehalten und gepflegt. Nun erkrankte Mama, Heinz und Christl an Typhus. Ich mit meinen acht Jahren wusste mir kaum zu helfen. Aus verwilderten Gärten pflückte ich Beeren für die im Fieberwahn Liegenden. Nachts kamen Russen plünderten und rissen den Kranken die Decken weg. Heinz und ich hatten später Malaria. Heinz besonders schlimm. Eigentlich ist es ein riesiges Wunder, dass wir das alles überlebt haben.

Die deutschen Wiederkehrer wurden in Kolchosen zusammengefasst. So nannten diese Gruppen die russischen Befehlshaber. Wir mussten für die Russen arbeiten und bekamen nur ganz wenig zu essen. Wir waren nur noch Haut und Knochen und waren von Läusen und Flöhen übersät.

Und die Tante Berta, die mit auf der Flucht war, starb als Erste. Wir hatten in der Heimat auch die ganze Familie Brandt getroffen. Das ist unser Onkel, der die Schwester von unserem Papa geheiratet hatte. Außer Cousine Ella sind dort alle umgekommen. Onkel Hugo wurde bei der Arbeit verschüttet. Cousine Liesbeth, dreizehn Jahre alt damals, wurde von den jungen Russen verschleppt und auf grausame Weise ermordet. Wir fanden sie erst nach Monaten. Tante Emma starb an Gram und Unterernährung.

Unsere Mama starb am 6. Juli 1957 an den Folgen des Hungers und der vielen Strapazen. Ich war damals gerade zehn Jahre alt geworden. Ich war noch mit Mama unterwegs, um Beeren zu suchen. Es kam ein starker Sturm auf und Mama wurde immer schwächer. Wir schleppten uns noch bis zu einer deutschen Familie, dann verlor sie das Bewusstsein. Vorher hatte sie mir noch gesagt, dass sie es nicht mehr schafft und dass ich Heinz, unsere ältere Bruder, und Christl grüßen soll. Die Familie brachte Mama zu unserer Unterkunft. Sie erlangte das Bewusstsein nicht. Am nächsten Morgen starb sie unter langem Stöhnen. Heinz und unser älterer Bruder wollten ihr heißen Tee einflössen, aber sie hat sich nur gewehrt dagegen. Wie viel musste unsere Mutter doch ertragen und nun waren wir alle Waisenkinder. Bekannte halfen uns dann Mama in einen provisorischen Sarg zu beerdigen. Besonders berührt uns die Tatsache, dass das Stückchen Brot, das wir hingelegt hatten, das wir von unseren Nachbarn erbettelt hatten, nicht mehr da war. Es war wie ein Zeichen für uns.

Die russischen Soldaten benahmen sich in der ersten Zeit nach Kriegsende oft wie Tiere, und deutsche Frauen waren erlaubtes Freiwild für sie bis eine russische Kommandantur eingesetzt wurde, die für mehr Ordnung sorgte. Unsere Mama wurde mehrmals in unserem Beisein von den Soldaten vergewaltigt. Junge Frauen wurden verschleppt. Einige nahmen sich das Leben. Manchmal ließen sie sich freiwillig mit den Russen ein.

In den schlimmen Jahren waren wir oft dem Tode nah. Einmal stellte uns ein Russe alle der Reihe nach auf und wollte uns gerade erschießen, als er von einem Vorgesetzten zurückgerufen wurde. Unser Hunger war so groß, dass wir es mit den Blättern von den Bäumen versuchten. Weggeworfene Kartoffelschalen von den Russen waren eine Delikatesse für uns. Wir kochten de Schalen und knabberten die Reste ab. Frühmorgens schlichen wir Kinder auf die Felder und versuchten Kartoffel und Kohl zu stehlen. Wenn wir erwischt wurden, gab es Schläge. Mama wurde auch mehrmals zusammengeschlagen, als sie ein bisschen Weizen unter den Kleidern versteckte. Nach dem Tod unserer Mutter, hielten wir Kinder uns mehrmals versteckt, denn es hieß, an wolle uns in ein Kinderheim nach Russland schicken.

Cousine Ella, die ja nun auch alleine war, war bei uns geblieben. Bruder Heinz war damals 17 Jahre alt und trug nun die Verantwortung für uns, für Christl, Cousine Ella und ich gingen in der darauf folgenden Zeit mehrmals nach Litauen, um zu betteln. Wir durften oft kleine Arbeiten verrichten und bekamen etwas zu essen dafür, manchmal sogar alte Kleidungsstücke. Viele waren gut zu uns. Aus dieser Zeit stammt eine breite Narbe an meiner rechten Wade. Die Wunde eiterte monatelang, weil sie nie behandelt wurde. Nun brauchte ich nicht mehr ganz so schrecklich hungern, Aber ich erinnere mich an Zeiten der Erschöpfung, wo ich glaubte, nicht mehr leben zu können. Einmal legte ich mich hin und wartete auf einen gnädigen Tod. Ich glättete meine Kleider, die ja Lumpen waren, damit auch alles ordentlich sein würde, wenn sie mich finden. Aber ich lebte weiter.

Als es mit unseren Kopfläusen so schlimm geworden war, dass es gefährlich wurde, schnitt unser Bruder Heinz uns die Haare mit einer alten Schere ganz ab. Unter den vielen Wunden nisteten die Läuse. Als Mama noch lebte, hatte sich einmal ein Floh in meinem Ohr verirrt. Das war ein ganz furchtbares Gefühl und ich schrie laut. Mama schaffte es mit viel Geduld an einem Haar den Floh herauszubekommen sie steckte immer wieder ein längeres Haar ins Ohr, bis der Floh sich daran festhielt und herausgezogen werden konnte. Ständig machten wir Jagd auf Flöhe und auf Läuse. Die Flöhe streiften wir oft ganz schnell von unseren nackten Beinen in eine Schüssel Wasser.

1948 mussten alle deutschen Ostpreußen verlassen, weil sich russische Familien jetzt dort ansiedelten. Wir wurden in einen Güterzug gezwängt, der jeden Tag eine gewisse Strecke vorankam. Wir kamen bis nach Erfurt in Thüringen. Dort kamen wir zunächst in eine Quarantäne und wurden gründlich entlaust, eine Zeit lang waren wir dort auch in einem Kinderheim. Cousine Ella kam zu Verwandten nach Lübz in Mecklenburg. Christl und ich kamen nach Mecklenburg in ein Kinderheim, denn Frieda wohnte dort in der Nähe und hatte uns wieder gefunden. Heinz war schon zu alt für ein Kinderheim er blieb eine Weile in Wittenburg und nahm dort eine Stelle an, ging dann aber schon 1949 in den Westen, mit einem Führer, wie es damals üblich war, nachts über die schwarze Grenze. Man hatte ihm Arbeit in einem Bergwerk zuweisen wollen. Aber das hätte er gesundheitlich nie geschafft. Heinz ging nach Herne, weil er dort Familie Schmäling unsere Nachbarn aus Ostpreußen und Familie Mertins kannte.

Die Russenzeit hat bei uns ihre Spuren hinterlassen, auch gesundheitlich. In den wichtigsten Wachstumsjahren mussten wir zu viel darben. Aber auch die vielen Ängste und das ganze Elend kann man nur schwer verdrängen. Einmal sprach ich mit meinem Bruder Heinz darüber, ob man nicht die Ereignisse dieser schlimmen Jahre nicht niederschreiben sollte, ich selbst kann mich ja nicht an alle Einzelheiten erinnern, aber mein Bruder Heinz hat ein besonders gutes Gedächtnis. Ich wollte nach seinen Angaben die ganze Geschichte niederschreiben, zu sehen auch als Ermahnung an die Nachwelt. Wir fingen auch an; aber wir mussten dieses Vorhaben schnell wieder aufgeben, da Heinz dieses Nacherleben seelisch nicht verkraftete. Wir lassen es also ruhen.

Ich denke aber, dass Heinz auch noch einige Notizen hat. Das war so grob die Flucht. Dann kam das Kinderheim und die Schule usw. und wir sind dann in den Westen geflüchtet und ich war damals 16 Jahre alt. Wir hatten ja während des Krieges vier Jahre Schule versäumt. Ich konnte aber, weil ich fleißig war, zwei Jahre aufholen. Immer zwei Schuljahre in einem machen und so zwei Jahre aufholen. Ich war dann aber trotzdem 16 Jahre alt, als ich die Grundschule verließ.

Wir sind dann alle in den Westen gegangen nach dem Schulabschluss. Meine älteste Schwester hatte schon eine Arbeit. Aber wir wollten dort nicht bleiben, weil wir auch so Vieles eingetrichtert bekamen was wir politisch nicht gut heißen konnten. Damals gab es die Möglichkeit besuchsweise in den Westen zu fahren mit einem kleinen Handgepäck. So vier Wochen konnte man eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, wenn man dort einen Verwandten hatte. Und wir blieben dann natürlich einfach hier. Und mein Bruder war ja in Herne.

So sind wir alle in Herne geblieben und lernten durch meinen Bruder und durch unsere Nachbarn, die auch schon Mitglieder der Kirche waren, dann die Kirche kennen. Ich war 16 damals, als ich die Kirche kennenlernte. Da die Missionsarbeit damals ganz anders war, die Missionare waren wohl da, aber wir bekamen keine Lektionen. Und nachher haben wir, nach einem Jahr, meine Schwester und ich, selbst darum gebeten, dass wir getauft werden konnten. Da war ich dann 17 Jahre alt. Seit der Zeit bin ich immer in der Gemeinde Herne gewesen und die Kirche ist meine geistige Heimat. Das ist viel wichtiger, als die Heimat in Ostpreußen, die vermisst man nicht mehr so sehr. Man hat eine neue Heimat und sieht es auch von anderen Gesichtspunkten, dass das Leben auch so richtig ist.