Komotau, Sudetenland

Mormon Deutsch Herta Maria KretschmarMein Name ist Herta Maria Kretschmar, geborene Baier, wohnhaft in Freiberg, Dorfstraße 5. Geboren bin ich in Komotau [heute Chomutov] im Sudetenland, heutige Tschechei. Meine Eltern und Großeltern wohnten alle in Komotau. Ich wurde am 1. April 1942 als Viertes von fünf Kindern geboren. Mein Vater arbeitete hier als Herrenschneider, meine beiden älteren Geschwister gingen auch hier zur Schule.

Im August 1945 kamen bewaffnete tschechische Truppen in unser Stadtviertel und trieben uns aus den Häusern auf die Straße. Hier mussten wir uns aufstellen. Keiner durfte zurück ins Haus gehen. Es wurde mit Erschießung gedroht. Später wurde uns eine Adresse genannt, wo unsere Familie hingehen musste. Das war ein vollkommen verfallenes Haus in einer anderen Straße in Komotau. Hier wurde uns ein einziger Raum zugewiesen. Darin hausten wir über den ganzen Winter bis März 1946.

Danach wurden wir in eine Schule gebracht, in der wir für vier weitere Wochen auf dem Dachboden hausten. Dann mussten wir erneut in ein Barackenlager umziehen. Dieses befand sich an einem Gleisanschluss, bei dem die Transporte der Menschen zur Aussiedlung in Viehwaggons zusammengestellt wurden. Ende April 1946 wurden wir in einen solchen Waggon, der mit vierzig Personen bestückt war, wie Tiere verladen. Die Türen wurden von außen verschlossen und verriegelt. Am 1. Mai 1946 fuhr dann der Zug über Karlsbad, Eger, nach Breuberg, das war schon in Deutschland, im hessischen Odenwald, zu einem dort befindliches Barackenlager. Hier wurden die ausgesiedelten Menschen nach fünf Tagen auf Waggons verladen und nach entsprechenden Zielorten eingeteilt. Dabei kam es zu häufigen Trennungen bei Familien. Wir kamen in die Stadt Langen in Hessen. In Langen hatten wir dann wieder eine Unterkunft in Baracken zugewiesen bekommen. Diese befanden sich am Rand der Stadt auf der Mörfelder-Landstraße. Das ist die Zufahrtsstraße zum Frankfurter Flughafen. Hier verbrachte ich meine Kindheit und die ersten Schuljahre. Bis 1951 haben wir hier gewohnt. Erst dann bekamen wir eine menschenwürdige Wohnung in der Stadt Langen.

1948 oder 1949 haben die Missionare meine Eltern gefunden. Wir hatten den katholischen Glauben, aber sie haben uns vom Buch Mormon und der Bibel überzeugt und wir sind zur Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, übergetreten.

1951 starb mein Vater, er war TBC-krank. Meine Mutter stand dann mit fünf kleinen Kindern alleine da. Meine drei Brüder, eine Schwester und ich gingen in Langen in die Schule. Wir alle haben einen Beruf gelernt, den wir auch ausgeübt haben. Meine Schwester ist in jungen Jahren in die Schweiz gezogen, hat dort ihren Mann kennengelernt und lebt heute noch in der Schweiz, sie heißt Helga Meier. Zwei meiner Brüder sind schon verstorben, einer hieß Heinz und der andere Horst. Sie waren beide krank.

1960 habe ich meine Ausbildung abgeschlossen und 1960 haben wir auch geheiratet. In Darmstadt, Frankfurt und Langen traf sich die Jugend der Kirche. Mein Mann war damals nach Westdeutschland gekommen und dort haben wir uns kennengelernt. Wie die Umstände waren, wollte er wieder zurück in seine Heimat. Ich habe gewartet, bis ich mein achtzehntes Lebensjahr vollendet hatte und war noch etwas unschlüssig: „Gehe ich oder gehe nicht“, es war doch ein ziemlich großer Schritt. Ich habe mich aber entschlossen, hier herzugehen, weil wir verlobt waren. Ich bin mit einer Aufenthaltsgenehmigung, so wie das damals in der DDR üblich war, gekommen. Die Aufenthaltsgenehmigung lief am 30. April ab und ich bin am 1. Mai hier hergekommen. Im Zug hat man mir gesagt, was ich hier noch zu suchen hätte, ich sollte doch dort bleiben, meine Aufenthaltsgenehmigung wäre doch abgelaufen. Ich habe aber gesagt: ,,Nein, ich fahre jetzt, ich verlängere die Aufenthaltsgenehmigung“. In der Verlängerungszeit mussten wir heiraten, sonst hätte ich wieder zurückfahren müssen, was wir auch am 14. Mai 1960 getan haben. So bin ich in die DDR gekommen.

1962 ist die erste Tochter geboren, 1963 der erste Sohn und 1964 der zweite Sohn. Zu unserem Bedauern sind alle drei Kinder nicht in unserer Kirche. Sie haben sich für einen anderen Weg entschieden. Aber es geht ihnen gut und wir sind zufrieden, dass sie bodenständig sind und dass sie uns genauso achten und ehren, trotz des Glaubensunterschiedes. Wir sind der Meinung, sie sind gut erzogen worden.

Etwas muss ich noch erzählen: Bei uns lief soweit alles ganz gut. Als die Wende kam, war mein Mann erst in den fünfziger Jahren und er musste sich entscheiden, entweder er bleibt arbeitslos, oder wir gehen wieder in den Westen und er arbeitet noch fünfzehn Jahre, bis er fünfundsechzig ist, dann wäre er rentenberechtigt. Also haben wir uns entschlossen, ins Wasser zu springen, das heißt, in den Westen zu gehen, damit er arbeiten und seine Rentenanspruch vollmachen konnte. Ich konnte nicht mehr arbeiten. Ich hatte 1989, kurz vor der Wende, einen Schlaganfall und war nicht mehr in der Lage, zu arbeiten. Das war mit entscheidend, sodass er gesagt hat: ,,Das geht nicht, du bist krank, du kannst nicht mehr arbeiten, auch wenn die Kinder jetzt aus dem Haus sind und ihren eigenen Haushalt haben. Jetzt muss ich Geld verdienen und für unseren Unterhalt sorgen“. Da sind wir wieder in den Westen gezogen, nach Langenselbold bei Hanau, nördlich von Frankfurt, und dort haben wir elf Jahre gelebt. Durch seine sechzigprozentige Schwerbeschädigung konnte er vorzeitig, mit sechzig Jahren, in Rente gehen.

Unsere Kinder lebten hier und wir sind oft zu ihnen gefahren, wie das so üblich ist. Wir haben dann so erzählt, dass wir uns eigentlich gut vorstellen könnten, wenn wir wieder zurückgingen. Das ist doch unsere Heimat, hier haben wir den größten Teil unseres Lebens verbracht, die Kinder groß gezogen und wir waren hier gut versorgt. Arbeit nehmen wir hier auch niemanden mehr weg, weil das immer so ein Problem war, mit der zwischenmenschlichen Beziehung. Wir haben unseren Kindern gesagt, dass wir wieder zurückkämen, wenn sie eine schöne Wohnung für uns finden würden. Es waren immerhin fünfhundert Kilometer Entfernung gewesen, da kann man nicht so schnell einmal hin und her fahren. Die Kinder haben sich bemüht und innerhalb eines halben Jahres war das alles erledigt. Seit August 2004 wohnen wir hier. Das ist so problemlos gelaufen als würde das alles geleitet. Es war schon kurios. Wenn wir das heute rekonstruieren, können wir sagen, das musste so sein.

Über Langen: Mitte der fünfziger Jahre ist von der Gemeinde Langen beschlossen worden, dass die Mormonen ein Gebiet zugewiesen bekommen, wo sie ihre Häuser bauen konnten und wo sie das Gemeindehaus bauen durften. Es lag an der Bahnlinie zwischen Frankfurt und Darmstadt. Viele Geschwister haben Langen als das Sprungbrett für Amerika benutzt und haben dort nur für die Übergangszeit gewohnt. Es kamen viele aus Cottbus oder anderen Gegenden, die sich dort nur für kurze Zeit aufhalten wollten, wie Familie Horn ,Bruder Eckert, Schwester Moderegger, kann ich mich noch erinnern, sie hatte auch Klavier oder Harmonium gespielt, Bruder Fiedler, Bruder Moderegger [der kein Mitglied war]. Es war ein richtiges großes Wohngebiet mit Einfamilienhäusern, das von der Gemeinde aus dirigiert wurde. Gegenseitige Hilfe war dort sowieso vorausgesetzt, damit keiner alleine dastand. Es hat auch vielen Gemeindemitgliedern geholfen, dass sie ein festes Zeugnis gehabt haben und dass sie so ihre Umsiedlung nach Amerika gut bewältigen konnten. Es waren auch sehr viele kinderreiche Familien dabei, mit vier Kindern aufwärts. Es waren nicht wenige, die darauf gewartet haben, auswandern zu können. Gerade die Familie Horn, das war eine ganz große Familie, allerdings sind sie nach Edmonton, Kanada ausgewandert. Es gibt keine Bezugsdaten mehr. Alle meine Briefe kamen zurück. Man hat sich aus den Augen verloren und auch die Beziehungen zu den einzelnen Mitgliedern gingen verloren.