Roßlau an der Elbe, Sachsen-Anhalt

Mormon Deutsch Ella Margitta KnispelMein Name ist Ella Margitta Knispel. Ich bin geboren am 13. März 1933 als Tochter von Franz Rogotzky und seiner Frau Martha Ragotzky, geborene Blänsdorf in Rosslau an der Elbe in Sachsen-Anhalt. Ich bin aufgewachsen in Aschersleben. Ich habe noch einen elf Jahre jüngeren Bruder Wolfgang Ragotzky, am 20 Januar 1944 geboren, ist verheiratet mit Heike Ragotzky und hat zwei Söhne. Meine Eltern sind beide verstorben.

Als ich zur Schule kam, als ich sechs Jahre war, begann der Krieg. Die ersten Jahre hat sich für uns nichts geändert. Von vielen Schulkameraden war der Vater an der Front, es fielen auch Väter. Eigentlich blieb alles ruhig. Wir wohnten in keiner sehr großen Stadt, 43.000 Einwohner hatte Aschersleben, allerdings gab es eine große Munitionsfabrik und eine Niederlassung von den Junkerswerken, also Flugzeugbau und eine Werkzeugmaschinenfabrik, was die gemacht haben weiß ich nicht. Das war so das Hauptsächlichste. Und eigentlich ist unsere Stadt von Bombenangriffen, bis fast zum Schluss verschont geblieben.

Wir sind aufgewachsen, etwas entfernt von der Stadt in einer Stadtrandsiedlung, einige Kilometer entfernt von der Stadt. Hinter unserem Haus begannen gleich Felder, Bauern. Wir hatten eine schöne Zeit, wir haben draußen uns mit Tieren beschäftigt, bis die letzten Kriegsjahre da setzten die Bombenangriffe vermehrt ein. Mein Vater war nicht eingezogen, der hatte einen Augenschaden. Der hatte als Jugendlicher mit Munition aus dem ersten Weltkrieg gespielt und hatte auf einem Auge die Sehkraft verloren und dafür nicht diensttauglich. Er war die ganze Zeit bei uns.

Der erste Angriff war im Januar 1944, der hat nur den Lagerplatz von der Munitionsfabrik getroffen. Es sind nur die Verpackungskisten verbrannt. Der nächste Angriff galt den Junkerswerken. Die Munitionsfabrik ist nicht noch einmal angegriffen worden. Für uns war es Glück, denn wir haben ziemlich nah gewohnt. Die Junkerswerken sind angegriffen worden, aber auch ohne nennenswerten Schaden. Der letzte Angriff, die Stadt selber ist gar nicht bombardiert worden, sondern nur unsere Siedlung, hat fünf Häuser getroffen. Wir haben später festgestellt, dass die ganzen Bomben, die unsere Häuser treffen sollten im Hausabstand im Feld lagen. Es hat nur eine Straßenseite getroffen. Wir waren dankbar, dass es so gekommen ist.

Anfangs gab es Lebensmittelkarten, je weiter der Krieg fortschritt umso schlimmer wurde es und vor allem Waschmittel und so, das gab’s ja überhaupt nicht, man musste einteilen, was man hatte. Da hat sich natürlich auch ausgezahlt, am Stadtrand zu wohnen. Wir hatten einen Garten, hatten Kleinvieh. Im Gegensatz zur Stadtbevölkerung. Ich bin ja in der Stadt zur Schule gegangen, da haben wir gesehen, die hatten nur wenig. Es war eine schwere Zeit. Wir haben uns gefreut, dass der Krieg zu Ende war.

Gegen Ende des Krieges, die Luftangriffe der Amerikaner und Engländer, die gingen ja rund um die Uhr, die flogen immer über uns weg. Mir geht es heute noch so, wenn ich einen Motorflieger höre, da krieg ich heute noch Gänsehaut. Anfangs sind wir in den Luftschutzbunker gegangen, der abseits war, aber als die Angriffe überhaupt nicht mehr aufhörten, da wären wir nicht mehr nach Hause gekommen, da sind wir zu Hause geblieben. Wir mussten ja unsere Tiere versorgen. Da haben meine Eltern beschlossen, wir bleiben zu Hause, da haben wir im Keller geschlafen. Am Schluss des Krieges, wir haben im Keller geschlafen, über uns Flugzeuge, Welle um Welle, es viel Alarm und dann war plötzlich Stille, aber es gab keine Entwarnung. Wir sind gesessen und haben gewartet, aber es gab keine Entwarnung. Dann ist mein Vater ins Haus gegangen und hat durch das Dachfenster auf die Landstraße geguckt und er kam ziemlich blass wieder herunter. Die ganze Landstraße steht voll Panzer. Amerikaner und Russen haben sich in Torgau getroffen und rückten immer näher und die Angst war, die Russen kommen. Und dann kam mein Vater blass runter, es wurde nicht geschossen, es war ruhig, aber Russen waren es nicht, es waren Amerikaner.

Das ist alles ziemlich ordentlich abgelaufen. Wir sind aber doch noch russische Besatzungszone geworden, zu mindest am Anfang waren es Amerikaner. Die blieben etliche Wochen. Es war ruhig. Im Morgengrauen hatten sie die Straßen abgeriegelt mit ihren Militärjeeps. Dann wurden die Häuser durchsucht. In unserer Siedlung ist nichts beschlagnahmt, die haben nur Fotoapparate genommen und haben sie auf der Straße vernichtet, warum, wir wissen es nicht. Uns ist da draußen nichts geschehen. Die anderen Kriegsfahrzeuge sind dann Richtung Stadt gefahren, es gab auch in der Stadt kein Militär.

Es gab nur Stadtwehr da wurden alle jungen Männer und alte Männer mit Panzerfäusten sollten die Stadt verteidigen. Einige ganz Besessene haben versucht, sich zu verteidigen. Das hat nicht lange gedauert. Sie haben sich drei Tag verschanzt. Der Stadt ist nicht groß Schaden entstanden. Es waren etliche Kanonenschläge und ein paar Feuergefechte und dann war Ruhe. Es wurde schwierig, als wir sowjetische Besatzungszone waren. Die Amerikaner haben sie uns, Frauen mit kleinen Kindern, bevorzugt. Wir hatten den Garten, wir hatten immer Vorratshaltung. Wir hatten nicht gehungert. Wir hatten Kartoffeln eingebunkert, hatten Eingemachtes. Uns ging es nicht so schlecht. Aber es kamen Flüchtlinge in die Stadt, es gab Typhus, es war schon eine schlimme Zeit.

Die Russen fingen dann an bei der Eisenbahn die zweiten Gleise herauszureißen und abzutransportieren als Wiedergutmachung, haben sie immer gesagt, die Werke abzubauen, was immer wegzuschleppen war, aus unserem Stadtmuseum wertvolle Sachen, das wurde alles abtransportiert. Es gab Vergewaltigungen, die von der sogenannten Kommandantur erwischt wurden, denn es war verboten, die wurden ausgepeitscht. Wer wollte Hilfe rufen? Telefon gab es ja nicht. Da haben sie erst einmal alles rausgeschleppt aus der Stadt, was möglich war. Im Sommer gab es keine Schule.

Im Herbst 1945, da waren wir dann schon russisch, sowjetische Besatzungszone, fing die Schule wieder an. Ich ging damals in die siebte Klasse und habe dann mit der achten Klasse die Schule beendet. Für meine Eltern war es damals noch unvorstellbar, dass ein Mädchen noch länger zur Schule geht. Ein Mädchen heiratet eben und braucht nicht solche Ausbildung. Das war noch so die gängige Meinung. Ich habe nach der Schule eine Lehre als Industriekaufmann gemacht und habe die auch beendet und habe zwölf Jahre als Industriekaufmann gearbeitet, bei der Werkzeugmaschinenfabrik, die hieß Biletta und Klunz. Der alte Herr ist dann später mit seiner Stammbelegschaft in die Schweiz gegangen.

Ich habe nach meiner Lehre ziemlich schnell im August 1951 Günter Schmidt geheiratet und hatte zwei Kinder, den Sohn Dieter Schmidt und die Tochter Ingrid Schmidt. Von Günther Schmidt bin ich 1960 geschieden worden. Ich bin im gleichen Jahr nach Erkner bei Berlin und habe schon in Berlin gearbeitet mit meinen beiden Kindern. Ich habe dann die Erwachsenenbildung im zweiten Bildungsweg gemacht, und habe einen Beruf des Bibliothekars gelernt, da habe ich achtzehn Jahre bis zu meiner Rente, gearbeitet. Da kam die Wende und es war für mich Schluss, da war ich zu alt. Das war dann auch solch komische Zeit.

Ich war Parteimitglied in der DDR. Ich weiß nicht warum ich es war. Mein Bruder war mutiger, der ist zum Ende dann ausgetreten. Mein Vater war bei der Partei, der war während des Krieges nicht in der Nazipartei, aber er war ein alter Kommunist und ist nach Kriegsende, als die Partei wieder zugelassen wurde, wieder zu seiner Partei gegangen. Die wurden ja dann beide zwangsvereinigt, die Parteien, Sozialdemokraten und die Kommunisten, in die Sozialistische Einheits- Partei (SED). Ich bin ziemlich spät Parteimitglied geworden, ich war schon sechsunddreißig. Jahre alt. Ich hatte mir damals eingebildet, man wurde ausgegrenzt, wenn man nicht Mitglied bei der Partei war. Das war vielleicht so. Da fanden eben Besprechungen mit den Parteimitgliedern und Kollegen statt, bei denen wir nicht teilnehmen konnten. Es hat schon eine gewisse Ausgrenzung gegeben. Und als mein Bruder eben damals ausgetreten ist, hat er ja Repressalien bei der Arbeit gehabt. Ich war nicht überzeugt. Wir sind zwar hineingewachsen. Wir haben an vieles geglaubt. Das muss ich schon sagen, dass der Sozialismus besser ist und so. Man ist ja praktisch groß geworden mit diesen Parolen. Aber je älter man geworden ist, umso nachdenklicher ist man ja auch geworden. Ich habe ja dann gesehen, wie sich das alles entwickelt hat. Eigentlich nicht zum Besseren. Diese ganzen Funktionäre und so, die am Ende nur noch an sich gedacht haben, Am Anfang war das ja noch nicht so. Das hat sich eigentlich immer hin zum schlechteren entwickelt.

Als die Mauer 1961 errichtet wurde, ich war mit meinem zweiten Mann verheiratet, wir haben es zuerst einmal begrüßt, weil viele aus Ostberlin im Westen gearbeitet haben und wir hatten hier keine Arbeitskräfte. Das sind viele Leute, die gelehrt waren. Die hatten bessere Arbeitsbedingungen. Die Zeit war schon fortgeschritten. Der Westen hatte sich mehr entwickelt als hier im Osten das ist ganz klar. Als die Mauer fiel, das ist auch so kurios. Da habe ich in Ostberlin gewohnt und wir haben auf die Mauer geschaut, die war gleich hinter unserem Haus. Wir haben nicht einmal gemerkt, dass die Mauer auf ist. Mein Sohn wohnte damals noch bei mir – er ist 2003 verstorben – der war Bauarbeiter und ging arbeiten. Seine Arbeitskollegen, die waren alle ganz euphorisch. Da fing das an, dass die ausreisten über die Tschechoslowakei und so. Wir haben das alles gar nicht so richtig für voll genommen. Dann heißt es eines Morgens die Mauer ist auf. Wir haben es verschlafen. Wir sind nicht nach Westberlin gefahren. Wir haben es gar nicht gemerkt und haben es nicht gehört, wir hatten es gar nicht so ernst genommen. Aber wir haben uns natürlich nachher auch gefreut .Wir guckten hier rüber in den Tiergarten und alles, was ich jetzt alles kennen darf. Ich war so unvorsichtig. Mein Abteilungsleiter war zu Besuch bei mir und ich sagte, da werde ich auch eines Tages spazieren. Ich meinte als Rentner, da hätte ich ja rüber gedurft. Aber es hat sich ziemlich schnell erfüllt! Jetzt habe ich meine Kirche in Tiergarten, das ist wundervoll, die kannte ich ja auch nicht vorher.

Mein zweiter Mann hieß Wolfgang Knispel. Ihn habe ich 1961 geheiratet und bin 1964 geschieden. Es war eigentlich eine Dummheit. Ich habe gedacht, meine Kinder brauchen vielleicht noch einen Vater. Das war eine Fernbeziehung und er hat sich dann eben erst entpuppt, als wir zusammen gewohnt haben. Na gut, solche Erfahrungen macht man eben.

Zur Kirche bin ich gekommen 1999, als die ersten Missionare an die Türe gekommen sind. Ich habe mir Zeit gelassen, ich habe ziemlich lang gebraucht, bis ich mich entschlossen habe. Ich habe sie hereingelassen, sie haben das Buch Mormon da gelassen. In größeren Abständen sind immer wieder Missionare gekommen. Zuerst war für mich alles fremd. Ich bin nicht religiös erzogen. Ich hatte erst mit Kirche und so weiter gar keine Erfahrungen. Es war mir alles fremd. Ich habe es mir angehört, habe Fragen gestellt, aber dass ich dahin gehen sollte. Das hat sich langsam entwickelt, bis ich dann eines Tages gesagt habe, jetzt gehe ich da hin zur Kirche und will einmal sehen, was da los ist. Ich bin das erste Mal in der Abendmahlversammlung gewesen. Und Abendmahlsversammlung bei uns, die ist ja nicht so wie man sich das in der anderen Kirche vorstellt, wie man es auch manchmal im Fernsehen gesehen hat. Ich habe sie über mich ergehen lassen. Das war so ungefähr vor neun Jahren. Es war auch am Muttertag. Mein Sohn hatte mich mit dem Auto hingebracht, hat draußen auf mich gewartet. Ich bin zu ihm raus ins Auto. Mein Sohn kannte mich, der dachte, da ist was schief gegangen. Der ist dann mit mir nach Hause gefahren, wir haben Mittag gegessen. Er hat mich nicht gefragt. Aber in meinem Kopf hat das gewühlt. Schon dass da die Kinder drin waren, die da rumtobten, kein Pfarrer und was da alles war. Da hat er mich ins Auto gesetzt und wir sind in die Umgebung von Berlin und haben erst einmal einen riesengroßen Spaziergang gemacht, bis ich dann überhaupt einmal reden konnte. Es war für mich fremd. Aber als ich dann so nach vierzehn Tagen sagte, jetzt will ich alles sehen, was da in der Kirche ist und seit dem Tag bin ich immer da gewesen. Ich habe seither einmal vier Wochen gefehlt, wegen Krankheit, weil ich einen Unfall hatte, war ich immer da. Eigentlich von Anfang an, seit ich mich habe taufen lassen. das werden im Juli neun Jahre, habe ich eine Berufung gehabt. Erst einmal war ich sieben Jahre Bibliothekar und jetzt bin sich seit zwei Jahren FHV Leiterin. Es hat ja in der DDR die Kirche auch gegeben, aber damals wäre ich für die Kirche nicht empfänglich gewesen und die durften ja auch nicht missionieren. Ich wäre vielleicht gar nicht auf die Kirche gestoßen. Heute kommt mir das so vor, als ob ich schon immer dazu gehört hätte, ich kann es mir nicht mehr anders vorstellen.