Untergermaringen, Allgäu, Bayern
Ich heiße Maria Rosina Hess, geborene Stich, und bin am 6. März 1932 in Untergermaringen geboren. Mein Vater heißt Gottlieb Stich und meine Mutter Theresia Stich, geborene Klöck.
Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen und hatte wunderbare Eltern, die uns Kinder sehr geliebt haben. Wir waren sechs Mädchen. Die ersten zwei Kinder, zwei Jungen, sind gestorben. Meine Eltern hätten einen Erben gebraucht. Wir Mädchen hatten kein Interesse an dem Geschäft, das meine Eltern hatten. Mein Vater war Bäcker-Meister und hat für zwei Dörfer Brot gebacken, für das eigene und ein vier Kilometer entferntes. Meine Mutter hatte ein Lebensmittelgeschäft im gleichen Haus. Dort haben die Leute vom Dorf alles einkaufen können. Als wir älter waren, haben wir mitgeholfen, bei der Mutter im Geschäft und in der Bäckerei. Aber wir haben dann auch Berufe gelernt und sind eigentlich alle sehr fleißig gewesen und sind das heute noch. Mein Vater ist mit zweiundsechzig Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben. Er war während des Krieges Bürgermeister in dem Ort.
Ich bin die Zweitgeborene von den Mädchen. Als Kind war ich sehr viel krank und habe immer gedacht, als ich älter war, dass ich die erste sein werde, die geht. Aber das war meine vorletzte Schwester, die an Gehirnblutung gestorben ist. Sie hatte Friseuse gelernt, in München ihre
Meisterprüfung gemacht und hatte dann ein eigenes Geschäft. Sie war überaus fleißig und hat sich kaum Urlaub gegönnt. Wir haben sie vor der Weihnachtszeit beerdigt.
Als der Krieg ausbrach, war ich noch ein kleines Mädchen. Der Vater hat uns Mädchen in der Frühe in die Backstube geholt und gesagt, dass wir Krieg haben. Ich habe gefragt, was da gemacht würde. Er sagte, dass da Männer wären, die sich gegenseitig erschießen und dazu sage man, dass sie gefallen seien. Ich habe mir vorgestellt, dass sie im Wald über eine Wurzel gefallen sind. Ich konnte nicht verstehen, dass das „Gefallen“ tot heißt. Im Dorf, hier in Bayern, hatten wir den Krieg nicht so sehr gespürt. Aber wir haben gehört, als die Amerikaner München bombardiert haben. Das waren gut achtzig Kilometer Entfernung. Wir konnten nicht schlafen, erst als es zu Ende war.
Ich hatte in dieser Zeit, als ich zehn Jahre alt war, eine Augenverletzung. Der Arzt hier in Kempten wollte nicht operieren und meinte, dass Auge sei verloren und er könne nichts mehr machen. Mein Vater wusste, dass die Augenklinik in München gute Erfolge hatte. Am andern Tag ist er mit mir mit dem Zug nach München in die Augenklinik in der Mathildenstraße gefahren. Sie haben mich untersucht und haben gesagt, dass das Auge zu achtundneunzig Prozent verloren sei. Sie haben aber gleich angefangen, mich zu operieren. Ich kam gar nicht erst auf eine Station, sondern sie haben mich und meinen Vater gleich in der Aufnahme befragt und gesagt, dass ich sofort operiert werden müsse, weil das Auge schon am Auslaufen war. Der Arzt, es war ein junger Arzt, hat mir dann gesagt: „Maria, du bekommst jetzt eine Narkose und musst zählen.“ Früher hat man bei der Narkose gezählt. Ich habe aber nicht gezählt, ich habe angefangen im Stillen zu beten. Ich habe das Gebet, das meine Eltern mir gelernt haben, gebetet. Das Gebet hieß: „Bevor ich mich zur Ruh‘ begeb‘, zu dir o Gott mein Herz ich heb‘. Und sage Dank für jede Gab‘, die ich von Dir empfangen hab‘.“ Aber dann war ich schon weg und konnte nicht mehr weiter. Ich habe mit dem Gedanken angefangen zu beten, wenn ich bei der Operation sterben sollte, will ich nicht vor dem lieben Gott mit einer Zahl stehen, sondern mit einem Gebet. Das habe ich mir als Kind mit zehn Jahren so gedacht.
Als ich nachmittags aufgewacht bin, stand mein Vater am Bettchen auf der Station, wo sie mich hingelegt hatten. Ich wollte weinen. Mein Vater hat mir gesagt: „Du darfst jetzt nicht weinen, das Auge ist frisch operiert und das kann dem Auge schaden.“ Auf dieser Station waren auch katholische Nonnen. Ich bin dort drei Wochen geblieben. Das Auge war dick geschwollen und rot mit Blut unterlaufen, ist aber gut verheilt. Nach drei Wochen kam mein Vater. Das Blutunterlaufene am Auge war schon weg und mein Vater hat den Arzt gefragt, ob ich schon heim darf. Er meinte, dass ich noch bleiben sollte. Mein Vater hat ihm gesagt, dass er mich auf eigene Verantwortung mit nach Hause nehme. Er war mit dem Auto da und hat mich mitgenommen.
Eine Woche später hat die Klinik, in der ich war, einen Volltreffer abbekommen. Da war der große Angriff in München. Als Kind kam es mir schon vor, als wenn zwei Wunder geschehen wären. Dass das eigene Auge geblieben ist und dass ich diesen Angriff nicht erleben musste. Besonders am Wochenende war Voralarm und wir Kinder mussten alle in den Luftschutzkeller.
Zu Hause musste ich eine dunkle Brille aufsetzen, damit das Auge nicht so viel Licht bekommt. Das andere Auge war auch verdunkelt. Ich durfte in die Schule gehen, durfte aber nichts schreiben, um das Auge zu schonen. Ich durfte auch nicht schnell laufen. Dann wurden wir von München angerufen, dass wir zur Kontrolle kommen sollten. Mein Vater ist wieder mit dem Auto gefahren. Wir hatten natürlich immer Angst, weil tagsüber manchmal auch Tiefflieger kamen und auf die Menschen geschossen haben. Das Auge war zwar blind, aber es musste nicht rausgenommen werden und ein Glasauge eingesetzt werden. Seit meinem zehnten Lebensjahr lebe ich mit nur einem sehenden Auge. Bei dieser Geschichte bekomme ich manchmal noch Gänsehaut, wenn ich sie erzähle.
Mein Vater war Bürgermeister in Untergermaringen. Er hat diese Position bekommen, weil er ein sehr intelligenter Mann war und kein Bauer. Die Bauern konnten sich nicht auf diese Stelle bewerben, weil sie mit der Landwirtschaft zu tun hatten. Mein Vater war ein sehr guter Bürgermeister. Er war wie ein Vater in diesem Dorf. Wenn etwas kaputt war, eine elektrische Leitung, sind die Leute gekommen und er hat es gerichtet. Früher hatten die Leute keine Autos, nur mein Vater hatte eines. Wenn jemand ins Krankenhaus musste, hat das mein Vater gemacht. Die Rote-Kreuz-Autos gab es damals noch nicht. Wenn Kinder Zahnschmerzen hatten, die ersten Zähne, sind sie zu meinem Vater gekommen und er hat die ersten Zähne gezogen. Sie kamen ohne Auto nicht zum Zahnarzt. Ich weiß nicht genau, ob mein Vater als Bürgermeister Mitglied in der Partei war.
Das Kriegsende war schon ziemlich nahe. Unser Haus stand so, dass wir weit rüber zum Bahnhof schauen konnten, da war eine ebene Gegend. An einem Vormittag im April oder Mai hörten wir plötzlich den Krach. Mein Vater kam ins Haus und sagte: „Da kommen amerikanische Panzer.“ Wir haben gesehen, wie sie über die Wiesen und Äcker gefahren sind. Das ganze Dorf war in Aufruhr. Die Leute haben sich versteckt und wir sind auch in unseren Keller gegangen. Auf einmal hörten wir so ein komisches Knistern. Das Nachbarhaus hat plötzlich gebrannt. Es war ein schöner Bauernhof und nur ein kleines Stück weg von unserem Haus. Es war ein älteres Haus, das unter Naturschutz stand und viel daran war aus Holz. Das geschah, während die Panzer durch das Dorf gerollt sind. Die Straßen waren von den Panzern aufgerissen. Wir hatten sehr viel Angst. Ein anderer Bauer ist mit einem weißen Leinentuch raus gelaufen und mein Vater auch. Das sollte heißen, dass man sich ergibt. Zu dieser Zeit hatte mein Vater noch die Bäckerei und hat gebacken und das Lebensmittelgeschäft hatten wir auch.
Einige Wochen sind vergangen. Meine Mutter war mit meiner letzten Schwester schwanger. Es hat gar nicht lange gedauert und es kamen wieder amerikanische Soldaten. Nicht mit Panzern, sondern mit Jeeps. Sie sind zu uns gekommen und wollten alles Mögliche vom Dorf wissen. Manchmal haben sie meinen Vater mitgenommen. Wir Mädchen und meine Mutter hatten so Angst, wenn sie den Vater geholt haben. Dann war Ausgehverbot. Bis abends sechs Uhr musste man von der Straße weg sein. Das Verdunklungsgebot gab es nicht mehr. Das gab es während des Krieges.
Es hat nicht allzu lange gedauert – da Ferien waren, müsste das im Juni gewesen sein – und es kamen die Amerikaner. Wir Mädchen saßen alle in der Küche beim Frühstück. Drei amerikanische Soldaten kamen mit dem Gewehr rein. Mein Vater war in der Backstube und hat gearbeitet. Sie fragten nach unserem Vater und meine älteste Schwester hat sie in die Backstube gebracht. Mein Vater kam dann mit den Amerikanern rüber, hat die Mutter aus dem Geschäft geholt und hat zu uns gesagt, dass die amerikanischen Soldaten ihn mitnehmen wollen. Er musste sich gleich umziehen und mitkommen. Wir saßen da und haben furchtbar geheult. Wir wollten das gar nicht glauben.
Hinter dem amerikanischen Auto stand ein Lastwagen, auf dem schon Männer drauf waren. Mein Vater musste auch da drauf steigen. Die Amerikaner haben aus den Dörfern alle Bürgermeister geholt. Niemand hat uns gesagt, wo sie hinkommen. Erst nach einem Jahr durfte mein Vater an einem Wochenende mit einem Bewacher nach Hause kommen. Nach einem Jahr haben wir dann gewusst, wo der Vater ist. Sie haben diese Leute alle nach Moosburg ins Internierungslager gebracht. Sie waren unter freiem Himmel auf einer großen Fläche eingezäunt und haben Holz bekommen, damit sie sich Baracken bauen konnten. Zuerst hatten sie keine Unterkunft. Das lief noch alles unter amerikanischer Herrschaft.
Am 1. September hat meine Mutter meine jüngste Schwester geboren. Mein Vater war nicht da. Wir wussten auch nicht, wo er war.
Nach diesem Jahr, oder noch etwas später, kamen die Juden zum Überwachen des ganzen Gebietes. Sie hatten Türme gebaut, von denen aus sie alles übersehen konnten. Als die Juden da waren, war es sehr schlecht. Die Männer haben kaum etwas zu essen bekommen. Eine Scheibe Brot für zwei Leute an einem Tag. Eine Suppe von alten Bananen, die man trotz Hunger nicht essen konnte. Als er nach einem Jahr das erste Mal nach Hause kam, wussten wir erst, wo er war. Er war so dünn. Er stand an einem Samstagnachmittag an unserer Küchentür. Sie war offen, weil es schön warm war. Wir haben ihn nicht erkannt, so abgemagert war er. Er sagte: „Kennt ihr euren Papa nicht mehr?“ Erst dann haben wir ihn angeschaut und waren erschrocken. Es war einer dabei, der auf ihn aufpassen musste. Er hat auch bei uns geschlafen.
Mein Vater wurde dann nach Augsburg verlegt in ein zerbombtes Haus in den Keller. Sie haben Strohsäcke bekommen. Vier Männer in einem Kellerraum, in den kaum Sonne oder Licht reinkam. Mein Vater wurde immer zum Arbeiten in einer Bäckerei abgeholt. Hinterher hat er erzählt, dass ihm das Arbeiten sehr schwer gefallen sei, weil er so dünn war und kaum Kraft hatte. Darauf wurde aber keine Rücksicht genommen.
Meine Mutter hat weitergemacht und einen Bäcker aus Schlingen gefunden, der gut backen konnte. Inzwischen war der Großvater gestorben und der Bäcker konnte im Zimmer vom Großvater übernachten. Am Wochenende ist er in sein Heimatdorf, Schlingen, gefahren, weil er dort auch noch einen Bauernhof hatte, den er dann später geerbt hat. Er hatte noch einen Bruder, der das dann alleine gemacht hat. Wir haben die Notwendigkeit gesehen, dass wir einen Bäcker brauchten. Meine Mutter hat auch das Lebensmittelgeschäft weitergeführt. Die Schwester meiner Mutter, Fanni, war auch bei uns und hat mitgeholfen.
Mein Vater war ein gutes Jahr in Moosburg und zwei Jahre in Augsburg. Das waren drei Jahre in Gefangenschaft. Moosburg war ein Konzentrationslager. Dort sind sehr viele an Hunger gestorben. Mein Vater war nicht gerade nach außen ein frommer Mann, aber er hat damals, als ich das mit dem Auge hatte, mit der Familie viel gebetet und hat sich gesagt: „Ich muss wieder zu meinen Mädchen und zu meiner Frau nach Hause. Ich darf mich psychisch nicht belasten.“ Er hat es geschafft, aber als er nach Hause kam, war er körperlich und nervlich kaputt. Das war ungefähr 1948.
Er hat noch eine Weile gebacken. Josef, der für meinen Vater als Bäcker eingesprungen war, ist wieder nach Hause gegangen. Aber mein Vater konnte die Arbeit gar nicht mehr richtig machen. Es ist heiß, wenn man bäckt und es muss auch schnell gearbeitet werden.
Durch das, was wir erlebt haben, waren wir alle ziemlich mitgenommen. Weihnachten kam kein Christkind mehr. Wir haben auch keinen Christbaum gemacht, weil wir alle am Heiligen Abend sehr traurig waren. Wir haben der Mutter noch geholfen, das Geschäft aufzuräumen und die Backstube zu putzen. Danach waren wir alle so müde, dass wir gar keinen Heiligen Abend mehr hatten. Erst als der Vater wieder da war, gab es wieder einen Heiligen Abend. Da waren wir auch wieder glücklich, weil wir als Kinder nie erlebt haben, dass der Vater einen Tag nicht dagewesen war.
Ja, ich habe Grund, gegen die Amerikaner bitter zu sein, aber ich bin es nicht. Meine Mutter war eine ganz besondere Frau. Sie war liebenswürdig und ich habe sie nie schreien oder richtig schimpfen hören, oder dass sie uns geschlagen hätte. Mein Vater und meine Mutter waren so gutmütige Leute, dass ich mir immer wieder sage, dass kein Mensch auf dieser Erde solche Eltern wie ich gehabt haben kann. Ich hatte die besten Eltern, die ein Kind nur haben kann.
Die ersten beiden Kinder, zwei Jungen, sind als Babys gestorben. Sie waren zu schwach, um zu leben. Einer war drei Wochen und einer sechs Wochen alt. Mein Vater wollte immer einen Sohn, der Gottlieb heißen soll, oder Hermann. Meine Schwestern haben vor mir geheiratet. Sie haben Babys bekommen und das waren Mädchen. Ich kam als Dritte und hatte einen Jungen. Ich habe gesagt: „Papa, du bekommst von mir diesen Hermann.“
Wir haben während des Krieges eigentlich nicht leiden müssen. Mein Vater und meine Mutter waren sehr freigiebig. Wir hatten hier auch Gefangene, Polen und Franzosen. Die Bauern hatten gefangene Polen, die auf den Höfen mitgearbeitet haben. Dort haben sie auch zu essen bekommen. Die Franzosen haben auch bei den Bauern gearbeitet. Sie hatten aber zum Übernachten selber eine kleine Wohnung. Dort haben die Franzosen geschlafen und sind am nächsten Morgen zum Bauern zum Arbeiten gegangen. Es gab für sie kein direktes Lager. Mein Vater hat sich sehr um die Gefangenen gekümmert, wenn sie von den Bauern schlecht behandelt wurden.
Mein Vater wurde nicht eingezogen, weil er unabkömmlich war. Er hätte manches von oben her machen sollen. Aber er hat das nicht gemacht, was von der Regierung gekommen ist. Er sagte, dass er hoffe, dass ihn die SS nicht hole, weil er in der Richtung nichts mache. Es war schon sehr gefährlich für meinen Vater.
Ich wollte Lehrerin werden, aber dann kam der Krieg. Dann war mein Vater im Internierungslager, sonst hätte er mich immer nach Kaufbeuren ins Internat gefahren. Ich habe dann Damen-Schneiderin gelernt. Über Beziehungen habe ich diese Lehrstelle bekommen und auch fertig gemacht. Dann kam die erste Ehe, die drei Jahre gedauert hat
Die Kirche habe ich so kennengelernt: In der Mittagszeit kamen zwei Missionare. Sie haben geklingelt und ich habe aufgemacht und habe gesagt, dass ich keine Zeitschriften bestellen wolle. Sie haben gesagt, dass sie keine Zeitschriften haben. Das war auch hier in Kaufbeuren. Sie sagten, dass sie mir etwas ganz anderes bringen, das wahre Evangelium. Ich war eine gute Katholikin. Sonntags bin ich in die Kirche gegangen, schon allein deshalb, weil im Dorf alle katholisch waren. Wir haben direkt neben der Kirche gewohnt. Mein Vater, als Bürgermeister, hat auch geschaut, dass wir in der katholischen Gemeinde mitmachten. Wir mussten viel in die Kirche gehen. Es hat mich trotzdem interessiert, was die Missionare gesagt haben. Zu der Zeit war ich schon das zweite Mal verheiratet. Mein Mann kam mittags nicht heim, aber ich habe für die Kinder gekocht. Ich habe den Missionaren gesagt, dass jetzt Mittag sei und ich keine Zeit habe, wir wollen einen Termin ausmachen.
Später kamen die Missionare und wir haben ziemlich lange zusammengesessen. Sie haben mir die Kirche erklärt, weil ich davon gar nichts wusste. Das Wort Mormonen hatte ich nie gehört. Sie fragten mich, ob sie mit einem Gebet anfangen dürften. Ich habe gesagt: „Ja, das dürfen sie.“ Ich war gespannt, was sie für ein Buch haben und was sie beten. Der eine Missionar hat gebetet, so wie er empfunden hat, wie wir Mormonen beten. Da war ich so begeistert, weil ich als Kind schon angefangen habe, auch so zu beten wie die Mormonen beten. In der katholischen Kirche hatte man ein Buch, aus dem man vorgelesen hat. Aus sich selber heraus hat man kein Gebet gesprochen. Ich dachte mir, dass ich endlich Menschen antreffe, die so beten, wie ich als Kind immer gebetet habe. Sie haben mir auch noch einen Prospekt über die Mormonen gegeben. Darin war ein Bild von einer Familie, Mann und Frau und zwei Kinder. Sie haben über die ewige Ehe gesprochen. Als ich erwachsen war, habe ich oft gedacht, wenn man sich liebt und treu bleibt und nach den Geboten lebt, dass eine Liebe nicht aufhören wird. In der katholischen Kirche habe ich das nicht erfahren. Dann dachte ich mir, dass es schlimm wäre, wenn man sich liebt und es würde einer plötzlich sterben und alles wäre vorbei. Es hat mich fasziniert, dass es eine ewige Ehe gibt.
Mein Mann war in Hamburg und wollte die Prüfung zum Steuerberater machen. Er hat sie aber nicht geschafft, wegen ein paar Punkten, die ihm gefehlt haben. Dann hat er alles hingeschmissen. Er war in einem Geschäft Bilanzbuchhalter und hatte dann zu nichts mehr Lust und hat ein Leben angefangen, das familiär nicht mehr gut war.
Hermann war zehn Jahre alt und ich hatte schon Werni und Liane, dann erst hatten wir geheiratet. Hermann war der Leidtragende. Als wir verheiratet waren, wurden die beiden Kinder auf den Namen Hess umgeschrieben, weil sie unehelich geboren waren. Das war aber alles noch, bevor ich Mormonin wurde.
Mein zweiter Mann hat gesagt, dass er nicht mit dem Kind von dem ersten Mann unter einem Dach leben könne. So etwas hat er vorher nie gesagt. Ich hätte den Mann nie geheiratet, hätte er mir so etwas gesagt. Ich wäre mit meinen drei Kindern auch zurecht gekommen. Mit meinem zweiten Mann habe ich drei Kinder, insgesamt habe ich vier Kinder, zwei Buben und zwei Mädchen. Mein Mann sagte, dass es Hermann nicht schlecht gehen soll. Aber wenn ich seinen Plan nicht annehme, dass Hermann ins Internat nach Kempten gehe, dann würden wir uns gleich scheiden lassen.
In ersten Ehe geschieden und zwei uneheliche Kinder, verheiratet und gleich wieder geschieden, da habe ich mir gedacht, dass jeder denken wird, was das für eine Frau ist. Ich habe eingewilligt und Hermann kam nach Kempten ins Internat. Er war dort fünf Jahre. Das war die schlimmste Zeit in meinem Leben, dass Hermann nicht da war. Er durfte alle vierzehn Tage über das Wochenende nach Hause kommen. In der Zeit, in den fünf Jahren, habe ich die Mormonen kennengelernt. Hermann habe ich gesagt, dass zwei Missionare da waren und es sei so toll, was sie mir aus dem Buch Mormon erzählt haben. Es waren zwei Amerikaner. Hermann hat sich auch dafür interessiert. Als er alle vierzehn Tage von Samstag bis Sonntag zu Hause war, ist er an diesen Tagen mit den Missionaren von Tür zu Tür gegangen, weil er wusste, dass mein zweiter Mann nicht so besonders nett zu ihm war. Er hat sich mit den Missionaren angefreundet. Hermann musste Sonntagnachmittags wieder zurück und ich habe eine Woche lang getrauert. Am Wochenende war dann wieder die Freude auf Hermann.
Wir sind mit dem Zug nach Augsburg gefahren und Hermann wurde am 16. März 1968 getauft. Das war so toll und ich wollte auch getauft werden. Mein Mann war zu dieser Zeit ein viertel Jahr in Hamburg zu dem Kurs. Als er wieder zu Hause war, kam vom Pfahl ein Brief, in dem gratuliert wurde, dass sich mein Sohn hat taufen lassen und dass er Diakon wurde. Mein Mann hat die Post immer geöffnet. Ich hatte mich nicht getraut ihm zu sagen, dass Hermann getauft worden ist. Jetzt hat er das gelesen und hat gesagt, dass der Hermann doch nur Diakon werden könne, wenn er getauft sei. Ich habe meinem Mann gesagt, dass der Hermann getauft wurde.
Ich wurde am 27. Februar 1970 getauft. Mein Mann hatte nichts gegen die Kirche. Ich konnte sonntags mit den Kindern in die Kirche gehen. Er war viel unterwegs und hat gesagt, dass die Ehe nicht etwas sei, das ihn hindern würde, das zu tun, was er will. Er hatte keinen Respekt vor einer Ehe. Er hat aber nie gegen die Mormonen gehetzt. Als er mir die Erlaubnis zur Taufe gab, sagte er, dass ich mich taufen lassen könne, aber ich würde dann schon sehen, was kommt. Alle meine Kinder sind getauft worden.