Breslau, Schlesien

Mormon Deutsch Ingeborg GildnerIch, Ingeborg Gildner, geborene Neugebauer, wurde am 17. Juli 1926 in Breslau, Schlesien geboren. Meine Eltern hießen Fritz Hermann Neugebauer und Hedwig Maria Martha Neugebauer, geborene Wanke. Ich bin das vierte Kind meiner Eltern. Mein Vater ist Spediteur gewesen und in Konradwaldau im Kreis Brieg, Schlesien geboren. Meine Mutter ist in Breslau geboren. Am 16. September 1944 heiratete ich Arthur Gustav Paul Gildner, geboren in Langenbielau, der zu dieser Zeit noch kein Mitglied war. Seine Eltern hießen Arthur Gustav Paul Gildner (genau gleicher Name) und Pauline, geborene Pabel. Sein Beruf war Fabrikexpedient und sie war Fabrikweberin in Langenbielau, im Eulengebirge, in Schlesien. Meine Eltern und Großeltern haben 1923 durch Missionare die Kirche kennengelernt und haben sich taufen lassen. Daher bin ich in der Kirche und im Glauben an Jesus Christus erzogen worden und hatte Gelegenheit viel durch meine Eltern zu lernen und war frühzeitig tätig in der Kirche. Wir hatten vier Gemeinden in Breslau mit ca. je 100 Anwesenden, (Zentrum, Ost, Süd und West). Ich war in der Gemeinde Breslau Süd, wo mein Vater bereits damals Gemeindepräsident war.

Die russischen Truppen hatten Breslau angegriffen und beschossen die Stadt schwer. In der Nacht vom 22. zum 23. Januar 1945 hatte ich eine Stimme gehört, die mir sagte: „Geh hier raus, du hältst es nicht aus!“, und dies dreimal. Am nächsten Morgen ging ich zu meinen Eltern und meiner Großmutter, die im vierten Stock des gleichen Hauses wohnten und ich erzählte ihnen alles und sagte ihnen, dass ich noch heute gehe werde. Wenn sie mitgehen wollten, sollten sie sich schnell entschließen. Ich würde versuchen bei meinen Schwiegereltern in Langenbielau, im Eulengebirge, unterzukommen. Mein Vater war Volkssturmmann und mein Mann war noch immer beim Militär, wo er als Versehrter andere kriegsverletzte Soldaten zur Meisterprüfung im Maschinenbau ausbildete. Beide mussten in der „Festung Breslau“ bleiben (Festung heißt abgeschlossenes Widerstandsgebiet, das keiner verlassen und auch keiner mehr betreten durfte).

Paul wurde 1942 in Stalingrad verwundet. Er verlor seinen rechten Arm und hatte einige Splitter im Rücken, was starke Schmerzen verursachte. Kurz nach seiner Verwundung lernten wir uns in der Arbeit in Breslau kennen. Paul machte seine Maschinenbau-Meisterprüfung und ich meine Gesellenprüfung als Technische Zeichnerin. Im September 1944 heirateten wir dann in Breslau. Durch ein Mitglied, Bruder Pollesche, hatten wir (meine Großmutter, meine Mutter und ich) die Gelegenheit mit einem „Mutter-Kind-Zug“, nach dreimaligen Anlauf, Breslau zu verlassen, das schon zur Festung erklärt war. Ich war zu dieser Zeit bereits schwanger. Da mein Vater und Paul in Breslau bleiben mussten, um die Stadt zu verteidigen, war der Abschied nach Langenbielau schwer. Als wir in Langenbielau angekommen waren, waren meine Schwiegereltern über unser plötzliches Erscheinen nicht sehr erfreut. Nach kurzer Zeit wollte ich wieder zurück nach Breslau, konnte aber nicht, da ich Blutungen hatte und liegen musste. Ohne uns Bescheid geben zu können, wurde Paul mit seiner Abteilung von Breslau nach Dresden versetzt. Pauls Vorgesetzter gab ihm aus Gefälligkeit einen Dienstauftrag, der es ihm ermöglichte, mich von seinen Eltern abzuholen. Ich war sehr überrascht und erfreut.

Wir wussten nicht, wie weit die russischen Truppen schon ins Land vorgedrungen waren. Wir machten uns noch nachts auf die Reise nach Dresden, wussten aber nicht wie alles gehen würde. In Langenbielau stiegen wir einfach in einen Güterzug. Da es finster war, konnten wir nicht sehen, dass wir in ein Bremserhäuschen, das zu einer Toilette umgebaut worden war, eingestiegen sind. Wir mussten einige Male in verschiedene Flüchtlingszüge umsteigen, da die guten Züge und die noch wehrfähigen Männer an der Kriegsfront gebraucht wurden. Die Flüchtlingszüge hielten immer wieder unterwegs an, um Tote auszuladen oder zu operieren. Plötzlich, kurz vor Dresden, wurde unser Zug von einem Tiefflieger bombardiert und wir stiegen auf freier Strecke in einen weiteren Zug nach Dresden um. Endlich dort angelangt gingen wir in irgendein Zimmer in der Kaserne, in der Paul sich melden musste, um etwas zu schlafen. Es waren viele Soldaten dort, die auch geschlafen haben. Aber das hat uns alles nichts ausgemacht. Kaum angekommen gingen die Sirenen schon wieder los und wir mussten in den Luftschutz-Keller. Trotz allem versuchten wir dort etwas zu schlafen, aber es gab keine Ruhe, die Luftangriffe gingen weiter.

Als dann die Entwarnung kam, da sind wir mit unserem bisschen Gepäck aus der Kaserne weggegangen. Es war unsere Absicht uns mit Bruder Sowada zu treffen, der leider bei einem dieser Luftangriffe umkam, als er gerade in der Straßenbahn war. Alles irrte in der brennenden Stadt umher, Menschen und Tiere. Die Tiere waren aus einem Zirkus ausgebrochen; keiner tat dem anderen etwas zuleide, jeder flüchtete. So versuchten wir Dresden zu verlassen, da Paul sich jetzt in Salzburg melden sollte. Ein Motorradfahrer mit Beiwagen nahm uns bis zu einem Bahnhof außerhalb von Dresden mit. Das Motorrad hatte hinten keinen Sitz mehr sondern nur noch die übrig gebliebene Spirale, auf der mein Mann sitzen musste. Wir mussten mit dem Zug durch die Tschechei fahren, da es keine andere Verbindung gab, und uns so vermummen, dass niemand uns als Deutsche erkannte. Auch durften wir nicht sprechen, sonst hätten sie uns ermordet, weil wir Deutsche waren.

Nach all den Strapazen waren wir endlich wieder auf deutsch-österreichischen Boden angekommen und konnten zum ersten Mal seit Tagen uns wieder etwas zu essen kaufen. Das schmeckte wunderbar. Nie wieder habe ich so eine gute Wurst gegessen. Wir sind in den Zug nach Salzburg umgestiegen. Es war Ende Januar oder Anfang Februar. Wir waren sehr müde und übernachteten in Salzburg in der Kaserne. Am nächsten Tag bekam ich die Zuweisung in eine Siedlung, wo ich ein kleines Kinderzimmer als Unterkunft erhielt und wo mein Mann nicht bei mir sein konnte. Die Menschen waren nicht nett zu mir, da der Hass gegen die Deutschen verständlicher Weise in ihnen war und sie tagtäglich nicht wussten, ob ihre Männer aus dem Krieg gesund heimkommen würden. Als dann die Tage des Krieges zu Ende gingen, zog ich zu einer anderen Familie, die uns Unterkunft gab. Es war die Familie der Putzfrau der Kaserne. Sie wollten uns als Tarnung benutzen, was wir damals aber nicht wussten und nicht erkannten, denn erst nach einigen Tagen stürzte ein US-Soldat in das Haus und suchte einen Nazi-Mann. Ich kam gerade ahnungslos aus dem Keller und er wollte mich erschießen, weil ich ihm keine Auskunft geben konnte.

Da kam mein Mann und packte mit seiner einen Hand den US-Soldaten bei der Gurgel und erklärte ihm, in welchem Zustand ich bin. Irgendwie machte das Eindruck auf den betrunkenen US-Soldaten, denn er sperrte uns nur in ein Zimmer ein und verschloss es. Er suchte das Haus weiter nach dem Nazi-Mann ab. Plötzlich fand er den Mann im Parterre des Hauses, der das SS-Wahrzeichen eintätowiert in seiner Armhöhle hatte. Die Angehörigen des Mannes baten um dessen Leben, und nach langem hin und her opferte sich die Tochter des Mannes den sexuellen Wünschen des Soldaten gefügig zu sein. Als er wieder ging fand er den Schlüssel zu unserer Tür nicht mehr und trat sie einfach ein. Später, auf der Straße, ging uns der US-Soldat immer aus dem Weg, wenn er uns sah. Wahrscheinlich war ihm bewusst geworden, was er uns angetan hatte.

Als wir die Kirche endlich fanden, waren dort nur sieben Mitglieder anwesend. Es war ein Haus mit einem Anbau. Die Kirche hatte den Anbau mit zwei Räumen gemietet. Im Keller stand ein kleiner runder eiserner Ofen und in diesem Raum wohnte vorübergehend der Gemeindevorsteher, weil seine Wohnung kriegsbeschädigt war. Mit Familie Guzik freundeten wir uns etwas an. Sie hatten Verständnis für unsere Flüchtlingssituation. Gemeinsam versuchten wir die Mitglieder zu vereinen. Am 7. Juli 1945 kam dann unser erster Sohn zu Welt. Wir versäumten keine Versammlung, obwohl Paul kein Mitglied war. Er studierte viel im Buch Mormon. Er hatte als Kind viel mit seiner Großmutter in der Bibel gelesen. Mein Mann versuchte mit einer Hand dem alten Gemeindevorsteher zu helfen seine Wohnung wieder bewohnbar zu machen, damit wir dann in den unteren Gemeinderaum einziehen konnten. Salzburg gehörte damals noch zum Distrikt München. Der Distriktsvorsteher kam verbotener Weise heimlich über die Grenze aus Deutschland. Bruder Johann Thaller unterhielt sich eine Nacht lang mit meinem Mann und er beantwortete ihm noch die offenen Evangeliumsfragen. Er veranlasste auch seine Taufe. Am 29. Juli 1945 holten die früheren Missionare, jetzt US-Soldaten, meinen Mann zur Taufe ab. Es wurden eine Schwester und fünf weitere Brüder getauft in Haag im Hausruck, Oberösterreich. An jeder Stadtgrenze wurden die Soldaten gefragt was sie im Auto hätten und sie antworteten: „Nazi-Schweine“, denn sonst hätten sie die Grenzen nicht überschreiten dürfen. Die US-Soldaten waren vor dem Krieg Missionare in Salzburg gewesen. Leider konnte ich zur Taufe nicht mit, da unser Sohn ja gerade geboren war. Mein Mann war seit damals immer tätig in der Kirche, er ging in den Fußstapfen meines Vaters und folgte dessen Vorbild.

Eines Tages mussten sich alle Männer, die keine Österreicher waren, in einem Lager melden. Man munkelte, sie werden in ihre Heimat gebracht oder, wenn sie so wie wir aus Ostdeutschland stammten, nach Russland geschickt. Mein Mann ging sich auch melden. Wir wussten nicht, ob wir uns noch jemals wieder sehen würden. Unverhofft musste ein US-Soldat aus Hallein (Ort in Österreich) dieses Lager überprüfen. Es war Bruder Bybee (siehe Artikel aus Deseret News ). Dieser Bruder sah meinen Mann plötzlich im Lager und erkannte ihn wieder als ein Mitglied der Salzburger Gemeinde. Er tat alles um meinem Mann die Freiheit zu geben, da er sehr viel Nächstenliebe für uns hatte. Er verbrannte die Militärpapiere meines Mannes und bat seinen Vorgesetzten, nach Dienstschluss noch die Freilassungspapiere auszustellen. Das alles hätte ihn sein Leben kosten können. Bruder Bybee hatte zu dieser Zeit schon eine Frau und zwei Kinder. Dies wussten wir zu dieser Zeit noch nicht. Er veranlasste die Freilassung meines Mannes und so konnte mein Mann wieder nach Hause kommen. Bruder Bybee war Soldat bis zum Kriegsende.

Im Oktober 1945 mussten wir als Deutsche Österreich verlassen, sonst hätten wir nichts mehr zu essen bekommen. Die amerikanischen Soldaten bauten das Verdeck für ihren Jeep auf, damit mein Baby besser geschützt war und fuhren uns dann nach Deutschland zu Geschwister Thaller, die keine Ahnung hatten, dass wir kamen. Leider verloren wir den Kontakt mit den Brüdern aus den USA, die uns während ihrer Soldatenzeit in Salzburg so großartig behilflich waren und uns mehr als einmal das Leben retteten. Bei Geschwister Thaller, ein Ehepaar mit fünf Kindern, erhielten wir ein Durchgangszimmer und ich diente dort als Hausmädchen. 1948 bekamen wir einen weiteren Sohn. Geschwister Thaller hatten schon immer den Gedanken auszuwandern und drängten uns eine Wohnung zu suchen, was wir aber schon lange taten. Nach Kriegsende war es sehr schwer im zerbombten München eine Wohnung für eine ganze Familie zu finden. Andere Mitglieder halfen uns dabei und auf Umwegen erhielten wir eine Wohnung, die uns viele neue Schwierigkeiten und Sorgen brachte. Der Herr segnete uns jedoch immer, aber wir mussten auch viel kämpfen. Als wir an einem Sonntag zur Kirche gingen (eine Stunde zu Fuß mit zwei kleinen Kindern auf dem Arm oder in der Einkaufstasche) und bei einer Firma vorbei gingen, sagte mein Mann prophetisch: „Dort fange ich morgen zu arbeiten an“. Und so war es dann auch.

Meine Mutter und Großmutter, die ich in Langenbielau zurücklassen musste, wurden später in ein Flüchtlingslager in Hohenelbe im Sudetengau eingewiesen. Dort ist meine Großmutter verstorben. Meine Mutter ist mit einem Kinderwagen, der sehr große Räder hatte, den ganzen Riesengebirgskamm heimgelaufen bis nach Breslau. Vater war sehr enttäuscht, dass Mutter ohne mich kam. Mit der Großmutter hatte er ja gerechnet, da es ihr in ihrem Alter nicht mehr möglich war zurückzulaufen, aber dass sein jüngstes Kind nicht wieder kam, war schlimm für ihn, da bereits sein jüngster Sohn im Krieg gefallen war. Dazumal hatte er auch die Order von den Polen bekommen, das Bürgermeisteramt in Breslau zu übernehmen. Das wollte er aber nicht, da er das kommunistische Regime nicht unterstützen wollte.

Mein Vater und meine Tante Elisabeth, geborene Wanke, die später nach USA ging, sowie Bruder Heinz Koschnicke, der damals noch ein Jugendlicher war, hielten über die ganze schwierige Zeit in Breslau zusammen und hielten auch Hausversammlungen ab. Der Glaube an Gott gab ihnen die Kraft die tragische Zeit durchzustehen. Später mussten meine Eltern nach „Holthusen“ (Ostfriesland) umsiedeln, weil er sonst Bürgermeister im polnisch besetzten Breslau hätte werden müssen. Holthusen war eine frühere Zuchthäusler-Siedlung und die wenigen Bewohner dort kannten kein Auto und waren auch sonst sehr rückständig. Es war eine sehr schwere Zeit für meine Eltern, da sie so ein zurückgezogenes Leben nicht kannten. Mein Vater betreute dort die weit abgelegenen Mitglieder im Auftrag der Kirche. Tante Elisabeth war mit ihren beiden Kindern ebenfalls in Holthusen gestrandet. Sie zogen dann nach Wilhelmshaven, wo es eine Gemeinde gab. Später zogen mein Vater und meine Mutter ebenfalls nach Wilhelmshaven, wo er auch in der Kirche diente. Als meine Mutter schwer krank und bettlägerig wurde (mein Vater war bereits schwer herzkrank), mussten meine Eltern nach München übersiedeln, wo ich sie bis zu ihrem Tod pflegen konnte.