Breslau, Schlesien

Mormon Deutsch Christa Bertha Frieda KleinerIch heiße Christa Bertha Frieda Kleiner, geborene Bachmann, und bin am 19. Januar 1928 in Breslau geboren. Mein Vater heißt Willi Walter Georg Bachmann und meine Mutter Gertrud Bachmann, geborene Mai. Ich habe in der Zinnastraße bis zu unserer Flucht gelebt.

Wir wohnten in einem Siedlungshaus und hatten einen hübschen Garten dabei. Als ich klein war, war ich mehr in unserem Garten als in der Wohnung. Es gab noch gleichaltrige Kinder, mit denen ich dort gespielt habe. In der Nähe hatten wir ein wunderschönes Schwimmbad. Bei uns in Breslau war es im Sommer immer sehr schön warm, so dass wir viel im Schwimmbad waren. Ich hatte einen Großvater, Artur Eugen Bruno Bachmann, der gerne mit mir spazieren gegangen ist. Wir sind in den Park gegangen und hatten unsere Freude an den schönen Bäumen. Es gab da einen großen dicken Baum, der hohl war, und man konnte sich darin verstecken und die Leute erschrecken, die vorbei kamen. Das haben wir als Kinder gerne gemacht. Die Oder war ganz in der Nähe und wir haben oft dort gesessen und uns gefreut, wenn die Kähne vorbeigekommen sind, die Schleppkähne mit Zucker oder Kohlen und allen möglichen.

Unsere ganze Familie hat da gewohnt. Meine Großeltern, meine Tanten, meine Großtanten, alle waren in Breslau zu Hause. Ich hatte zwei Geschwister, einen Bruder, Wolfgang Bachmann, und eine Schwester, Elisabeth Bachmann. 1939 ist meine Schwester gestorben. Seit dieser Zeit war meine Mutter ziemlich krank. Sie hat eigentlich nie verwunden, dass meine Schwester gestorben ist.

Ich bin in Breslau in die Schule gegangen. Zuerst war ich auf einer Mittelschule, sie hieß Dorotheenschule. Später bin ich auf das Gymnasium umgeschult worden. Das war das König-Wilhelm-Gymnasium in Breslau. Zuerst bin ich mit dem Fahrrad zur Schule gefahren, danach, in die andere Schule, musste ich mit der Straßenbahn fahren, weil sie ganz in der Stadt war.

Der Sommer war eine schöne Zeit, aber der Winter in Breslau war auch sehr angenehm. Da war so ein kleiner See, der zugefroren war, auf dem wir Schlittschuhlaufen waren. Im Park konnte man Skilaufen gehen, nur Langlauf. An den Oderdeichen waren kleine Hügel, da konnte man auch Abfahrten machen. Es hat Spaß gemacht. Mein Vater ist oft mit uns sonntags spazieren gegangen. Ich wollte ihm gerne einen Igel schenken. Wir haben im Herbst alle Laubhaufen umgedreht, um einen Igel zu finden. Aber wir haben keinen gefunden. Wir haben eine Bürste in die Tasche getan und als wir heim kamen, haben wir meine Mutter in die Tasche fassen lassen und haben gesagt, dass da der Igel sei. Aber es war nur die Bürste. Solche kleinen Scherze gab es auch.

Vor unserem Haus fuhr jeden Morgen der Milchwagen vor und auch der Gemüsewagen. Im Sommer gab es sogenanntes Jungbier. Das war kein vergorenes Bier, sondern das war Bier, das noch unvergoren war, und das war im Sommer sehr schön zu trinken. Es gab auch kleine Eisstände, die mit einer kleinen Karre angefahren kamen. Ganze Trauben von Kindern standen da. Wenn er geklingelt hat, kamen sie alle angerannt und holten sich Eis zum Essen. Damals gab es noch keine Kühlschränke. Aber manche hatten doch Kühlschränke, für die man Blockeis kaufen und das Eis stampfen musste. Das hat man in diese Kühlschränke reingetan und eine Schüssel kam unten drunter, für das abgetaute Eis. Man hatte jedenfalls ein schön gekühltes Fach, in das man seine Sachen abstellen konnte.

Mit zehn Jahren musste man zum Bund Deutscher Mädchen (BDM). Mittwochs und samstags war Dienst. Oft mussten wir Lieder lernen. Wir sind durch die Straßen marschiert und haben die Lieder gesungen, die wir gelernt haben. Im Herbst haben wir angefangen zu basteln. Ich habe viel ausgesägt. Ich habe eine Schaukel gemacht und viele andere Dinge. Diese Sachen durften wir vor Weihnachten auf dem Weihnachtsmarkt verkaufen. Verkaufen ist nicht der richtig Ausdruck. Leute, die arm waren, haben Gutscheine bekommen und konnten damit die Sachen erstehen, die wir gebastelt haben. Das Basteln hat mir immer viel Spaß gemacht. Das Marschieren hatte ich weniger gerne, gerade bei der Hitze in der Stadt, das war nicht angenehm. Sport haben wir auch viel gemacht. Wir sind in die Stadien gegangen und mussten Kurzstrecken laufen, werfen, Langstrecken laufen und Hochsprung machen.

Am 1. Januar 1945, an meinem Geburtstag, kam die ganze Familie zusammen. Wir wussten, dass wir weg mussten. Ich bin zum Bahnhof gegangen, um den Menschen, die aus Ober-Schlesien kamen zu helfen, ihre Sachen zu tragen. Ich hatte also Dienst am Bahnhof. Am nächsten Tag haben wir in aller Eile unsere Sachen zusammengepackt. Meine Mutter hat komischerweise den Pelzmantel meines Vaters unter den Ofen geschoben. Wir hatten große Kachelöfen und darunter war ein kleiner Raum für Holz, das da getrocknet wurde. Dort hat sie den Pelzmantel versteckt, damit er noch da ist, wenn wir zurückkommen. Wir glaubten, dass wir nur kurz weggehen. Ich habe ein Glas mit eingeweckten Kirschen geholt und habe das ausgefuttert. Danach war es mir so elend.

Wir sind zum Bahnhof gegangen. Dort war es schwarz von Menschen. Man brauchte von einem Bahnsteig zum anderen etwa eine Stunde, wo man sonst fünf Minuten gelaufen ist. Mein Vater hatte vorsorglich, weil er immer an Bomben dachte, eine Wohnung in einer kleinen Stadt gemietet und da sind wir hingefahren. Aber bis wir in dem Zug waren, das war ein Drama. Man konnte gar nicht mehr reinkommen. Wahrscheinlich weil ich ein junges Mädchen war, haben die Soldaten, die drin waren, das Fenster aufgemacht und haben gesagt: „Kommt, wir holen euch durchs Fenster rein.“ Wir haben unser Gepäck reingeworfen. Sie haben erst meiner Mutter geholfen und am Schluss bin ich durch das Fenster reingekommen. Mein Vater musste in Breslau bleiben, er konnte nicht raus. Der Ort, wo wir hinfahren wollten, hieß Münsterberg. Als wir dort ankamen, hat die Frau gesagt: „Frau Bachmann, wir müssen auch weg. Wir haben schon den Ausweisungsbefehl bekommen.“ In diesem Januar war es bitterkalt. Meine Mutter hat sehr gefroren und sie war sehr herzkrank. Sie war froh, dass sie erst einmal an einem schönen warmen Ofen sitzen konnte. Mich machte damals tief betroffen, als ein Wagen mit Flüchtlingen vorbei kam. Auf dem Wagen saß eine Frau, die ein Baby im Arm hielt, das längst erfroren war. Es war tot. Man wollte ihr das Kind wegnehmen, aber sie hat es nicht hergegeben.

Am nächsten Morgen haben wir uns wieder fertiggemacht und sind zum Bahnhof gegangen. Wir sind in einen Zug geklettert, der zum Riesengebirge fahren sollte. Anfangs war eine Tasche von mir verloren gegangen, weil alles durch das Fenster reingeworfen wurde. Da war mein Ausweis drin und alles, was für mich besonders wertvoll war. Unterwegs, an einem Bahnhof, wurde einmal angehalten und da gab es aus einer Gulaschkanone Essen. Ich konnte nie etwas essen, wo Mehlklumpen drin herum schwammen. Dieses ganze Essen war voll damit. Aber wenn man Hunger hat, isst man scheinbar alles. Das Essen war grau und undefinierbar, man wusste überhaupt nicht, was man isst. Ich habe die Augen zugemacht und alles geschluckt.

Spät abends sind wir in Hirschberg im Riesengebirge angekommen. Dort haben wir einen Zug genommen, der ins Gebirge führte. Da war auch eine Wohnung, wo wir hinkonnten. Wir saßen vielleicht schon eine Stunde in dem Zug, da kam die Nachricht: „Alle müssen sofort aussteigen. Die Strecke ist kaputt.“ Wir sollen zu einem anderen Bahnhof laufen. Meine Mutter konnte nicht so gut tragen. Alles was wir hatten, habe ich gepackt. Alle sind gerannt und wir konnten gar nicht so schnell laufen. Ein junger Franzose kam, hat uns angesprochen und gesagt: „Kommt, ich helfe euch.“ Das hat mich sehr beeindruckt. Er hat die Hälfte von unserem Gepäck genommen und hat uns geholfen, dass wir zu dem anderen Bahnhof hinkommen können. Der Bahnhof in Oberschreiberhau liegt ganz oben auf dem Berg und wir mussten nach unten gehen. Alles war eisglatt gefroren. Ich bin mehr auf meinem Po runtergerutscht als gelaufen. Meine Mutter hat sich am Geländer festgehalten. Endlich waren wir in einer Pension angekommen, die mein Vater besorgt hatte, damit wir eine Unterkunft hatten. Dort ging es meiner Mutter sehr schlecht. Sie hatte fürchterliche Blutungen und wir wussten überhaupt nicht, was wir machen sollten. Wir haben dann einen Arzt gefunden, der ihr geholfen hat.

Später kam endlich mein Vater. Er hatte die Möglichkeit, aus Breslau rauszukommen. Wir sind dann nach Bad-Warmbrunn gekommen. Dort haben wir eine Wohnung zugewiesen bekommen. Es war eine wunderschöne große Wohnung, in die wir eingezogen sind. Da hatten wir es auch warm. Dort haben wir eine lange Zeit gelebt. Ich war erst mit meiner Mutter alleine. Meine Schwester war tot und mein Bruder wurde eingezogen, er war im Krieg. Später kam mein Vater dazu. Wir wussten nicht, wo mein Bruder war, weil uns keine Post mehr erreicht hatte. In Bad-Warmbrünn bin ich morgens einkaufen gegangen und habe alles für uns besorgt. Ich habe die Wohnung geputzt und habe mich nützlich gemacht. Dann kam Weihnachten. Ich war im Kirchenchor und habe da gesungen. Mit dem Kirchenchor sind wir in die Heime gegangen, in denen alte Leute lebten, und haben gesungen. In der Kirche war etwas Nettes. Da stand ein Korb unter dem Altar und da hat jeder, der ein bisschen Brot übrig hatte, das reingelegt, damit sie die alten Leute im Heim ernähren konnten. Es gab zu der Zeit nichts mehr. Das Singen zu Weihnachten war wunderschön. Die Menschen hatten so viel Freude daran. Das hat mir sehr gefallen. Mein Vater wollte uns einen Christbaum bescheren. Er ist in der Finsternis losgegangen und hat an einer Chaussee ein kleines Bäumchen abgeschnitten. Als er ins Helle kam, hat er gesehen, dass auf der einen Seite keine Äste waren. Er hat Äste abschnitten, auf der anderen Seite Löcher gebohrt und die Äste dort reingesteckt. So hatten wir einen Christbaum.

Am 1. Mai 1945 wurde aufgerufen, dass alle in den Kurpark kommen sollten. Dort haben sie uns erklärt, dass der Führer gefallen sei, dass er den Heldentod gestorben sei und dass der Nationalsozialismus jetzt nach seinem Tod erst recht stark werde, genauso, wie das Christentum erst nach dem Tod von Christus groß geworden ist. Dieser Vergleich, wir haben uns alle angesehen. Dieser Mann hat sich ganz schnell abgesetzt und am 8. Mai war Schluss, dann kamen die Russen. Da war der auch nicht mehr zu sehen. Er hat seine Uniform ausgezogen und weg war er.

Angefangen hat es mit den Fahnen, da war ich noch ganz klein. Da muss wohl diese Wahl gewesen sein, wo Hitler Reichskanzler wurde. Überall hingen Fahnen, das weiß ich noch. In den Fenstern standen kleine Hindenburg-Lichter. Eine Zeitlang sind meine Eltern dauernd zur Wahl gegangen. Weil eine Regierung nach der anderen kaputt gegangen ist, waren dauernd Wahlen. In der Schule war das für uns ganz normal, dass wir „Heil Hitler“ gesagt haben. Das gab es gar nicht anders. Die Lehrer kamen auch so in die Klasse rein. Das war der übliche Gruß. Bei meinem Vater in der Firma gab es ein älteres Fräulein, das „Heil Hitler“ immer so gedehnt hat, sie hat „Heil Hiiiitler“ gesagt. Eines Tages kam die Gestapo. Jemand hätte die Frau angezeigt, sie hätte nicht „Heil Hitler“ gesagt. Die Leute wurden befragt und sie sagten: „Die sagt immer Heil Hiiiitler.“ Dadurch, dass sie das so komisch gesagt hatte, hatte sie viele Zeugen und da war die Sache erledigt. Ich hatte auch eine Freundin, deren Tante russischen Frauen geholfen hatte. Sie hat ihnen Brot zugesteckt. Eines Tages sagte meine Freundin, ihre Tante sei im KZ, weil sie den Russen Brot gegeben habe. Es war ein äußerst gefährliches Leben.

Die Reichskristallnacht habe ich natürlich auch erlebt. Als ich morgens in die Schule ging, war die Straße voll mit Milch, Butter, Stoffe, alles lag auf den Straßen. Das war aus den jüdischen Geschäften rausgeworfen worden. Alles lag auf der Straße. Wir wussten gar nicht, um was es sich handelte. Die Eltern waren sehr vorsichtig mit uns zu sprechen, weil es oft vorkam, dass Kinder irgendwo anders etwas erzählt haben und dann wurden die Eltern eingesperrt. Deswegen haben die Eltern kaum etwas erklärt, um was es geht. Sie haben einfach gesagt, dass sie auch nicht wissen, was das ist. Wir wussten dann, dass die Synagoge gebrannt hatte, aber warum, das wussten wir nicht. Man hörte dann, dass man jüdische Mitbürger abgeholt hatte. Ich habe gefragt: „Warum, wo tun sie denn die hin?“ „Sie bekommen eine schöne neue Stadt, sie sollen untereinander wohnen. Sie sollen sich gegenseitig betrügen. Sie sollen aufhören, uns zu betrügen.“ Das war die Erklärung, die ich in der Schule dafür bekommen habe. Ich habe oft erlebt, dass mein Vater abends am Radio saß und wenn ich heim kam, hat er immer gedreht. Später erst habe ich herausgefunden, dass er den Londoner Sender hatte. Damit ich nichts verraten konnte, hat er weitergedreht und hat gesagt, dass er einen Sender suche.

Wir haben erlebt, dass wir große Veranstaltungen hatten, zu denen wir singend hinziehen mussten. Wir mussten warten, bis wir in die große Halle, Jahrhunderthalle in Breslau, rein konnten. Da gab es eine Propaganda-Geschichte, in der der Gauleiter zu uns gesagt hat, dass wir unserem Vaterland gegenüber verpflichtet seien, hinzugehen und zu berichten, wenn unsere Eltern etwas gegen den Führer und das Reich sagten. Wir müssten das unbedingt tun, wenn wir unser Land lieben. Es war eine Situation des Misstrauens unter allen Bürgern. Keiner hat dem anderen mehr vertraut, weil niemand wusste, was passiert. Es gab sehr mutige Leute in Kabaretts, die haben Witze über die Regierung gemacht, aber so, dass man ihnen nichts anhaben konnte. Untereinander haben sich manche vieles erzählt. Zum Beispiel gab es den Ausdruck „Gröfaz“ (größter Führer aller Zeiten). Gröfaz hört sich natürlich böse an. Hin und wieder gab es auch Versammlungen im Hause, dann wurde man unterwiesen. Ich sollte ein Melder sein, das heißt, wenn Alarm käme, müsste ich einen Hut aufsetzen, eine Meldertasche umhängen und laufen, wenn Feuer zu berichten wäre oder irgendetwas. Eines Tages sollte mein Vater auch mit zu einer Versammlung kommen und er hat gesagt: „Wir haben etwas anderes zu tun. Wir müssen für unsere Ernährung sorgen. Meine Frau kocht Sirup. Ihr mit euren blödsinnigen Versammlungen.“ Meine Mutter sagte: „Bist du still!“ Er war froh, dass sie uns nicht angezeigt haben, denn dafür hätte er weggeholt werden können, das war einfach ganz gefährlich.

Am 8. Mai 1945 kamen die Russen. Der Chef meines Vaters und noch ein Mitarbeiter aus der Firma kamen in unsere Wohnung dazu, weil wir uns alle zusammengetan hatten, wegen der Russen, wir hatten Angst. Sie hatten einen kleinen Jungen. Er war draußen rumgelaufen und kam wieder mit einer Handvoll Parteiabzeichen. Mein Vater ganz außer sich: „Wo hast du die her?“ „Die lagen alle auf der Straße, die habe ich gesammelt.“ Mein Vater sagte: „Mach dass du wegkommst, schmeiß die weg!“ Der nächste Tag, 9. Mai. Alle haben noch versucht, wenn sie Alkohol hatten, den auszutrinken, weil man wusste, dass die Russen sehr trinken. Am Tag dann waren die Russen da. Wir sind gar nicht rausgegangen. Sie haben mit einem Gewehrkolben an die Tür geschlagen. Die Männer hatten sich gerade zum Schlafen hingelegt und die Russen kamen rein und sahen überall Männer im Bett. Die Russen haben große Angst vor ansteckenden Krankheiten. Sie hatten Angst, dass wir irgendetwas haben und da sind sie schnell wieder gegangen. So ist uns gar nichts passiert. In dieser Zeit war es ganz furchtbar für die Frauen. Man hat die Frauen unter die Kohlen versteckt und was nicht alles mit ihnen angestellt, aber die Russen haben sie doch gefunden. Man hörte dann das Geschrei draußen, wenn wieder eine Frau erwischt worden war.

Als es sich ein bisschen beruhigt hatte, kam mein Bruder. Er war zuletzt in Berlin gewesen, beim Kampf um Berlin. Er kam in Frauenkleidern mit einer Mistgabel über der Schulter. So war er von Berlin bis ins Gebirge gelaufen. Es hat ihn keiner erwischt. Er wollte nicht von den Russen nach Sibirien verschleppt werden. Wir haben überlegt, was wir nun mit ihm tun sollen. Wenn sie ihn hier finden, ist er auch weg. Ich habe damals darüber gebetet und der Herr hat mir den Gedanken eingegeben, wir sollen ihn zum Zirkus schicken. Wir kannten die Chefin von dem Zirkus Busch, der in Bad-Warmbrünn stationiert war. Wir haben gefragt, ob sie ihn unterbringen könnten als Arbeiter im Zirkus. Sie hat zugesagt. Er hat von den Russen einen Ausweis bekommen, dass er ein Artist ist. Da war er auf Nummer sicher, dass ihm nichts mehr passiert. Er ist sogar bei den Russen in der Kommandantur ein- und ausgegangen und er hat für einen russischen Oberst das Pferd gepflegt. Vom Zirkus hat er manchmal Pferdefleisch gebracht, da haben wir ein bisschen zu essen gehabt.

Meine Mutter war krank und meinen Vater wollten wir nicht raus lassen. Also bin ich mich immer anstellen gegangen, um Essen zu holen. Wir alle haben weiße Armbänder bekommen, dass wir Deutsche sind. Wir durften vor neun oder vor acht Uhr nicht auf die Straße gehen, aber wir mussten uns doch schon früh anstellen. So bin ich immer gegangen. Ich hatte das Gefühl, dass ich eine Tarnkappe auf hatte, mich hat keiner erwischt. Ich bin einmal am Tag beim Bäcker gewesen. Hinter der Theke saß ein Russe mit der Bäckerin. Er verlangte, dass ich ihm meine Hand gebe und er hat mir einen Handkuss gegeben. Dann ist er zur Kasse gegangen, hat zwanzig Mark rausgenommen und hat sie mir gegeben. Danach ist er nach hinten gegangen. Die Bäckerin sagte zu mir: „Mädel lauf, lauf!“ Ich bin abgehauen. Ich weiß nicht, ob er etwas Böses vorhatte. Er wirkte sehr nett. Jedenfalls war es wieder eine Begegnung, die gut ausging.

Sonntags bin ich zur Kirche gegangen. Dort musste ich zeitig zum Singen da sein. Eines Tages stand da ein Pole, der alle Leute angehalten und den Ausweis verlangt hat. Er hat ihnen den Ausweis weggenommen und hat alle um sich herum versammelt. Ich bin immer ohne Ausweis herumgelaufen. Ich habe ihm gesagt, dass ich keinen Ausweis habe. Das alles fand ein Stück von der Kirche entfernt statt. Der Pole hat wieder eine Frau aufgegriffen und hat mit ihr rumgezankt. In der Zeit bin ich weggelaufen und bin in die Kirche rein gerannt. Die Polen haben eigentlich ziemlich schnell geschossen, wenn man ihnen weggelaufen ist. Aber auch das ist gut gegangen. Ich denke, dass der Herr mich unheimlich beschützt hat in dieser Zeit.

Wir haben im Kirchenchor Mozarts Requiem eingeübt und hatten eine Aufführung. Sie war so schön und wurde an einem anderen Tag wiederholt. Bei der zweiten Aufführung, während wir gesungen haben, waren zwei große Detonationen. Die Kirche hat gewackelt, aber wir haben uns eigentlich nicht darum gekümmert, wir waren so beschäftigt mit unserem Requiem. Als wir aus der Kirche rauskamen, gingen alle Leute in meine Richtung. Ich habe gedacht, dass das aber komisch ist, alle Leute laufen dahin, wo ich hin will. Wir kamen die Hauptstraße entlang und dann ging es um die Ecke und alle Leute liefen auch dahin. Ich bin seitwärts in eine kleine Nebenstraße gegangen und dann war ich bei unserem Haus. Inzwischen waren Polen in unserer Wohnung dazugekommen. Wir hatten nur noch ein Zimmer und die Polen hatten die Wohnung. Sie waren aber sehr nett zu uns. Als der Pole die Tür aufmachte und mich sah, sagte er: „Fräulein Christa, wo kommen sie denn her?“ „Ich kommen von der Kirche.“ Er sagte: „Das kann nicht sein, hier kann niemand herkommen. Alles ist abgesperrt.“ Deutsche Kinder haben mit polnischen Kindern in einem Garten im Gartenhäuschen gespielt, in dem Munition gelagert war und die ist losgegangen. Das waren die Detonationen, die wir gehört haben. Die Kinder waren tot. Sie haben alle Deutschen dorthin gejagt, haben die Lattenzäune rausgerissen und haben sie mit den Nägeln an den Latten auf den Kopf geschlagen. Als wir wieder Kirchenchor hatten, sahen unsere Sänger schlimm aus. Nur ich bin gut nach Hause gekommen. Es war wieder so als hätte ich eine Tarnkappe aufgehabt. Es hat niemand bemerkt, dass ich zur Seite weggegangen bin in unsere Wohnung. Ich hatte einen unwahrscheinlichen Schutz in dieser Zeit.

Die Polen waren sehr nett zu uns. Eines Tages war mein Vater auf den schwarzen Markt gegangen und hat von unseren Sachen etwas verkauft, weil wir Geld zum Leben brauchten. Diese Leute, denen er etwas verkauft hatte, hatten sich seine Adresse geben lassen. Gegen Nachmittag kamen sie zu uns in die Wohnung. Ich lag krank im Bett. Meine Eltern wurden in die Küche geschickt und sie haben alles ausgeräumt, die Kleidung, alles. Wir hatten eine Tasche, in der unsere Genealogie drin war. Die haben sie genommen. Meine Silberlöffel und alles haben sie da rein geschüttet. Als meine Eltern wieder zu mir kommen durften und die Männer weg waren, habe ich gesagt: „Sie haben unsere Ahnen gestohlen.“ Meine Mutter sagte: „Sie sollen die Ahnen mitnehmen, das ist das wenigste. Aber wir haben nichts mehr für deinen Vater zum Anziehen.“ Mein Vater war gerade im Keller und hatte eine ganz alte zerlumpte Hose an. Und er hatte nun nichts mehr zum Anziehen.

Die Leute, bei denen wir gewohnt haben, das war Herr Woytanowitch, sind nach Nimptsch in Niederschlesien gefahren und haben dort Sachen geholt, die meine Eltern ausgelagert hatten. So hatte mein Vater wieder Sachen zum Anziehen. Sie waren wirklich sehr nett und hilfreich. Für die habe ich auch manchmal ein bisschen gestrickt, wenn sie Sachen brauchten.

Mein Vater und mein Bruder sind einmal unterwegs gewesen. Da hat man ihnen auf der Straße alle Sachen ausgezogen, Jackett und alles was er hatte. Er kam dann nur noch in Hemd und Hose zu Hause an. Das war in dieser Zeit so. Eines Tages kamen die beiden gar nicht wieder. Es kam eine Frau, die ganz scheu einen Zettel hingehalten hat und hat etwas gemurmelt von Vater und Sohn, dann ist sie weggerannt. Mein Vater und mein Bruder waren von den Polen aufgegriffen worden. Sie kamen in ein Kellerloch, in dem sie alle Deutschen eingesperrt hatten. Da wussten wir wenigstens, wo sie waren, dass sie nicht tot sind. Wir sind dann immer an diesem Keller vorbeigegangen und ich habe das Brot dort reingeworfen, damit sie etwas zu essen hatten. Nach einer Weile kamen sie aber wieder.

An einem Tag wurden sie alle zusammengetrieben. Mein Vater wurde mitgenommen und sie machten einen Adolf Hitler Gedächtnismarsch. Man hat sie irgendwohin marschieren lassen. Wir dachten, dass der Vater jetzt weg sei, jetzt käme er auch nach Stalingrad oder sonst wohin. Aber nach vierzehn Tagen war er wieder da. Er war ziemlich ausgehungert und sah elend aus, aber er war wieder da. Man wusste nie, was am nächsten Tag passierte. Es war ziemlich gefährlich.

Eines Tages kam ein Mensch von der Universität aus Breslau. Er hatte so eine strahlende Substanz, die sie für die Geräte zum Bestrahlen der Leute hatten. Das hat er bei uns in die Toilette oben reingelegt, weil das heiß wird und hat das so sichergestellt. Später ist er weitergereist. Von der Strahlung aus war nichts passiert.

Mein Bruder hat sich aufgemacht und ist nach Görlitz gegangen. Er ist dort durch die Neiße geschwommen, um zu seiner Frau zu kommen. Sie war in Coburg in Bayern. Wir sind aber dort geblieben.

Der Kantor, der den Kirchenchor geleitet hatte, seine Familie, ein junger Mann, meine Eltern und ich sind zusammen nach Lauban gefahren und wollten in den Westen. Die Deutschen wurden inzwischen alle ausgewiesen. Wir haben gesagt, dass wir nicht länger bleiben, wir gehen freiwillig. Unsere Wohnung in Breslau war sowieso zerstört, wir hatten nichts mehr. Wir saßen dann am Bahnhof in Lauban und wussten nicht genau, wo wir hingehen sollten. Mein Vater hatte Angst, dass unser letztes Geld wegkommt und hat es den Arbeitern, die an den Gleisen gearbeitet haben, gegeben. Dann kamen die Polen und haben uns alle mitgenommen in das ehemalige braune Haus. Da mussten wir unsere Koffer und unseren Rucksack auspacken. Wir hatten wenig Gepäck, hatten aber alles eng gepackt, damit wir so viel wie möglich mitnehmen konnten. Ich hatte dreifache Kleidung an. Sie haben alles rausgerissen und gesagt: „In fünf Minuten alles wieder drin. Was nicht drin ist, gehört uns.“ Wir haben draufgetreten und alles zusammen gestampft, damit viel rein passte. Sie haben immer mit den Maschinenpistolen rumgefuchtelt und haben die Männer geschlagen. Uns haben sie mit den Maschinenpistolen auf den Po geschlagen. Endlich konnten wir gehen.

Es gab einen Stift von katholischen Schwestern. Wir Deutschen haben uns gesagt, dass wir da hingehen sollten, dort haben wir auf der Erde schlafen können. Nun war aber unser Geld weg. Der Arbeiter, dem mein Vater das Geld gegeben hatte, war nicht mehr da. Er hatte Feierabend. Mein Vater hat eine Frau dort gefunden, die wusste, wo diese Männer wohnten. Er hat sie gebeten, dass sie mit mir dorthin gehe. Aber inzwischen war auch schon wieder Sperrstunde. Eigentlich durften wir gar nicht draußen sein. Wir sind aber dahin gerannt und sind auf den Bahngleisen gelaufen. Wir haben die Leute gefunden und ich habe das Geld gebracht. Die Frau hat einen Teil des Geldes bekommen, dafür, dass sie mich geführt hatte. Niemand hat uns erwischt. Aber ich weiß noch, dass ich auf den Fußboden gefallen war und keinen Ton mehr von mir gegeben habe, weil ich so erschöpft war. Ich war fix und fertig.

Am nächsten Morgen haben wir es geschafft, in einen Zug zu kommen, mit dem die Ausgewiesenen raus geschafft wurden. Das waren Viehwagen mit Stroh drin. Das fanden wir ganz gemütlich, wir konnten uns wenigstens ausstrecken. Wir hatten meistens den Waggon offen und haben die Beine raushängen lassen und haben rausgeschaut. Dann kamen wir an die Grenze zum amerikanischen Sektor und da hielt der Zug. Die Wagen fuhren ein Stück vor, in den amerikanischen Sektor. Dann wurden sie wieder zurückgeschoben. Sie haben abgezählt, welche bei den Russen bleiben und welche zu den Amerikanern kommen. Wir haben gebibbert. Wir wollten nicht bei den Russen bleiben. Endlich kam unser Waggon doch noch rüber in die amerikanische Zone. Dort wurden wir ausgeladen und wir haben uns gefreut. Wir dachten, dass jetzt alles gut sei. Aber da standen so ganz lange GIs und haben uns nach Geld gefragt. Wir mussten unser Geld zeigen und durften zweihundert Mark behalten. Alles andere haben sie uns weggenommen. Mein Vater hatte unser Geld versteckt. Vor mir stand eine kleine alte Frau und ihr haben sie alles Geld weggenommen. Diese alte Frau konnte doch gar nichts mehr verdienen. Wir wurden dann in eine Halle geführt und wurden ganz ausgezogen. Man hat nachgesehen, ob wir noch Schmuck oder irgendetwas an uns hätten. Das haben sie uns weggenommen und das haben die Polen bekommen. Nachdem sie gesehen haben, dass nichts mehr da ist, konnten wir uns wieder anziehen. Dann wurden wir entlaust, indem wir mit Pulver eingesprüht wurden, obwohl wir gar keine Läuse hatten. Ich weiß noch, dass mein Vater seinen Hut hochgehoben hat und sie ihm auf die Glatze gesprüht haben. Der junge Mann, der mit uns war, hatte seine Uhr in seinen After gesteckt, damit er sie behält. Danach hat er sie wieder rausgezogen. Es war schon schlimm, dass wir nicht einmal das behalten durften, was unser Eigentum war. Alles, was von hier kam, gehörte den Polen und wurde ihnen zurückgegeben.

Endlich kamen wir in einen Zug mit richtigen Sitzen. Wir sind nach Calveslage in Oldenburg gekommen. In Langförden wurden wir ausgeladen. Das Land Oldenburg gehörte zur englischen Zone. Wir bekamen Brote und etwas zu trinken. So etwas hatten wir lange nicht mehr gegessen, Brot mit viel Schinken drauf. Dann wurden wir aufgereiht und standen da wie auf dem Viehmarkt, und die Bauern haben ausgesucht, wen sie zum Arbeiten haben wollen. Wir haben gedacht, jetzt sind wir da und es geht uns gut. Aber uns wollte keiner haben. Mein Vater war ein Büromensch und kennt nichts von Landwirtschaft, meine Mutter war krank und ich war ein junges Mädchen. Wir standen noch als Letzte, alle anderen waren schon vergeben. Der größte Bauer am Ort, der eine Geflügelfarm hatte, musste uns nehmen. Er hatte einen Raum, in dem Fässer mit Petroleum gelagert waren. Die hat er rausgenommen und hat zwei Pritschen reingestellt. Auf der einen hat mein Vater geschlafen und auf der anderen meine Mutter und ich. Das war ein ganz feuchter Raum und am nächsten Morgen hatte ich keine Stimme mehr. Andere, die dort ein kleines Zimmer auf dem Getreideboden hatten, sind weggezogen. Dort gab es einen Schrank, zwei Betten und Wasser und dort haben wir dann gewohnt. In Lohne bin ich zur Schule gegangen, in die Handelsschule und habe den Abschluss gemacht und eine Lehre habe ich gemacht. Dann habe ich meinen Mann kennengelernt und geheiratet. Wir sind dann wieder normale Menschen geworden.

Solange Krieg war, gab es auch noch Lebensmittel. Aber ab dem 8. Mai war das schlagartig anders. Wir lebten jetzt in einer fremden Wohnung und alle die Vorräte, die meine Mutti sorgfältig gehütet hatte, waren in Breslau geblieben. Die Kartoffeln, die im Keller der Wohnung in der wir zurzeit lebten, waren aufgebraucht. Wir hatten wirklich alle Kartoffeln verwertet, auch wenn sie noch so ausgekeimt und verschrumpelt waren. An einem Freitag, früh morgens, erklärte uns meine Mutter, dass wir nun wirklich nichts mehr zu essen hätten.

Trotzdem ging ich wie gewohnt daran, unsere Zimmer aufzuräumen. In meinem Zimmer stand ein weißer Kleiderschrank. Mit dem gut ausgewrungenen Wischlappen säuberte ich den Boden unter dem Schrank. Da stutzte ich. Was war das? Da fühlte ich doch etwas Hartes am Rande der Tapete. Ich schaute unter den Schrank und sah den Rand eines Topfdeckels unter der Tapete hervorlugen. Aufgeregt holte ich meine Eltern herbei und berichtete Ihnen von meiner Entdeckung Mein Vater sagte: „Unsinn, wie soll ein Topfdeckel hinter die Tapete kommen? Ich hatte aber inzwischen schon weiter an dem Rand gezogen und siehe da, ich hatte wirklich einen Deckel in der Hand. Jetzt waren meine Eltern auch gespannt.” Das ist ja eigenartig, sagte Mutti“ „Wir werden den Schrank abrücken“ ordnete mein Vater an. Vorsichtig schoben wir den Schrank beiseite und mein Vater tastete die Tapete an dieser Stelle ab. Er erklärte uns, dass hier ein Türrahmen zu tapeziert worden ist. Wir schauten und das Schlafzimmer auf der anderen Seite dieser Stelle an und richtig, da war eine Tür. Diese Tür hatten wir bislang nicht bemerkt, weil ebenfalls ein Schrank davor stand. Nun entschlossen sich meine Eltern, die Tapete auf meiner Seite auf zu schneiden.

Der Anblick, der sich uns bot, war für uns als hätten wir das Schlaraffenland entdeckt. In die Türfüllung war ein Regal eingearbeitet worden. Auf den Brettern des Regals standen Einkochgläser mit Gemüse und Obst, ein Sack Mehl, ein Sack Zucker und noch einige andere Lebensmittel. Auch einige Kleidungsstücke waren da.

Ich hatte mir eigentlich gar keine Sorgen gemacht, weil wir keine Lebensmittel mehr hatten. Nun bestätigte es sich, dass wir uns keine Sorgen machen mussten. Als wir nichts mehr hatten, ließ mich der Herr diesen kleinen Vorrat finden. Wir kannten damals die Kirche noch nicht, aber wir kannten den Herrn. Wir kannten auch den Abschnitt 38 in LuB Vers 29-30 noch nicht der sagt, dass große Kriege kommen werden aber wenn ihr bereit seid, werdet ihr euch nicht fürchten. Meine Mutter hatte ihren Teil getan. Sie hatte einen Vorrat angelegt, den wir verlassen mussten. Aber der Herr hat für uns gesorgt. Seine Gesetze sind gültig, auch wenn man sie gar nicht kennt.

Das war ganz kurios. Da war die Währungsreform und das ganze Geld wurde umgewertet. Mein Vater hat angefangen, wieder ein Geschäft aufzubauen. Er hat seine alten Fabrikanten angeschrieben. Meine Mutter sollte mit etwas Ware zu einem Kunden fahren. Sie war ewig weg und kam gar nicht mehr wieder. Mein Vater hat mich nach Vechta mit dem Fahrrad geschickt, um auf dem Bahnhof nachzusehen, ob sie vielleicht da sitzt. Dort am Bahnhof habe ich nachgefragt. Mein Mann hat überall rumgefragt, dass eine alte Frau von fünfzig Jahren verloren gegangen sei, ob jemand etwas wisse. Er war bei der Bahnpolizei beschäftigt. Das war die erste Begegnung mit ihm. Er hat mir gefallen. Mich hat er nicht besonders wahrgenommen. Es gab eine Einrichtung, die sich Volksbildungswerk nannte. Dort haben sie Theaterfahrten organisiert. Ich habe mich angemeldet und bin dort hingegangen. Da saß er am Schreibtisch. Ich habe mich dort hingesetzt und habe meine Tasche vor lauter Verlegenheit genau vor seinen Schrank, den er brauchte, hingestellt. Ich sagte, dass ich hingehen wollte, es wurde „Wiener Blut“ gespielt. Er hat das alles aufgenommen. Dann ist er an einem Tag zu uns ins Büro gekommen und hat mir die Theaterkarten gebracht, für mich und meine Freundin. Die Fahrt war mit dem Autobus nach Oldenburg zum Theater. Er war auch da. Im Theater hatte er sich die Karte genommen, die eigentlich neben mir sein sollte. Er hat aber auf dem Plan nicht gesehen, dass ein Gang dazwischen ist und da saß er auf der anderen Seite vom Gang. In der Pause sind wir aber miteinander rumspaziert. Ich wollte dann einmal ins Kino gehen und da stand er in einer Schlange angestellt und er hat mir angeboten, die Kinokarte mitzubringen, damit ich mich nicht anzustellen brauchte. Da saßen wir im Kino endlich einmal nebeneinander und nicht mehr getrennt. So hat sie Sache angefangen.

Er hat mich gefragt: „Was für eine Religion haben sie?“ Ich habe gesagt, dass ich evangelisch bin und ihn das eigentlich auch fragen wollte. Er sagte: „Ich bin auch evangelisch, dann hat es einen Zweck, dann können wir uns weiter treffen.“ In Vechta waren fast alle Leute katholisch und das war sehr schwierig, wenn evangelische und katholische Leute zusammenkamen.

Wir haben am 3. Januar 1953 geheiratet. Wir wussten nicht, dass in Sachen Rhesusfaktor er positiv und ich negativ bin. Unser erstes Kind ist zu früh gekommen und gleich gestorben. Unsere anderen Kinder sind alle gesund zur Welt gekommen. Beim vierten Kind, unserer Jüngsten, hat der Arzt das mit dem Rhesusfaktor festgestellt und gesagt: „Das gibt es doch gar nicht, ist da etwas gemacht worden?“ Ich sagte: „Nein, gar nichts ist gemacht worden.“ Er fragte: „Wieso sind die Kinder alle gesund?“ Ich sagte ihm, dass ich das auch nicht wisse. Wir haben drei gesunde Kinder bekommen, obwohl normalerweise alle gestorben wären. Ich denke, dass der Herr seine Hand im Spiel hatte. Das war für uns eine ganz besondere Sache.

In Osnabrück kamen die Missionare zu uns. Einen Tag davor kamen Vertreter, die mir irgendwelche Bücher angedreht haben. Mein Mann hat zu mir gesagt: „Du machst die Tür nie wieder auf, dass du das weist. Lass keine Leute in die Wohnung herein.“ Er hat diesen Kauf rückgängig gemacht. Dann kamen die Missionare. Die wollte ich aber doch sprechen und ich habe sie herein gelassen, habe aber die Tür offen gelassen. Sie haben mir von Joseph Smith erzählt und dass sie einen lebenden Propheten hätten. Ich habe ihnen gesagt, dass ich mich als Kinde immer gefragt habe, warum Gott so ist, dass er uns nicht liebt, dass er uns keinen Propheten gibt. Ich habe gerne die Geschichten von Jakob und Josef und von dem Segen, den sie bekommen haben, gelesen. Ich wollte auch gerne so einen Segen haben. Ich sagte den Missionaren, dass ich glaube, was sie mir erzählten. Sie sagten aber, dass sie meinen Mann auch sprechen möchten. Aber mein Mann arbeitete in Bremen, er war nicht immer da. Die Missionare haben dafür gefastet, dass sie ihn einmal sprechen können. An einem Tag ist er früh zur Arbeit gefahren und es war Nebel. Vor ihm war ein Unfall passiert und er hat sein Auto gerade noch anhalten können. Aber es kam einer hinter ihm, der ihn in die anderen Wagen reingeschoben hat. Sein Knie war leicht angeschlagen und man hat ihn nach Hause geschickt, dass er sich auskuriere und dass er keinen bleibenden Schaden habe. Da hatten die Missionare die Gelegenheit, ihn zu sprechen. Ich denke, dass das keine Zufälle sind, sondern dass der Herr schon ein bisschen mitgewirkt hat. Die ersten Missionare waren übrigens plötzlich weg, der eine war mit seiner Mission fertig und der andere wurde nach Hause, nach Karlsruhe geschickt, weil er krank war. Dann kam keiner mehr. Ich bin hingegangen, habe dem Missionar, der heute noch unser Freund ist, gefragt: „Warum kommt keiner mehr zu uns?“ Er hat mich angesehen, als ob er einen Weltuntergang sieht. Dann hat er sich die Adresse aufgeschrieben und hat uns belehrt. Das ist Bruder Stohrer aus Waiblingen, der heute noch zu uns kommt. 1960 sind wir getauft worden.

Mein Mann heißt Harald Kleiner. Unsere Tochter, die erst vier Jahre alt war, hat die Missionare heiß und innig geliebt. Sie war jetzt zu Besuch zu meinem Geburtstag da und Bruder Stohrer ist extra gekommen, damit er sie sehen kann. Wir haben eine ganz enge Verbindung, seit wir getauft wurden. Der Herr hat uns drei gesunde Kinder gegeben.

Ich liebe den Herrn sehr. Er hat mich und meine Familie immer geführt. Ich weiß, dass die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage seine Kirche ist. Ich bin vom ganzen Herzen dankbar, dass uns der Herr seine Missionare geschickt hat.