Düsseldorf, Rheinland-Westfalen
Mein Name ist Manfred Magnus Knabe. An einem Sonntag, es war der 3. August 1930, erblickte ich in Düsseldorf das Licht der Welt. Man sagt, dass Sonntagskinder im Leben viel Glück haben. Mein Vater, Gustav Theodor Magnus Knabe, war mehr oder weniger katholisch. Meine Mutter, Anna Katharina Keller, war dagegen strenggläubige Protestantin – bis zum Jahre 1924. Da konvertierte sie zur Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen).
Meine Eltern waren einfache, jedoch rechtschaffene Leute. Vater war gelernter Schlosser und arbeitslos. Er verdiente unseren Lebensunterhalt mit dem ambulanten Verkauf von Butter, Margarine, Eier, Kaffee, Tee etc. und als Platzanweiser in einem Kino. Meine Mutter arbeitete bis zu meiner Geburt in einer Buchbinderei.
Wir bezogen eine Wohnung in der Behrensstraße. Vater und Opa tapezierten und bestrichen den Fußboden und die Fußleisten mit Leinöl. Die Farbtöpfe stellten sie vorerst in einer Ecke neben dem Kleiderschrank ab. Meine Mutter stellte vorsichtshalber eine Wanne mit einem Berg frisch gewaschener Wäsche davor, damit ich nicht daran konnte. Das war wohl ein Fehler. Irgendwie schaffte ich es doch über die Wanne zu klettern und an den Pinsel und Leinöl zu kommen. So, wie ich es von Opa gesehen hatte, fing ich an zu streichen – und zwar den schönen neuen Kleiderschrank. Zwar kann ich mich nicht daran erinnern, doch Mutter hat mir das mehrmals erzählt. Die Spuren am Kleiderschrank habe ich jedoch noch in guter Erinnerung.
Der erste aufregende Tag, an den ich mich erinnern kann, war der 3.März 1933. Meine Mutter hatte mich zum Mittagsschlaf ins Schlafzimmer gelegt. Unten auf der Straße marschierte ein Trupp SA-Leute. Aus der anderen Richtung kam eine Gruppe der Rotfront. Plötzlich begann eine wilde Schießerei, bei der der SA-Mann Julius Hofmann direkt vor unserem Haus erschossen wurde. Später hörte man hinter vorgehaltener Hand, dass es die SA selbst war, die sich bei dieser Gelegenheit eines unbequemen Mannes entledigt hat. Bei der ganzen Schießerei flog eine Kugel durch das Fenster über meinen Kopf hinweg und weiter durch die Schlafzimmertür bis in die Küchentür, wo sie dann stecken geblieben ist. Ich habe dabei einen derartig schweren Schock erlitten, der dazu führte, dass ich von der Stunde, anstotterte. Bis dahin hatte ich schon gut sprechen können. Erst in meiner Pubertät verlor sich das Stottern. Wirklich großes Glück gehabt, dass sich das einfach so verlor!
Ich sollte noch erwähnen, dass unsere Straße nach dem Tod des SA-Mannes umbenannt wurde. Die Behrensstraße hieß nun Julius Hofmann Straße. An jedem 3. März und auch jeden 9. November wurde vor unserem Hause ein Ehrenmal errichtet und zwei SA-Männer standen als Ehrenwache davor. Bei Dunkelheit sogar mit Fackeln. Jeder, der da vorbeikam, musste den Arm zum Hitlergruß heben. Wir Jungs haben uns daraus einen Spaß gemacht und sind jede Menge da vorbei gelaufen.
Mein Vater war sehr an Musik interessiert. Er nahm Gesangunterricht und besaß eine Reihe von Schallplatten, überwiegend mit Musik aus Opern und Operetten. Ich war davon so fasziniert, dass ich vor dem Grammofon gestanden habe und mit Begeisterung dirigierte. Auch habe ich die Arien und Lieder mitgesungen. Es war offensichtlich, dass ich irgendwie musikalisch begabt war. Wir hatten auch eine Ziehharmonika. Mit sechs Jahren spielte ich darauf bereits so gut, dass ich zur Weihnachtsfeier in der Sonntagsschule einen Reigen begleitet habe. Um überhaupt spielen zu können, hat man mir eine Fußbank unter die Füße gestellt. Ich konnte ebenfalls Blockflöte, Mundharmonika und auch Akkordzither spielen. Für eine musikalische Ausbildung hatten meine Eltern allerdings kein Geld. Das ist leider in meinem ganzen Leben so geblieben. Meine Oma hatte ein Harmonium, auf dem ich dann nach Gehör, zunächst mit einem Finger, die Lieder spielte, welche ich in der Sonntagsschule gelernt hatte. Und die spielte ich mit einer Inbrunst! Das tue ich auch noch heute.
Im Jahre 1935 fand in Düsseldorf in der Aula einer Schule eine Distriktskonferenz unserer Kirche unter dem Vorsitz des Missionspräsidenten Kelly statt, an die ich mich noch sehr gut erinnern kann. Meine Mutter schickte mich am Schluss dieser Versammlung zu dem Missionspräsidenten hin. Ich sollte ihm sagen, dass wir für die Düsseldorfer Geschwister doch eigene Versammlungsräume brauchten. Wir haben uns nämlich immer reihum zum Gottesdienst in den Wohnungen der Mitglieder versammelt. Die Missionare leiteten die jeweiligen Versammlungen. So versammelten wir uns unter anderem auch bei uns in der Wohnküche. Da wir zu der Zeit noch kein elektrisches Licht hatten, mussten wir die Versammlungen beim Schein einer Petroleumlampe abhalten. Damit alle Geschwister sitzen konnten, haben wir ein Bügelbrett zwischen die Stühle gelegt und auch das noch von der Nachbarin. Das war nicht gerade schön. Deshalb war der Wunsch nach geeigneten Räumen gut zu verstehen. Meine Mission in dieser Angelegenheit war tatsächlich erfolgreich. Wenige Wochen später hatte die Kirche richtig schöne Räumlichkeiten für uns gefunden. Nicht weit vom Hauptbahnhof, in der Worringerstraße 112. Drei große Räume inklusiv Toilette und natürlich mit elektrischem Licht. Das war eine Freude für uns alle. Für die Musik gab es ein Harmonium. Jetzt waren für uns die Versammlungen doppelt so schön. Beim Pfingstangriff der Engländer auf Düsseldorf 1943 wurde das Haus leider total zerstört. Nun versammelten sich die Mitglieder wieder in den Wohnungen der einzelnen Familien.
Im April 1937 wurde ich eingeschult. Damals gab es noch die konfessionelle Schule. Ich kam in eine evangelische. Lehrer Thiel war ein sehr guter Lehrer, den wir alle liebten. Dementsprechend lernten wir gut. Zwei Jahre später wurden die konfessionellen Schulen abgeschafft und ich musste in eine bis dahin katholische Schule gehen, weil der Schulweg etwa 100 Meter kürzer war. Lehrer Irmen war so ganz anders. Er bevorzugte die katholischen Schüler. Ich hatte als Mormonenkind besonders darunter zu leiden. Ich habe bei ihm Ohrfeigen und Kopfnüsse bekommen! Auch den Rohrstock habe ich öfters zu spüren bekommen. Ich habe ihn dann später PePe genannt. (Das bedeutet: Prügelpädagoge.) Da ich verständlicherweise vor dem Lehrer Angst hatte, waren auch meine Leistungen schlecht. Ich war froh, dass ich wenigstens versetzt wurde. Nach dem 4. Schuljahr war an eine weiterführende Schule für mich nicht zu denken. Für Musik und Religion hatten wir jedoch einen anderen Lehrer, Herrn Suter. Er war in einer großen evangelischen. Kirche Organist und wir hatten ihn all gerne. Ihn bekam ich im 5. Schuljahr als Klassenlehrer. Nach einem Vierteljahr bestellte er meine Mutter zu sich und fragte sie: „Warum ist Manfred nicht auf eine höhere Schule gekommen?“ Meine Mutter wies ihn auf mein letztes Zeugnis hin. Lehrer Suter sagte dann, dass ich mindestens zur Mittelschule gehen sollte. So kam ich auf die Knaben-Mittelschule in der Luisenstraße.
Auf der Frühjahrskonferenz des Ruhrdistriktes am 19. März 1939 wurden mein Vater und ich im Essener Gemeindehaus, welches ein Taufbecken besaß, getauft. Mein Vater war auch zu unserer Kirche konvertiert. Die Taufe erfolgte durch Untertauchen als Symbol für die Grablegung des „alten“ Menschen und die Auferstehung des „neuen“ Menschen, gemäß dem Beispiel Christi. Dabei werden auch die Sünden abgewaschen und der Täufling in die Gemeinschaft der Heiligen aufgenommen.
Am 1. September 1939 hatte der Zweite Weltkrieg begonnen. Die Bevölkerung wurde zur entsprechenden Verhaltensweise angewiesen. Es gab Lebensmittelkarten, da ab sofort alles rationiert war. Schon vor Kriegsbeginn gab es in der Versorgung Engpässe. Dann gab es die Verdunkelung. Alle Fenster mussten dunkle Rollos haben, damit ja kein Lichtschein nach außen drang. Das wurde streng kontrolliert und bei Nichtbeachtung streng geahndet. In jedem Haus gab es jetzt einen Luftschutzwart. Bei uns war es meine Mutter. Sie hatte dafür zu sorgen, dass auf den Fluren Eimer mit Sand und Wasser standen. Auch musste bei den Wassereimern eine Feuerpatsche stehen. Das waren Besenstiele mit einem Stück altem Sack. Damit sollten dann etwaige kleine Brände gelöscht werden. Im Keller eines jeden Hauses wurden Luftschutzkeller eingerichtet. Mit einem dicken Baumstamm wurde die Kellerdecke abgestützt. Auch wurden einige Etagenbetten aufgestellt. Zum Nachbarhaus wurde ein 1 qm großer Durchbruch geschlagen und dann wieder leicht zugemauert, sodass im Ernstfall mit einem Fußtritt ein Notausstieg vorhanden war. Das hat sicherlich vielen Menschen während des Bombenkrieges das Leben gerettet. Es gab oft Fliegeralarm, besonders des Nachts. Wenn dann die Sirenen heulten, gingen alle Hausbewohner in den Keller. Das war oft 3-4 Mal in einer Nacht. Wir hörten dann die Flak (Fliegerabwehrkanone) schießen und waren dann froh, wenn keine Bomben gefallen sind.
Die ersten Bomben fielen auf ein Alten- und Kinderheim, welches mit einem riesengroßen roten Kreuz gekennzeichnet war. Das war Wasser auf der Mühle der Nazipropaganda. Die Engländer wurden ja als Frauen- und Kindermörder bezeichnet. Wenn ein Soldat bei uns auf Heimaturlaub war und dann auch in den Luftschutzkeller musste, hörten wir, dass er dann sagte: „Das ist ja schlimmer als an der Front!“ Düsseldorf hat während des Krieges sieben Großangriffe erlebt. Da sind dann ganze Stadtteile zerstört worden. Ansonsten sind mindestens einmal in der Woche einzelne Bomben gefallen. Wir haben dann um unser Leben gezittert und waren glücklich, wenn wir wieder ins Bett konnten.
Als ich zehn Jahre alt wurde, musste ich zum Jungvolk (Pimpfen). Jeden Samstagnachmittag um 15.00 Uhr war „antreten“. Wir lernten dort marschieren, Lieder singen, Sport, Geländekunde etc. Wir wurden dann selbstverständlich auch im nationalsozialistischen Sinne belehrt. Wenn wir eben konnten, haben wir uns davor gedrückt. Die Zukunft hat uns ja gezeigt, dass das überwiegend Irrlehren waren.
Wegen der vielen Fliegerangriffe ist der Schulunterricht oft ausgefallen. Deshalb hatte die Regierung die Kinderlandverschickung (KLV) organisiert. Im Januar 1943 wurde unsere Schulklasse ins Erzgebirge evakuiert. Wir fuhren mit 36 Jungen nach Dönschten Kreis Dippoldiswalde. Im Schullandheim des Dresdener Wettiner Gymnasiums wurden wir einquartiert. Es war ein wunderschönes Heim mit einem großen Schulgarten und einem eigenen Sportplatz. Die Lagerleitung bestand aus unserem Lehrer, Herrn Schöneberger und einem Lagermannschaftsführer. Letzterer war für den Sport und den Hitlerjugenddienst zuständig. Herr Schöneberger, der von uns respektlos „Mückebär“ genannt wurde, erteilte uns in allen Fächern Schulunterricht. Sein Lieblingsfach war jedoch Englisch. Was haben wir bei ihm die unregelmäßigen Verben pauken müssen! Wenn ein Junge eine Strafarbeit aufgebrummt bekam, musste er einen Satz in Englisch schreiben und zwar durchkonjugiert, das heißt alle Personen, alle 6 Zeiten, dann das Ganze verneinen, dann in Frage stellen und die Frage verneinen. Natürlich gehörte auch die Übersetzung dazu. Diesen Strafarbeiten verdanke ich dann allerdings auch meine Sicherheit in der englischen Grammatik.
Am 1. November durften wir wieder nach Hause fahren. Meine Mutter war nach Dönschten gekommen, um mich abzuholen. In Düsseldorf – wir sind dort gegen 18.00 Uhr angekommen – haben wir erst einmal in Flingern Oma und Opa besucht. Gegen 19.00 Uhr gab es meistens Fliegeralarm. So haben wir erst einmal mein Gepäck bei Oma gelassen und sind mit der Straßenbahn Richtung Rath gefahren. Und richtig! Wir waren kaum in der Bahn, als auch schon die Sirenen ertönten. Der Fahrer sagte, dass er noch bis Mörsenbroich fahren würde. Dort sind wir dann in den Luftschutzbunker gegangen. Kaum hatten sich die Stahltüren hinter uns geschlossen, als auch schon die ersten Bomben fielen. Es war einer der sieben Großangriffe auf Düsseldorf. Meine Mutter sagte dann, dass ich doch lieber wieder ins KLV-Lager fahren sollte. Dabei waren wir noch nicht einmal zu Hause angekommen. Das tat weh! Wir mussten die letzten zwei Kilometer zu Fuß gehen, vorbei an brennenden Häusern, die Straßenbahn fuhr auch nicht mehr. Auf halbem Wege überholte uns mein Vater, der gerade von der Arbeit kam. Wir waren glücklich, den Bombenangriff überlebt zu haben. Als wir zu Hause in Rath ankamen, sahen wir mit Erleichterung, dass unser Haus noch stand. Allerdings wurde das Haus von Oma und Opa zerstört. Onkel Richard hat aber noch mein Gepäck retten können.
Am 29. Januar 1944 ging es wieder zurück ins Erzgebirge. Diesesmal nach Seifen, dem berühmten Spielzeugdorf. Mit 24 Jungen wurden wir in einem älteren Gasthof einquartiert. Auch hier war alles wunderschön. Wir erlebten dort einen Winter mit viel Schnee. Natürlich sind wir dort Ski gefahren, sogar bei den Geländespielen. Der Schnee lag bis in den Mai, als bereits der Kuckuck zu hören war. Eine schöne Erfahrung war das. In Seifen bekamen wir Pateneltern. Die Patenmutter stopfte unsere Strümpfe und hielt unsere Wäsche in Ordnung. Ich durfte dafür in deren Holzschnitzerwerkstatt mithelfen, was mir sehr viel Spaß gemacht hat.
Im November wurden wir nach Holzbau in die Fischerbaude umquartiert. Das war ein großes Landhotel, eingebettet in der wunderschönen Landschaft des Erzgebirges, hoch auf dem Kamm, direkt an der böhmischen Grenze. Für uns 90 Jungen hatten wir vier Lehrer. Das war deshalb notwendig, weil wir vier verschiedene Jahrgänge in unserem Lager hatten. In meiner Klasse bekamen wir als Wahlfach: Französisch. Das passte mir überhaupt nicht. Deshalb bat ich unseren Lehrer, Herrn Schniewind, mich vom französischen Unterricht zu befreien. Auf seine Frage: „Warum“? Antwortete ich kess: „Ich möchte die Sprache unseres Erzfeindes nicht lernen und auch nicht sprechen?“ Er sah mich verwundert an und mir war auf einmal bewusst, dass man sehr schnell als Drückeberger betrachtet wurde. Ich bat ihn deshalb, mir zusätzliche englische Lektionen zu geben. Nun wollte er wissen warum. Ich sagte ihm, dass, wenn der Krieg vorbei und wieder normale Zeiten wären, ich nach Amerika auswandern wollte. Er wusste ja, dass ich Mormone war. Hatte er mir doch auch erlaubt am Sonntag zur Kirche ins Nachbardorf zu gehen. Ja, es gab in Rechenberg-Bienenmühle eine Sonntagsschule unserer Kirche. Meine Mutter hatte mir das mitgeteilt. Ich war richtig glücklich. Mit meinem Gesangbuch erschien ich dann bei Bruder Fischer, dem Sonntagsschulleiter. Es gab bei ihm auch ein Harmonium. Es konnte jedoch niemand darauf spielen. So begleitete ich, so gut ich konnte, mit zwei Fingern in C bzw. Fis-Dur -nach Gehör -den Gemeindegesang. Das war der Auftakt meiner Organistenlaufbahn.
Im Februar sahen wir abends jede Menge angloamerikanische Bomber Richtung Norden fliegen. Von unserer Flugabwehr war nichts zu sehen oder zu hören. Wir sahen dann in der Ferne einen riesigen Feuerschein. Es war der große Angriff auf Dresden. Es gab etwa 20.000 Tote an diesem Abend. Um Seuchen vorzubeugen, wurden die Leichen mit Flammenwerfern verbrannt. Der Krieg neigte sich allmählich dem Ende zu. Wir wurden angewiesen alle Dinge mit NS-Emblemen und Führerbildern im Wald, zu vergraben.
Am 8. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht. Was haben wir uns gefreut, dass dieser schreckliche Krieg endlich zu Ende war! So viel Leid hat er über die Menschen gebracht. Unsere Familie ist davon nicht verschont geblieben. Erstens ist unser Heim abgebrannt und zweitens ist die Ehe meiner Eltern geschieden worden, während ich im KLV-Lager war. Auf die näheren Umstände möchte ich nicht eingehen. Onkel Theo, Vaters Bruder, war im Konzentrationslager, weil er BBC gehört hatte. Die allgemeinen Entbehrungen erwähne ich erst gar nicht, aber wir haben überlebt!
Am 8. Mai kam ein russischer Reiter in unser Lager und befahl uns, Panzersperren wegzuräumen. Nachdem wir das getan haben, packten wir unsere Siebensachen zusammen. Ich habe mir aus einem großen Handtuch einen Rucksack genäht. Die paar Habseligkeiten passten gerade dahinein. Noch am gleichen Abend sind wir Richtung Heimat losmarschiert. Unsere Lehrer wollten nicht, dass wir den Russen ausgeliefert würden. Die hatten bereits ein Mädchen aus dem Nachbarhaus vergewaltigt und hatten ihre Siegesfreude im Alkohol ertränkt. Die Russen waren in ihrem Siegesrausch ja unberechenbar Als wir die ersten Amerikaner trafen, wollten sie uns nicht durchlassen. Jemand sagte uns, dass wir in zwei Stunden wiederkommen sollten. Dann wäre ein anderer Posten da. Und der ließ uns nach einem Gespräch mit unserem Englischlehrer auch durch. Bei Glauchau erreichten wir die Autobahn, auf der wir bis Eisenach marschierten. Die Menschen, die wir um etwas zu essen baten, waren gut zu uns. Alles in allem, wir brauchten nicht zu hungern.
Am Montagnachmittag, dem 28. Mai 1945 erreichten wir Eisenach. Unser Lehrer wollte sich beim Roten Kreuz um einen Lkw-Transport bemühen. Das klappte auch. Doch zunächst galt es eine Übernachtung zu finden. Die Verhandlungen für einen Transport zogen sich die ganze Woche hin. Wir konnten uns in Ruhe die Wartburg und vieles mehr anschauen. Am Samstag, den 2. Juni 1945 kam ein Lkw-Konvoi von vier Trucks. Der brachte uns nach Dortmund-Applerbeck. Von dort aus fuhren bereits wieder Züge Richtung Essen und Düsseldorf. Als wir dann am Fahrkartenschalter standen, mussten wir mit Schrecken feststellen, dass wir nicht genügend Fahrgeld hatten. Eine Frau sah unsere traurigen Gesichter und schenkte uns den fehlenden Betrag.
Nach mehrmaligem Umsteigen und Fußmarsch über eine Behelfsbrücke über die Ruhr in Kettwig erreichten wir um 14.30 Uhr Düsseldorf-Rath. (Heute fahre ich die Strecke mit dem Auto in knapp einer Stunde.) Als ich mich unserem Haus näherte, sah die Hauseigentümerin gerade aus dem Fenster. Was freute sich die Frau Mischke, mich wiederzusehen. Hatten wir uns doch im Luftschutzkeller kennengelernt; und ich erst, als ich sah, dass unser Haus noch stand. Ich hatte ja schon seit Monaten keine Nachricht aus Düsseldorf mehr bekommen. Frau Mischke bat mich erst einmal zu sich herein und sagte mir, dass meine Mutter in Flingern bei Opa wäre.
Meine Mutter kam erst spät abends nach Hause. War das ein freudiges Wiedersehen! Mutter stieß einen Freudenschrei aus, als sie mich wiedersah und wir gegenseitig feststellten, dass wir den Krieg doch irgendwie heil überstanden hatten. Als ich dann meinen Handtuch-Rucksack auspackte, traute meine Mutter ihren Augen nicht. Sie hatte nur ein paar Kartoffeln. Ich sagte, dass sie davon doch Bratkartoffeln machen sollte. „Wie denn?“ jammerte sie „ohne Fett?“ Da packte ich die Ölsardinen und ein schönes Stück mageren Speck aus. Das wurde dann ein Festschmaus.
Nun aber zurück zum 4. Juni 1945. Nach dem Arbeitsamt sind wir nach Flingern zu Opa gegangen. Er wohnte inzwischen bei Tante Lina. Wir freuten uns, dass der Krieg zu Ende war und wir wieder beisammen waren. Im Februar war Oma an Lungenentzündung gestorben. Opa zeigte auf ihr Bett und sagte: „Da hat sie gelegen. Wenn sie mich doch auch bald holen würde“. Dabei weinte er. Er fühlte sich so verlassen, was wir alle natürlich sehr gut verstanden. Den Sonntag darauf, es war der 10. Juni, ging Opa, wie jeden Sonntag, zum Friedhof. Als er abends noch nicht wieder daheim war, ging Onkel Richard zur Polizei. Dort erfuhr er, dass ein alter Mann auf dem Nord-Friedhof erschossen worden war. Die amerikanische Militärpolizei hatte ihn gefunden. Ja, es war Opa. Es war ein Raubüberfall. Seine goldene Taschenuhr mit Kette war weg, geklaut! Der Schlüssel für die Uhr befand sich in seiner Geldbörse. Die hatten die Täter nicht gefunden. Also konnten sie mit der Uhr nichts anfangen. Vier Schüsse, zwei davon sofort tödlich, waren auf ihn abgegeben worden. Vermutlich waren es Ostarbeiter, die auf ihre Rückkehr in ihre Heimat warteten. Sie waren in einer ehemaligen Kaserne in Friedhofsnähe untergebracht. Man sagte, dass sie Vieh von den Weiden klauten und auf dem Friedhof schlachteten, um dann später auf dem schwarzen Markt zu verkaufen. Den Anzug ließen wir reinigen und die Schußlöcher kunststopfen. Dann habe ich ihn noch lange tragen können. So habe ich auf tragische Weise meinen Opa verloren. Für uns alle war es nicht gerade tröstlich, dass sein Wunsch erfüllt worden ist und er mit Oma wieder vereint war.
Zur unmittelbaren Nachkriegszeit sei noch bemerkt, dass wir unsere Hungersnot dadurch lindern konnten, indem wir die abgeernteten Weizen- und Kartoffelfelder auf Reste absuchten. Wir nannten das Kartoffelnstoppeln. Im Wald sammelten wir Beeren und Pilze sowie Holz zum Heizen. Eine wirklich große Hilfe kam dann aus Amerika. Das Deseret-Welfare-Programm sandte uns Lebensmittel: Dosenfleisch, Obstkonserven, gestoßenen Weizen und auch Kleidung. Die holländischen Geschwister schickten uns Kartoffeln und Heringe. Was waren wir für diese Spenden dankbar. Wenn die Lebensmittelspenden unter den Gemeindemitgliedern nicht genau aufgeteilt werden konnten, so wurde von dem Rest von der FHV ein Essen für die ganze Gemeinde zubereitet.
Im Mai 1952 wurde ich auf Mission berufen und am 1. Juni bekam ich vom Missionspräsidenten meine Urkunde als ordinierter Geistlicher der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Meine erste Station war Göttingen. Als Mitarbeiter hatte ich Kay Perrins sowie Darrel Vorwaller und Elder Schmuhl. Im Juli besuchte Präsident David O. McKay Deutschland. Im Frankfurter Palmengarten fand eine große Versammlung statt. Alle Missionare der Westdeutschen Mission waren dort anwesend. Der Präsident der Kirche wird auch als Profet, Seher und Offenbarer bezeichnet. In seiner Rede forderte er die Mitglieder auf, nicht mehr nach Amerika auszuwandern. Inzwischen waren ja so viele aus ganz Europa nach dorthin ausgewandert und es waren dort keine Wohnungen und Arbeitsplätze mehr ausreichend vorhanden. Präsident McKay versprach uns für Verbesserungen in Deutschland zu sorgen. Es sollten überall Gemeindehäuser gebaut werden. Auch ein Tempel sollte in unserer Nähe errichtet sowie Pfähle Zions gegründet werden, sodass wir alle kirchlichen Einrichtungen hatten, wie sie in Amerika vorhanden waren. Es gäbe dann keinen Grund mehr aus religiösen Gründen auszuwandern. Zuletzt prophezeite er uns – wenn wir alle hierblieben – dass wir einen Lebensstandard bekommen würden, der dem Amerikanischen gleichkommt. Viele der Anwesenden haben das, genau wie ich, bezweifelt. Es war für uns einfach zu utopisch. Heute schäme ich mich dafür. Es ist alles so gekommen, wie er das prophezeit hat!
Ein paar Tage später erkrankte ich an spinaler Kinderlähmung. Ich kam auf die Isolierstation der Göttinger Uniklinik. Zu der Zeit wusste man noch nicht wie diese Krankheit behandelt werden musste. Auch gab es noch keine Medikamente dagegen. Meine Mitarbeiter gaben mir einen Krankensegen. Nach acht Tagen konnte ich die Klinik wieder verlassen und zwar als einziger der Patienten auf den eigenen Beinen. Die anderen saßen im Rollstuhl oder wurden vom Bestatter abgeholt. Ich bekam 3 Wochen Erholungsurlaub. Unser Hausarzt verschrieb mir Massagen und Stanger-Bäder. So erholte ich mich zusehends. Dann setzte ich meine Mission zunächst im Innendienst fort. Im Missionsbüro in Frankfurt überprüfte ich dann die Monatsberichte der Gemeinden. In der Folgezeit diente ich dann noch in München, Bielefeld, Freiburg und Pforzheim. Im Mai 1954 wurde ich dann als Missionar ehrenvoll entlassen.
Während der Zeit in Bielefeld waren wir als Missionare jeden Sonntag beim Gemeinde-präsidenten Wilhelm Kirchhoff zum Mittagessen eingeladen. Ich war dort sieben Monate und so lernte ich die Familie gut kennen, besonders die Tochter Hildegard und ihren vierjährigen Sohn Heinz-Erhard. Der Junge war so ein liebenswerter Kerl, sodass ich ihn sofort in mein Herz schloss. Hildegard und ich kannten uns bereits von Jugendtagungen her. Aber wir mochten uns nicht. Für sie war ich ein eingebildeter Kerl und für mich war sie ein Dummchen vom Lande. In den sieben Monaten stellten wir dann beide fest, dass weder das eine noch das andere stimmte. Als ich dann nach Freiburg versetzt wurde, bat sie mich um ein Postkärtchen, ob ich auch gut dort angekommen bin. Das tat ich dann auch. Es entwickelte sich dann ein reger Schriftverkehr, der dann in eine Ehe mit ihr endete.
Ich übersiedelte dann nach meiner Mission nach Bielefeld. Ich bekam eine Arbeit als Schweißer in einer Kessel- und Apparatebau-Firma. Dort verdiente ich im Akkord ganz gut. Eines Tages wurde jedoch die Produktion umgestellt. Neue Maschinen übernahmen meine Arbeit und ich durfte nun als Hilfsarbeiter für weniger Lohn malochen. Ich verunglückte bei dieser Arbeit ein paar Tage vor unserer Hochzeit und brach mir den rechten Ellbogen. Mein Arm wurde vom Handgelenk bis zur Schulter eingegipst. So wollte und konnte ich unmöglich heiraten. Wir hatten dafür den Himmelfahrtstag geplant. So heirateten wir dann erst am 28. Juli 1955. Wohnen konnten wir zunächst bei den Schwiegereltern. Der Ellenbogenbruch führte dann zu einer dauernden Versteifung. Von der Berufsgenossenschaft erhielt ich dann eine kleine Unfallrente.
Während meiner Arbeitsunfähigkeit suchte ich mir eine andere Beschäftigung. Ich wurde Straßenbahnschaffner bei den Bielefelder Verkehrsbetrieben, was ich aber nur als Übergangslösung betrachtete. Ich hatte ehrgeizigere Ziele. Meine Vorgesetzten jedoch waren mit meiner Tätigkeit so zufrieden, dass sie mich bereits nach fünf Monaten als Busschaffner im Überlandverkehr einsetzen. Das bedeutete 10 Pfennige Lohnerhöhung. Diese Arbeit machte mir viel Freude, zumal ich sie auch körperlich gut schaffte. Das Betriebsklima war ausgezeichnet. Deshalb nahm ich den unregelmäßigen Arbeitszeiten zunächst dafür gerne in Kauf. Mit Hilfe der Personalverwaltung durften wir eine eigene Wohnung beziehen, vier Zimmerchen mit schräger Decke. Es waren insgesamt 44 qm Wohnfläche. Egal, wir hatten erstmal ein eigenes Heim. So nach und nach kauften wir unseren Hausrat
Am 6. Dezember 1957 wurde unser Sohn Detlef geboren. Die Entbindung fand bei den Schwiegereltern statt. Ich durfte der Hebamme dabei helfen. Was war ich stolz, als ich Detlef zuerst auf den Arm nehmen durfte!
Meine erste große Fahrt mit unserem Auto sollte zum Tempel in der Schweiz erfolgen. Gleichzeitig wurde von der Gemeinde eine Busfahrt nach dorthin organisiert. Natürlich fuhren wir nun mit dem Bus. Es war ja schöner mit den anderen Brüdern und Schwestern gemeinsam diese Fahrt zu unternehmen. Außerdem machten wir einen Ausflug nach Grindelwald. Es war einfach ein herrliches Erlebnis.
Es kam dann auch eine weniger schöne Zeit. Schwiegermutter Frieda war an Alzheimer erkrankt. Hildegard ging täglich zu ihr hin, um den Haushalt zu versorgen. Ich bin dann mit den Schwiegereltern durch die Geografie gefahren, damit Hildegard ungestört arbeiten konnte. Es wurde dann immer schlimmer mit Mutter. Es kam Altersbrand dazu. Der Arzt kam täglich und wir mussten sie im Bett festbinden, damit sie keine Dummheiten machte. Es war wirklich schlimm mit ihr. Als sie dann am Heiligen Abend 1971 starb, haben wir das als Weihnachtsgeschenk empfunden. Durch ihre Leiden habe ich persönlich ein anderes Verständnis vom Leben und Sterben bekommen.
Ende August 1993 war der große Tag meiner Verabschiedung aus dem Arbeitsleben. 38 Jahre habe ich bei den Stadtwerken Bielefeld meinen Dienst verrichtet. 18 Jahre davon als Verkehrsmeister. Nachdem ich eine Reihe von Jahren in unserer Kirche inaktiv war; obwohl ich in der Gemeinde die Orgel spielte, habe ich für die Monatszeitschrift „Der Stern“ im Jahre 1985 beim Talente-Wettbewerb mit meinem Lied „Keusch und Rein“ den ersten Preis gewonnen. Immerhin waren Einsendungen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum in Frankfurt eingegangen. Ich denke, dass das für einen Autodidakten wie mich doch bemerkenswert ist. Für das Copyright habe ich einen Geldbetrag bekommen. Drei Jahre später habe ich mich dann der Kirchenarbeit wieder ernsthaft zugewandt. Im Kirchendeutsch wird das „Umkehr“ genannt. Ich hielt mich dann ab sofort an die gebotenen Regeln. Seit dieser Zeit habe ich viele geistige Erlebnisse gehabt, sodass mein Glaube an die Existenz eines Gottes, nämlich unseres himmlischer Vaters, zur festen Gewissheit geworden ist. Ich wurde dann u.a. in den Gemeindevorstand der Bielefelder Gemeinde berufen. Für mich war dieses Amt deshalb besonders reizvoll, weil in dieser Zeit die Bielefelder Gemeinde ihr 100 jähriges Bestehen feierte. Meine Aufgabe bestand darin, die entsprechenden Veranstaltungen zu organisieren und die gewünschten Gäste aus der Kirchenverwaltung sowie aus dem politischen Bereich einzuladen. Die beiden anderen Vorstandsmitglieder waren für das Kirchengebäude und Grundstück zuständig. Der Bischof schrieb eine Chronik der Gemeinde. Es war eine vorbildliche Zusammenarbeit, die uns alle begeisterte. So wurde das Jubiläumsjahr für uns alle ein großer Erfolg.
Hildegard dokterte schon eine ganze Weile mit ihrer Schilddrüse herum. Man stellte bei ihr eine Verkalkung der Halsschlagader zu 90% fest. Eine Bypass-Operation wurde von mehreren Ärzten dringendst empfohlen. So wurde sie im Oktober 1999 operiert. Man setzte ihr ein etwa 15 cm langes Stück Vene aus ihrem Unterschenkel ein. Das war am Donnerstag. Natürlich besuchte ich sie täglich. Am Sonntag war auch Heinz-Erhard da. Ich selbst verabschiedete mich von ihr gegen 21.00 Uhr mit den Worten: „Jetzt kann der Heilungsprozess beginnen.“ Sie brachte mich noch zum Aufzug und schaute mir traurig nach. Am nächsten Morgen erhielt ich vom Krankenhaus einen Anruf, in dem mir der Stationsarzt mitteilte, dass es Komplikationen gäbe und sie jetzt im OP wäre. Tatsächlich war die neueingesetzte Vene in der Mitte geplatzt. Hildegard war innerhalb von drei Minuten tot, innerlich verblutet. Ich war wie betäubt. Vierundvierzig Jahre waren wir verheiratet gewesen und wir galten überall als ein glückliches Ehepaar.
Für mich begann eine schwere Zeit Allein zu sein war einfach furchtbar. Die Geschwister der Gemeinde haben sich liebevoll meiner angenommen. Ich wurde jeden Tag eingeladen, wofür ich außerordentlich dankbar war. Auf Dauer war das natürlich keine Lösung. Im Tempel hatte ich in einer Siegelungssession eine Schwester aus dem Pfahl Hamburg kennen gelernt, die mich beeindruckte. Ich forschte nach dieser Schwester und hatte sie alsbald gefunden. Ja, wir haben schnell gemerkt, dass wir zueinander passen. Und nach Ablauf des Trauerjahres haben wir geheiratet und ich bin zu ihr gezogen. Kurze Zeit später erfüllten wir dann eine Tempelmission im Frankfurt-Tempel.
Für uns war es eine großartige Erfahrung und ein sehr guter Start für unsere Ehe. Wir sind, so denke ich, dort geistig sehr gewachsen. Inzwischen sind wir über acht Jahre verheiratet und haben die Feststellung machen dürfen, dass man auch im fortgeschrittenen Alter noch richtig glücklich sein kann. Wir hoffen, dass der Vater im Himmel uns noch einige glückliche gemeinsame Jahre schenkt