Prenzlau, Brandenburg
Mein Name ist Erika Korb, geborene Mohr, geboren am 22. März 1924 in Prenzlau, Brandenburg. Mein Vater ist Hans Mohr, geboren in Sternhagen nicht weit von Prenzlau und Meine Mutter ist Paula Mohr, geborene. Bluhm. Meine Schwester ist 1935 geboren. Ihr Name ist Ursula und mein Bruder, Helmut, wurde 1939 geboren.
Meine Oma war die Erste, die Kontakt mit Missionaren hatte. Sie erzählte ihrer Familie von dem Gespräch, welches sie mit den Missionaren hatte. Und mein Vater war der Einzige, der sich dafür interessiert hat. Er hat dann die Kirche untersucht. Ich kann mich aber nicht erinnern, ob in Prenzlau damals schon eine Gemeinde war. Aber einige alte Geschwister waren dort. Daran kann ich mich erinnern, als Kind, das ich damals war.
Mein Vater ist am 19 Mai 1934 getauft worden. Ich war damals noch sehr klein, zehn Jahre alt. Jedenfalls hat er uns sehr belehrt. Und ich wurde dann am 12. Juni 1937 im Uckersee getauft. Meine 2jährige Schwester wurde dann am nächsten Tag mit mir gesegnet. Meine Mutter ließ sich aber erst am Heiligen Abend im zugefrorenen Uckersee taufen. Sie hatte zuerst Bedenken. Sie hatte sich dann aber überzeugt und wurde dann getauft.
Wenn ich mich richtig erinnere, dann kamen Brüder aus Neubrandenburg und belehrten uns. Später wurde mein Vater Gemeindepräsident. Wir hatten in einem Hotel einen Saal fest gemietet. Das heißt, dass wir regelmäßig sonntags unsere Versammlungen abhalten konnten. Ab und zu kamen Männer, die hörten sich an, was dort gesprochen wurde. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass es irgendwelche Schwierigkeiten gab. Mein Vater sagte später, dass das jemand von der Partei war.
Ich erinnere mich, dass 1937 Präsident Heber J. Grant in Berlin war und eine Konferenz stattfand. Ich hatte zu der Zeit Ferien und war bei meiner Tante in Berlin. Meine Mutter kam dann mit meiner kleinen Schwester nachgereist, und wir haben dann an dieser Konferenz teilgenommen. Das war ein großes Erlebnis für uns, das muss ich sagen.
Wir hatten ein schönes Leben. Mein Vater hatte wieder Arbeit bekommen. Er war vorher sehr viele Jahre arbeitslos. Mein Bruder wurde 1939 geboren. Ich hatte noch einen Bruder, der war zwei Jahre älter als ich. Aber er verstarb mit 4 Jahren.
Als ich aus der Schule kam, musste ich ein Pflichtjahr machen. Ich musste nicht zum Arbeitsdienst. Pflichtjahr bedeutete für junge Mädchen entweder ein Jahr im Haushalt arbeiten oder bei einem Bauern. Ich bin zum Bauern gegangen. In 50 Kilometer Entfernung arbeitete ich für ein Jahr bei einem Bauern. Das war in Grüneberg, bei Löwenberg. Dort war von der Jugendorganisation ein Lager. Wir waren ungefähr 20 Mädchen. Über Tag gingen wir zu unseren Bauern, und abends mussten wir rechtzeitig wieder im Lager sein, so dass der Bauer uns nicht ausnutzen konnte, noch länger zu arbeiten. Wir waren immer unter Kontrolle. Das hat uns sehr gut gefallen. Und wir waren mit mehreren Mädchen zusammen. Es hat uns Spaß gemacht als ich dann nach Hause kam ging ich in den Beruf, denn vorher bekam man keine Lehrstelle. Erst musste man das Pflichtjahr vorweisen können. Ich habe dann beim Arbeitsamt in Prenzlau als Verwaltungsangestellte am 1. April 1941 angefangen und bis zur Flucht dort gearbeitet. Aufgrund meiner Arbeit beim Arbeitsamt wurde ich von dieser Dienstelle als unabkömmlich eingestuft und vom Reichsarbeitsdienst befreit und auch nicht als Wehrmachtshelferin einberufen.
Als der Krieg anfing, war ich 15 Jahre alt. In diesem Alter hat man noch nicht viel vom Krieg gehört. Nur mein Vater erzählte vom ersten Weltkrieg. Da war er in Russland. Es war Krieg, aber wir bekamen davon nicht viel mit. Nur in den letzten Kriegsjahren riss uns oft der Fliegeralarm aus dem Schlaf. Dann schnappte sich jeder seine gepackte Tasche und rannte in den Luftschutzkeller ins Vorderhaus. Aber zum Bund deutscher Mädchen musste ich. Das war natürlich Pflicht. Wir mussten „erfasst“ werden. Nun hatte ich damals das Glück, dass meine Kusine in Prenzlau die Standortführerin war. Und die hat dann dafür gesorgt, dass ich oft von der Teilnahme freigestellt wurde, so dass ich sonntags immer meine Versammlungen besuchen konnte. Denn sonntags gab es oft Unternehmungen, aber ich war freigestellt. Zu der Zeit gab es ungefähr 3o Mitglieder. Die letzten Jahre war ich Gemeindesekretärin und habe die Berichte und die Bücher geführt. Wir fuhren regelmäßig zu den Distriktskonferenzen nach Stettin. Amerikanische Missionare unterstützten die Gemeinde tatkräftig. Vier Wochen vor Ausbruch des Krieges wurden sie abberufen, es hieß, dass alle Amerikanischen Missionare das Land verlassen mussten.
Im April 1945 näherte sich uns die Front, wir wurden bombardiert. Ich erinnere mich, dass wir ein paar Tage vorher unsere Papiere vom Arbeitsamt ausgehändigt bekamen. Und ich brauchte nicht mehr zur Arbeit erscheinen. Ein paar Tage später, am 14 April, wir wollten gerade Mittag essen und hatten unser Gebet, gesprochen, da schauten wir zum Himmel und sahen unsere deutschen Flugzeuge. Ich sagte zu meiner Mutter: „Guck mal, unsere Fliegen wieder in den Einsatz. „ Aber im gleichen Augenblick sahen wir in der Sonne die Bomben glänzen. Und meine Mutter schrie:“ Schnell, in den Keller!“ Bei Fliegeralarm waren wir immer gerüstet. Jeder hatte seine Tasche. Die Kinder hatten ihren Schulranzen oder eine Tasche. Ich hatte meinen Koffer. Und so rannten wir in den Keller. Wir wohnten im Hinterhaus, und der Keller war im Vorderhaus. Als ich vorne an der Kellertür war, sah ich einen Blitz und fand mich mit einem mal unten an der Kellertreppe wieder.
Mein Bruder lag da und stöhnte aus Angst. Ich schnappte mir ihn dann, und wir gingen in den Luftschutzkeller. Meine Schwester war schneller. Sie war schon im Keller. Und dann saßen wir drei Geschwister im Luftschutzkeller, und unsere Mutter kam nicht. Wir hatten natürlich um sie Angst. Sie hatte es nicht mehr geschafft. Wir mussten vom Hinterhaus über den Hof in das Vorderhaus und dann in den Keller. Meine Mutter war nur noch bis zur Tür am Hinterhaus gekommen. Sie hat die Nachbarn, die aus dem Hinterhaus hinauswollten, zurückgehalten. Und das war deren Glück, denn die Bombe fiel zwischen die Kellertür und Hinterhaus. Die Erinnerungen regen einen doch immer wieder auf. Aber wir sind sehr gesegnet gewesen. Meine Mutter klopfte dann später an die Ausstiegsluke, den Notausgang. Sie klopfte an, und die anderen öffneten die Tür. Sie fragte nur, ob ihre Kinder da seien. Sie sah uns sitzen und schon war sie wieder fort.
Auf dem Hof hatten Pferdegespanne und Soldaten Zuflucht gesucht. Und sie wurden von einer Bombe getroffen. Meine Mutter hat dann den Menschen geholfen. Sie war grau. Ich sehe immer noch ihr Gesicht mit den grauen Haaren. Die Haare waren vom Staub und Dreck so grau geworden. Ich habe einen großen Schreck bekommen. Damals war ich 21 Jahre alt. Wir waren wirklich sehr gesegnet.
Mein Vater sollte außerhalb der Stadt, als älterer Mann die Stadt noch verteidigen. Er wurde an der Panzerfaust ausgebildet. Er war Angehöriger des „Volkssturms“. Die Männer wurden dazu verpflichtet. Einmal brachte er so eine Panzerfaust mit nach Hause und legte sie auf das Fensterbrett. Das sind Eindrücke, die man nie vergisst. Als er hörte, dass die Innenstadt bombardiert war, hielt ihn nichts mehr. Er kam und guckte was los war. Er sah, dass wir am Leben waren. Unsere Wohnung war nicht kaputt, aber lädiert. Er ging dann nach oben und untersuchte den Schaden. Meine Mutter schickte mich dann nach oben, um einige Sachen zu holen. Ich sagte meiner Mutter, dass dort oben jemand sei. Und dann sah ich, dass es mein Vater war. Wir mussten ja immer auf Flieger achten, die immer wieder zurückkamen und ihre Bomben abwarfen.
Wenn wir hörten, dass Flieger im Anflug waren, dann sind wir schnell in den Keller gelaufen. Wir suchten dann unsere paar Habseligkeiten zusammen. Im Schuppen hatten wir einen Handwagen. Im Keller, es war ein großer Gewölbekeller, der sehr stabil war, hatten wir einige Sachen gelagert. Dann haben wir diese Sachen auf den Handwagen geladen. Mein Vater – und das werde ich nie vergessen – drückte mir die Kirchenbücher in die Hand. Er sagte zu mir: „Erika, du kannst alles wegwerfen. Aber diese Kirchenbücher, die nimmst du mit.“
Und so sind wir dann, mein Bruder mit fünf Jahren, meine Schwester war noch keine 10 Jahre alt und ich mit meinen 21 Jahren mit dem Handwagen am Spätnachmittag aus der Stadt gegangen. Zu Fuß. Mein Vater musste ja wieder zu seinem Standort zurück. Am Stadtausgang waren Wachen, die nur die Frauen und Kinder durchließen. Alle Männer mussten zurückbleiben. Auch Behinderte. So ging der ganze Flüchtlingstreck die Neubrandenburger Straße entlang. Die Stadt war bombardiert, kaputt. Und die Männer sollten die Stadt noch verteidigen gegen die heranrückende Front.
Wir sind dann die ganze Nacht gelaufen. Nachts kamen wir dann zu einem Dorf mit einer großen Scheune. Und viele Flüchtlinge waren müde. Sie breiteten sich in der Scheune aus und holten ihre Betten hervor. Meine Mutter sagte, dass wir uns hinsetzen sollten und ausruhen. Sie wollte schauen, was los sei. Wir sollten aber nichts auspacken. Sie hat sich dann umgesehen. Als sie wiederkam sagte sie, dass wir uns anziehen sollten und weitergehen. Wir kamen in dem Dorf an eine Kreuzung.
Da war ein Kettenhund. [Soldat der Wehrmacht, eigentlich ein Feldgendarm] Das war ein Soldat, der trug ein Blechschild an einer Kette und regelte den Verkehr. Er hielt die Soldaten zurück, die desertiert waren. Er fing sie ab. Wir standen in der Nähe von diesem Mann, und meine Mutter hörte, dass eine Meldung kam: „Russische Panzer im Anmarsch mit aufgesessener Infanterie“ .Meine Mutter sagte zu mir: Was machen wir? Gehen wir in den Wald? Hier bleiben wir nicht. Wir sind dann in einen Hauseingang gegangen und haben ein Gebet gesprochen. Einige Zeit später kam dann dieser „Kettenhund“, winkte uns heran und sagte, dass gleich ein Pferdefuhrwerk käme mit verwundeten Soldaten, ein Pferdelazarett nannte sich das. Ihr könnt mitfahren. So wurden wir als einzige Zivilisten mitgenommen.
Er hat dann unsere Sachen aufgeladen, meine Geschwister und meine Mutter hinauf gehoben. Ich saß vorne neben dem Kutscher. Es war eine alte Kutsche, mit der wir fuhren. Und so sind wir aus diesem Dorf herausgekommen. Wie das Dorf hieß, das weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass wir viele Stunden auf dem Wagen gesessen haben. Meine Mutter hatte eine Flasche Schnaps für Notfälle und ein ungebratenes Huhn dabei. Die Flasche Schnaps hat sie den Soldaten für das Mitnehmen gegeben. Der Aufsichtsoffizier ritt immer neben uns her, mal nach vorne mal nach hinten. Und immer wenn er an uns vorbei kam, dann nahm er einen Schluck aus der Flasche. So hat sie ihn sozusagen bestochen.
Dann sind wir in ein größeres Dorf gekommen. Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube, es war 30 Kilometer von Prenzlau entfernt. Dort hieß es, wir können euch nicht weiter mitnehmen. Wir haben Order, hier zu bleiben.
Dort blieben wir über den Tag. Dort hatte meine Mutter das Hühnchen gekocht; ich kann mich nicht mehr erinnern wo. Jedenfalls hatten wir Hühnerbrühe. Und sie war sehr belebend. Sie hörte sich im ganzen Dorf herum. Da fand sie einen Milchmann, der einen Lastwagen hatte. Der wollte nach Lübeck. Meine Mutter hatte ihn gefragt, ob er uns nicht mitnehmen könnte. Er sagte ja, und wir konnten gleich unsere Sachen auf den Wagen laden. Er wollte noch vorher nach Hause fahren und uns abends um 6.00 Uhr abholen. Wir haben uns dann noch ausgeruht und Brühe getrunken. Er kam auch abends um 6.00 Uhr mit dem Lkw. Der Lkw fuhr mit „Holzgas“. Neben dem Motor war ein Kübel, in den man klein geschnittenes Holz schüttete. Als er dann mit seinem Lkw kam, da war der voll beladen mit den Holzsäcken. Und hinter den Holzsäcken standen Leute aus dem Dorf, die er auch mitnehmen wollte. Diese Leute wollten uns nicht mehr auf den Wagen lassen.
Meine Mutter, resolut wie sie war, sagte: wir müssen dort hinauf. Da standen ein paar Männer, und zu denen sagte sie: heben sie mich dort hinauf und meine Kinder auch. Zu mir sagte sie: „Erika, du gehst auf die Säcke, setzt dich dorthin, nimmst den Kleinen, den Helmut auf den Schoß, und Uschi, du setzt dich dorthin“. Uschi war meine Schwester. Meine Mutter fand dann auch noch einen Platz. Und die anderen standen da und guckten. Die hatten nicht daran gedacht, dass sie sich hinsetzen mussten. Denn es war ja eine lange Fahrt, die vor uns lag. So sind wir die Nacht durchgefahren. Er konnte wegen der Tiefflieger nur nachts fahren. Und wenn es ging nur unter den Bäumen entlang. Und so sind wir denn am 28. April 1945 in Lübeck gelandet.
Nun muss ich aber noch erzählen, dass mein Vater und meine Mutter sich verabredet hatten, sich in Schwerin zu treffen. Denn mein Vater war beim Arbeitsdienst als Schneider angestellt. Und in Schwerin war die Hauptstelle. Aber da unsere Sachen zuerst auf den LKW geladen wurden und ganz zu unterst lagen, konnten wir in Schwerin nicht aussteigen. Wir waren gezwungen, bis nach Lübeck mit zu fahren. Und das war unser Glück. Mein Vater kam später nach. Er hat sich mit dem Fahrrad durchgeschlagen bis nach Schwerin. Dort fand er seine Familie nicht. Er hatte in einem Flüchtlingslager gewartet und herumgehorcht. Wir waren in Lübeck. Auf dem Markt am Rathaus war eine Tafel. Und dort hat jeder ein Zettelchen angebracht mit den Namen von Familienangehörigen, die er suchte. Auch wir haben so einen Zettel angebracht. Dann gehe ich über den Markt und sehe eine alte Schulfreundin, und die sagt: „Erika, dein Vater ist in Schwerin“. Na ja. Er lebt.
Meine Mutter traf dann einen bekannten Bruder aus Stettin. Dieser Bruder besorgte uns dann auch eine Wohnung. Der Bruder Dretke sagte dann: „Erika, wir fahren nach Schwerin und holen deinen Vater“. Wir sind dann mit dem Fahrrad ungefähr 60 Kilometer bis nach Schwerin gefahren, um meinen Vater abzuholen. Als wir die Strecke zur Hälfte gefahren waren, da hieß es in Rehna: ab 18.00 Uhr ist Ausgehverbot. Das war gerade zu der Zeit, als die Russen bis hierher nach Lübeck kamen. Vorher war die Grenze anders gelegt worden. Dieses Gebiet sollte eingetauscht werden gegen Berlin. Wir sind dann bis Schwerin gefahren. Wir haben das Flüchtlingslager gefunden, auch sein Bett; aber mein Vater war nicht da. Wir haben aber schon seine Sachen zusammengepackt und sind bis nach Rehna zurückgefahren. Und dann mussten wir von der Straße, weil es 18.00 Uhr war. Dann sind wir auf Schleichwegen zu Fuß über Wald und Feld bis nach Herrnburg. Dort kamen wir an einen Fluss. Das war später die Grenze. Es war die Wakenitz.
Auf der Hauptstraße waren schon die Russen. Wir sind nun auf Schleichwegen bis an das Wasser gekommen, aber wir mussten auch hinüber. Auf der anderen Seite sahen wir einen Kahn. Durch die Schleichwege hatten sich mehrere zusammen gefunden. Und einer ist hinübergeschwommen und hat den Kahn ganz leise und vorsichtig herangeholt. Zuerst wurden die Frauen und Kinder hinübergebracht, und dann wurden die Männer geholt. Als wir dann alle drüben waren, da bin ich zusammen gesackt vor Schwäche und Erschöpfung. Als ich wieder zu mir kam, da hatte der Bruder Dretke schon mein Fahrrad repariert, denn es war kaputt gegangen. Dann sind wir nach Hause gefahren. Und dort trafen wir meinen Vater vergnügt im Bett an. Wir sind aneinander vorbeigefahren. So sind wir nach Lübeck gekommen, und es war für uns ein Segen. So konnten wir in Lübeck in der britischen Besatzungszone und späteren Bundesrepublik, und mit der Hilfe einiger Lübecker Geschwister, unbehelligt ein neues Leben aufbauen.