Kattowitz, Oberschlesien
Mein Name ist Edeltraut Kallies, geborene Hadzik. Geboren bin ich am 20.N.ovember 1921 in Kattowitz [Katowice, Polen]. Mein Vater heißt Johann Hadzik; er ist am 10.06.1891 in Sorowski geboren. Meine Mutter, Anna Nowak, ist am 13.Juni 1898 in St. Annaberg bei Oppeln [Opole] in Oberschlesien geboren. Wir waren Vater, Mutter, Geschwister, meine Tante und ich. Ich hatte vier Schwestern und drei Brüder. Wir waren eine singensfreudige Familie. Mein Vater hat Geige gespielt, mein Bruder hat Klavier gespielt.
1929 haben wir das Evangelium kennengelernt. Einmal klopfte jemand an die Tür. Mein Vater sagte: „Wer ist denn dort?“ „Wir sind Missionare“. „Kommen Sie rein“, sagte mein Vater. Die zwei Brüder sind dann reingekommen, Bruder Reilly hat sich hingesetzt. Wir waren aber nicht vorbereitet. Meine Mutter hat dann für die Missionare ein schönes Abendbrot zurechtgemacht. Sie haben uns vom Evangelium erzählt. Von diesem Tag an waren wir‚ kernig’ – möchte ich sagen.
Wir sind dann zur Sonntagsschule eingeladen worden und sind auch hingegangen. Die Leute sagten dann immer: „Hier, das ist das Gefolge, die gehen jetzt in die Kirche“. Da haben wir uns nichts draus gemacht, wir sind gegangen. Wir haben in der Kirche vieles gelernt, wurden gut belehrt. Das war in Hindenburg in Oberschlesien. Dort haben wir auch Theater gespielt, wir haben gesungen, ich war im Chor, meine Mutter auch. Als wir einmal geübt hatten, hat meine Mutter falsch gesungen und da sagte mein Bruder: „Mutti, du singst falsch, du musst dich korrigieren“. Sie hat einen roten Kopf gekriegt und wir auch.
Mein Vater war dann so überzeugt, dass er sich 1929 taufen ließ. Aber, da gab es doch das ‚Wort der Weisheit’. Mein Vater hat gerne geraucht, Zigarren. Wenn er dann kam, das duftete richtig schön. Aber, jetzt kommt der Clou, er hat gesagt: „Ich werde aufhören zu rauchen. Ich rauche nicht mehr“. Einige Zeit hat er wieder geraucht, nur eine Zigarre, nur einen Zug oder zwei, und dann ist er so krank geworden, dass er gesagt hat: „Endgültig Schluss!“ Dann hat er Schluss gemacht und hat sich taufen lassen.
Er wurde Gemeindepräsident und er hat die Gemeinde gut geleitet. Er hatte auch gute Anhänger. Es waren 40, 50 Mitglieder in der Gemeinde. Schwester Herud war eine fleißige Missionarin. Sie hat immer die Kinder von der Straße zur Sonntagsschule gebracht. Wir waren immer so viele Kinder. Dort haben wir dann vom Evangelium gehört und von der Bibel. Wir haben auch viel studiert.
Alle Täuflinge hatten dann eine Besprechung, das waren meine Schwester, ich und meine beiden Brüder. Die beiden Brüder aus Beuthen, Goliasch, wurden auch getauft und noch Fremde von Gleiwitz. Wir, Willi, Stefan, Edeltraud und Annemarie, wurden am 14.Februar.1934 getauft. Es war eine schöne Taufe. Es wurde schön gesungen und es wurden schöne Belehrungen gegeben. Wir sind richtig begeistert nach Hause gegangen.
Mein Bruder Willi, geboren am 20.März 1920, ist gefallen. Mein Bruder Stefan ist am 5.Dezember.1918 geboren. Stefan hat lange in der Bundesrepublik Deutschland gelebt und war sehr aktiv in der Kirche. Er hat auch Tempelarbeit in der Schweiz gemacht.
Die amerikanischen Missionare waren sehr oft bei uns zu Hause und dort miteinander gesprochen und belehrt haben. Aber 1938 wurden die Missionare abgezogen. Sie mussten weg, weil es überall gekribbelt hat. Mein Vater hat dann alles geleitet und gemacht in der Gemeinde. Die Räume mussten auch sauber gemacht werden. Wer hat sie sauber gemacht? Familie Hadzik. Wie das so ist.
Eigentlich hatten wir keine Schwierigkeiten mit den Nationalsozialisten. Bis 1941 habe ich auch noch gearbeitet. Da sind wir noch in die Gemeinde gegangen. Wir haben dann auch Radio gehört, was so alles in der Welt geschieht. Jeder hat Angst gehabt. Da sind sie alle abgehauen. Die Alten sind wohl dageblieben, aber sie sind dann verstorben. Die Letzte, die verstorben war, war Schwester Herud. Sie wurden immer besucht von Bruder Lehmann aus Görlitz und von Bruder Schulz. Schwester Herud hat einen Strumpf gehabt und dort hat sie ihren Zehnten jeden Monat reingetan. Sie ist dann in den 50er, 60er Jahren gestorben. Da hat sie noch in Hindenburg gelebt. Die Geschwister, die noch in Hindenburg waren, so wie die Schwester Herud, hatten dann den Kontakt zur Gemeinde Görlitz. In der Gemeinde Görlitz war Bruder Lehmann der zuständige Gemeindepräsident. Später war er Distriktspräsident. Interessant ist, wie jetzt Schwester Kallies sagte, dass Schwester Herud ihren Zehnten, weil sie den nicht ordnungsgemäß geben konnte, weggesteckt hat. Wenn dann Kontakt zu dem Gemeindepräsidenten von Görlitz war, hat sie ihren Strumpf rausgeholt und ihren Zehnten bezahlt. Ich fand das schön. Ich habe auch gesagt, wenn Bruder Lehmann einmal nach Hindenburg fährt, warum er mich nicht mal mitnimmt. Der hat das vielleicht auch nicht gewusst. Die Gemeinde in Hindenburg bestanden hat bis ungefähr 1944 bestanden.
Im Arbeitsdienst war ich ein Jahr. Da lernt mal alles. Man wird sozialistisch erzogen. Ich war auf dem Land bei einem Bauern. Dort habe ich gelernt, jäten, hacken, Korn binden, melken. Ich habe 15 Kühe gemolken. Wenn ich frei hatte, musste die Chefin melken. Da hat sie gesagt: „Traudchen, du darfst nicht mehr frei machen. Ich habe die ganze Milch ausgekippt“. Weil die Kühe ihr mit dem Schwanz ins Gesicht gehauen haben. Aber es war angenehm dort. Damals war ich 20 Jahre alt.
Meine Brüder wurden ins Militär eingezogen. Stefan war in Russland und Willi war in Griechenland. In Griechenland ist Willi mit 21 Jahren gefallen. Der Stefan starb mit 82 Jahren. Aber jetzt erst. Na ja, das sind 10 Jahre her. Bevor er starb, kamen die Brüder und er wurde noch Hohepriester, mit 82 Jahren.
Mein Vater musste nicht zum Volkssturm. Er hatte vom ersten Weltkrieg eine Handverletzung gehabt. Er blieb zu Hause. Er war unser Schutz zu Hause. Als 1944 die Russen kamen und an die Tür geklopft haben, hatte er aufgemacht. Weil sie schon mit dem Gewehr kamen, hat er so (Hitlergruß) gemacht. „Nein, nein“ sagte ein Russe, „du bist nicht Gitler, du bist nicht Gitler“. Und die haben ihm die Hand runter gemacht und sind weggegangen. Während des Umsturzes haben wir zu Hause Sonntagsschule und das Abendmahl gehabt.
Am 11.März.1945 haben sie uns eingesperrt. Wir sind abgeholt worden und sie haben uns ins Lager gesteckt. Meine Schwester hatte dann Gelegenheit gehabt, im Lager Sanitäterin zu sein. Ich war in der Küche, ich habe für die Gefangenen gekocht. Die Gefangenen waren Soldaten, Zivilisten, alles zusammen. Wenn die in der Grube gearbeitet haben und dann nach einer arbeitsreichen Zeit zurückkamen, schwach und kaputt, mussten sie sich anstellen und was wir gekocht haben, wurde dann verteilt. Im Lager bekam jeder eine Kelle voll. Meine Schwester, die Sanitäterin war, hat gesagt: „Der größte Teil ist an Heimweh gestorben“.
Wir hatten jede eine Schnitte gekriegt. Da wir mit meiner Schwester zusammen waren, haben wir eine Stulle geteilt, sie eine Hälfte, ich eine Hälfte. Die andere Hälfte von ihr haben wir versteckt. Die war dann für den nächsten Tag, weil das Brot so frisch war, dass man Magenschmerzen oder so etwas bekam.
Mein Vater ist mit eingesperrt worden. Meine Mutter und die Kleinste, Irmgard, waren zu Hause. Sie hat gearbeitet, damit ein bisschen Geld rein kommt. Sie lebt ja noch, aber sie ist schwer krank. Ich war 1½ Jahre im Lager. Dann haben wir selbst die Initiative ergriffen und sind abgehauen. Aber mit Hilfe von einem Miliz. Er war deutsch gesinnt. Wir haben immer gesagt: „Warum müssen wir so leiden?“ „Na weil ihr Reichsdeutsche seid“. Und weil er deutsch gesinnt war, hat er gesagt: „Wartet mal Jungs, ich will euch helfen“. Er hat gesagt: „Wenn der Wächter weggeht, wenn er anfängt, die Runde zu machen, da schneidet ihr den Zaun durch und schlüpft durch und haut ab“. Er hat uns 200 Mark gegeben. „Sprecht draußen aber nicht. Denn wenn ihr deutsch sprecht, schnappen die euch wieder“. Er war ein Pole, ein sehr guter Mensch.
Mein Vater ist gestorben. Sie haben ihn erschlagen. Als wir unsere Runde gemacht haben, wir mussten uns ja auch ein bisschen bewegen, haben wir ihn gesehen, den Papa! Den Kopf hat er verbunden gehabt. Er sagte auf Polnisch: „Wir kommen bald nach Hause“. Ach, habe ich mir so gedacht, du hast Nerven. Wir konnten ja nicht sprechen, sonst hätten wir einen mit dem Knüppel gekriegt. Meine Schwester hat dann ganz entschlossen gesagt: „Wir müssen erfahren, wann der Vater gestorben ist“. Er war 54 Jahre alt als er am 15. Mai 1945 beerdigt wurde. Beerdigt wurde er in einem Jutesack. Es war ein Massengrab. Da hat auch niemand gestanden. Aufgehoben, rein und zugemacht.
Der polnische Aufseher hat gesagt: „Mädels geht nicht zu Mutter, denn wenn ihr zu Mutter geht, als erstes ist die Kontrolle bei der Mutter“. Jetzt haben sie ein Bild von uns gehabt. Im Haus haben sie gesagt: „Ja, ja, ja, das sind die Mädels, die waren hier“. Wir waren ganz schnell dort, bloß sagen, dass wir da sind und dass wir uns verstecken. Wir sind zu einem Freund meines Vaters gegangen und meine Schwester sagte: „Herr Dallmann, mein Vater lebt nicht mehr“. „Was, er lebt nicht mehr? Also, dann dürft ihr hier nicht mehr lange bleiben. Ihr müsst gleich weg“. Er hat auch Angst gehabt. Alle haben sie Angst gehabt. Dann sind wir drei Wochen zu Schwester Herud gegangen und sie hat uns Obdach gegeben. Danach sind wir zu einem Onkel meiner Mutter, nach St. Annaberg bei Oppeln gegangen. Dort waren wir auch nicht lange, weil Stefan aus der Gefangenschaft nach Bonn entlassen wurde. Und dort hat er uns hingeholt. Wir sollen nach Bonn kommen. Das war 1945. Stefan war zuerst beim Russen und dann haben sie sie verteilt und er ist in amerikanische Gefangenschaft gekommen.
Wir haben dann in Bonn gelebt, aber nicht lange. Meine Schwester und Stefan haben dann getüftelt und gelesen. Von irgendwo haben sie Broschüren von der Kirche gekriegt. Bruder [Fritz] Lehnig hatte ein Lager. Und da sollten wir hin. Bruder Lehnig wird uns Hilfe geben, in Cottbus. Wir haben uns auf die Socken gemacht und sind am 7. Mai 1947 zu Bruder Lehnig gekommen. Wissen Sie, dass ich das wieder miterlebe? Ich zittere noch am ganzen Körper. Unmöglich war das.
Seit dem, bis heute, lebe ich in Cottbus. Am 04.Februar 1952 habe ich meinen Sportsfreund geheiratet. Meine Schwester Annemarie Pavel ist 1953, als der Tumult war, in den Westen gegangen und lebt jetzt in Karlsruhe