Selbongen, Ostpreußen
Ich bin Edith Hohmann, geborene Mordas. Ich bin am 25 September 1938 in Selbongen, Ostpreußen geboren. Meine Eltern, Anna und Gustav Mordas, hatten sich im Chor der Kirche, den die Missionare gegründet hatten, kennengelernt. Sie heirateten im April 1926. Sie ließen sich vor ihrer Heirat, ich glaube zwei Jahre davor Taufen. Wir waren sechs Kinder, mit unserem Erstgeborenen wären wir sieben, er starb bei der Geburt.
Mein Vater verstarb im März 1939 in Königsberg im Krankenhaus. Er war Ältester im Melchisedekischen Priestertum. Er hinterließ meine Mutter mit uns, wir waren zehn, neun, sieben, sechs, zwei Jahre und ich sechs Monate alt. Mit acht Jahren bin ich dann getauft worden, wie meine älteren Geschwister auch und wir waren, und sind immer noch alle aktiv in der Kirche.
Dann passierte das Schlimmste, was passieren konnte — es brach der Zweite Weltkrieg aus. Dann war Januar 1945, da Deutschland den Krieg verloren hatte, und die Menschen sich auf die Flucht nach Westen machten. Die deutschen Militärs hatten dazu angeraten. Meine Mutter war damals sehr krank, sie wurde aus dem Krankenhaus entlassen, weil es hieß, dass wir flüchten müssten.
Meine Mutter und meine Oma (die Mutter meines Vaters) beschlossen da zu bleiben. Meine Mutter hätte die Flucht wahrscheinlich nicht überlebt und meine Oma sagte: „Russen sind auch Menschen.” Wir waren nicht die Einzigen, die dort geblieben sind, und es waren auch einige Mitglieder der Kirche dort geblieben, unter anderem auch ein älterer Bruder, der Priestertumsträger war. So waren wir zuversichtlich.
Dann kamen die russischen Militärs und sie gingen mit den Menschen nicht zimperlich um. Viele wurden erschossen, oder auch nach Russland verschleppt. Meine Schwester Margot und meinen Bruder, 13 Jahre, haben sie auch mitgenommen. Doch nicht weit weg, es waren acht Kilometer von zu Hause entfernt, gab es ein großes Gut, wohin die jungen Leute das Vieh, welches die Russen den Bauern weggenommen haben, hintreiben mussten und dort mussten sie das Vieh auch versorgen. Einmal die Woche kamen sie dann in unser Dorf, um Heu für die Tiere zu holen. Sie brachten dann auch einige junge Leute mit, die das Heu aufladen mussten. Einmal waren auch meine Schwester und mein Bruder dabei. Sie durften uns dann besuchen und wir freuten uns, dass ihnen nichts passiert ist.
Meine Mutter sagte, sie werde zu den Russen gehen und sagen, dass die Kinder krank seien, und dass sie Mal kämen, dann wieder mitgehen würden. Meine Schwester sagte: „Nein Mutti dort werden wir beschützt und es darf uns niemand etwas tun.” So hat sie alle ihre Sachen mitgenommen, denn sie sagte hier bei euch werden sie alles wegnehmen. Hier müsste ich mich wie alle jungen Frauen und Mädchen verstecken, dort brauche ich das nicht.
Meine Mutter hatte die Vorahnung – besser gesagt die Eingebung des Heiligen Geistes – und sie sagte: „Ihr werdet bestimmt nicht immer da bleiben, eines Tages nehmen sie euch mit dem Vieh nach Russland.” Und so geschah es auch und wir haben unsere Margot verloren. 1947 kam ein Mädel aus Russland zurück, sie war aus unserem Nachbarort sie brachte uns die traurige Nachricht, dass Margot im Ural an Typhus verstorben sei. Mein Bruder, der auf meine Mutter gehört hat, ist verschont geblieben. Die Russen hatten ihn auch nicht mehr gesucht.
Es war für uns immer erschreckend, wenn vor unserem Haus ein Lastwagen mit russischen Soldaten gehalten hat. Sie stürmten dann ins Haus, die Gewehre auf uns gerichtet. Meine Schwester Eva 7 und ich 6 hielten uns immer an Muttis Rock fest. Sie nahmen uns alles, was ihnen in die Finger kam, aber uns haben sie nichts getan. Nach ungefähr acht Monaten wurden dann die Gebiete von Polen besetzt. Wir hofften, dass man uns nach Deutschland rauslassen würde, aber es wurden nur einige wenige rausgelassen.
An einem Sonntag im Jahr 1946 bekamen wir Besuch von Präsident Benson. Wir hatten damals schon die Versammlungen in unserem Gemeindehaus abgehalten. Er kam in der Eigenschaft als Wirtschaftsminister nach Polen, er war damals Apostel und so nutzte er die Gelegenheit nach den Mitgliedern zu sehen, wie es ihnen ging. Unsere Freude war sehr groß, nach den Jahren einen Apostel zu hören und zu sehen. Er sprach dann zu uns, er hatte einen Dolmetscher dabei. Das Gemeindehaus war voll, denn alle Deutschen aus dem Ort waren gekommen, auch Nichtmitglieder. Benson sagte, sie würden versuchen alle Mitglieder rauszuholen, das löste eine Vielzahl von Taufen aus.
Danach erhielten wir große Hilfe wie Lebensmittel und Kleidung. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir die Versammlungen noch in deutscher Sprache abhalten konnten, denn eines Tages hieß es, dass wir nur noch die Versammlungen in polnischer Sprache halten dürften. Das konnten wir nicht, denn wir hatten weder polnische Gesangbücher noch sonstige Schriften. Also wurde das Gemeindehaus geschlossen, wir versammelten uns dann in unseren Heimen immer zu je zwei bis drei Familien, damit es nicht auffiel.
Als wir Kinder dann in die Schule gingen und schon etwas polnisch gelernt hatten (und wir lernten schnell) dann haben wir immer für den jeweiligen Sonntag die Themen und auch Lieder übersetzt. Die Themen aus dem Buch Mormon oder einem Leitfaden, die wir noch hatten. Aber der Wunsch nach Deutschland rauszukommen war immer noch groß.
Im Jahr 1957 hatten sich die Staaten, Polen und Deutschland wohl geeinigt die Frauen mit ihren Kindern zu ihren Männern Ausreisen zu lassen. Denn die Männer wurden aus der russischen Gefangenschaft nach Deutschland geschickt worden. Es waren damals aber schon einige Kinder verheiratet, so riss das Band der Familienzusammenführung nicht ab. So wurde auch unsere Gemeinde Selbongen immer kleiner.
Im Jahr 1961 habe ich geheiratet, wir bekamen unser erstes Kind und dann im nächsten Jahr, also 1962, durfte meine Mutter mit meinen beiden Schwestern auch Ausreisen, und ich hatte nun meine Familie und musste deshalb dort bleiben. Es verging kein Tag, an dem wir nicht gebetet haben, dass der Himmlische Vater uns einen Weg zeigen möge, wie wir rauskommen könnten. Meine Mutter schickte uns jedes Jahr eine Einladung und Devisen für die Fahrt, denn so wurde es vorgeschrieben, aber es nützte alles nichts wir bekamen immer wieder die Ausreise abgesagt. Wir hatten dann mittlerweile drei Kinder, die ihre Oma nicht kennenlernen durfte.
Wir durften auch nicht von Verwandten besucht werden, denn es durften nur die nahe Familie zu Besuch kommen. Mein Cousin wollte mit seiner Frau 1966 zu Besuch kommen, aber seine Einreise wurde abgelehnt dann erhielt ich an einem Tag zwei Briefe, der eine von meinem Cousin und der andere von einem Bruder Oblak aus Jugoslawien. Ich kannte den Absender des Briefes aus Jugoslawien nicht, aber der Brief meines Cousins gab Aufschluss darüber. Dieser Bruder Oblak hatte sich ein Jahr davor in Solingen taufen lassen, er besuchte dort jedes Jahr seine Schwester, und durch meinen Cousin Dieter erfuhr von der Kirche, da seine Schwester und so auch er Kunden in seinem Schuhgeschäft waren.
Wir haben dann den Antrag gestellt, für die Reise nach Jugoslawien, haben auch hin und Rückfahrkarte gelöst und sind im August 1967 mit dem Zug über Tschechei und Ungarn nach Jugoslawien, Zagreb, gefahren. Man hatte uns im Reisebüro in Polen falsche Verbindung der Züge gegeben. Wir erhielten eine Reise direkt nach Zagreb, aber über Wien, und da wir nicht über Wien reisen, durften sondern über Tschechei und Ungarn, hatten wir einen Tag Verspätung.
Mein Cousin wollte ja am Bahnhof in Zagreb uns empfangen und nun wurde er unruhig und dachte, wir würden nicht kommen. Dann ist er zu jedem Zug gefahren, der aus Warschau kam, und dann sagte er: „Wir fahren noch zu diesem Zug, und wenn sie nicht da sind, dann fahren wir zurück nach Solingen.“ Mit dem letzten Zug sind wir dann gekommen und die Freude war groß, denn wir hatten uns zehn Jahre nicht gesehen. Dann unterbreitete er uns, dass er uns mit nach Deutschland nehmen wollte und ich dachte, wie soll das gehen, die Grenzen werden doch streng bewacht? Er hatte wirklich Mut, er sagte ich habe auch drei Kinder im Alter wie eure, und wir haben uns alle in den Kofferraum gelegt und wir hatten Platz, also, so werden wir euch rüberbringen.
Wir sind dann Richtung Grenze gefahren, und es war ein heißer Sommertag, die Sonne schien und man sah keine Wolke. Dann kamen wir an eine Stelle. Mein Cousin hielt an, wir stiegen aus und er sagte, hinter der Kurve ist der Grenzübergang, hier müsst ihr in den Kofferraum. Ich bin zuerst eingestiegen, und immer, wenn kein Auto vorbei kam, der Nächste, also die Kinder und zuletzt mein Mann. Unsere Koffer lagen auf dem Rücksitz, mit der Adresse von Polen, darüber haben wir nicht nachgedacht. Als Manfred dann zur Grenze fuhr, fing es an zu regnen und er sagte, dass als er zur Grenze kam, es dermaßen geregnet hat ein richtiger Platzregen, sodass die Beamten die Autos nur durchwinkten und auch Manfred ohne Kontrolle durchgefahren ist.
Als wir auf österreichischem Boden ausgestiegen sind, sahen wir keine Wolke und die Sonne schien wie zuvor. Ich muss sagen, dass ich während der ganzen Fahrt, und ich glaube wir alle haben im Stillen gebetet, denn wir sprachen kaum. Die Freude über diese Führung und der Dank waren groß, denn ich habe die Macht des Herrn so sehr gespürt.
Natürlich war die Freude meiner Mutter und meiner Geschwister auch sehr groß. Heute nach 40 Jahren habe ich Tränen der Rührung und Dank¬barkeit in den Augen, dafür was der Herr Großes für uns getan hat.