Chemnitz, Sachsen

Mormon Deutsch Siegfried Herbert KretschmarIch bin Siegfried Herbert Kretschmar und wurde am 15. Aug 1939 in Chemnitz geboren. Wir wohnten in Chemnitz/Süd, in der Brauhausstraße Nr.5. Das war ein Arbeiterviertel. 1942 wurde mein Vater (Helmut Kretschmar) in den Krieg einberufen, sodass meine Mutter (Frieda Ritchel), mein sieben Jahre älterer Bruder und ich alleine in Chemnitz zurückblieben.

Ich kann mich noch sehr stark an der damaligen Zeit im Krieg erinnern und mein ganzes inneres Leben richtet sich noch daran aus, so dass ich immer noch Probleme damit habe, wenn ich Sirenen höre und alles, was mit Krieg zu tun hat. Es ist kaum, oder sehr schwer diese Eindrücke zu verkraften. In den letzten Tagen, als Dresden bombardiert wurde – wir haben abends in der Feme den hellen Lichtschein gesehen – Chemnitz war der nächste Ort, der bombardiert wurde.

In dem Stadtviertel (Chemnitz Süd), in dem wir wohnten, ist alles kaputt gewesen, alles, so wie in Dresden. Es stand kein Haus mehr, nichts mehr. Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir täglich mehrfach in den Luftschutzkeller gegangen sind. Vom Fenster aus haben wir die Flugzeuge gesehen, wie sie vorbei geflogen sind und wir haben auch deren Schatten vom Keller aus gesehen, wie sie an den Häusern vorbei geflogen sind. Nachts haben sie Leuchtbäume gesetzt – wir haben Christbäume dazu gesagt. Immer war diese Angst da und wir sind in unseren Sachen immer wieder in den Keller, also hoch- und runter gerannt. Das ging ungefähr acht Tage lang so, dann wurde auch unser Haus getroffen. Das war die schlimmste Nacht. Da wurde alles kaputt gemacht. Zuerst wurde das Krankenhaus bombardiert, das war drei Tage vorher, und sie konnten es nicht löschen. Sie haben gelöscht, aber es fing immer wieder zu brennen an. Dieser Lichtschein hat praktisch die Flugzeuge wie angezogen und es wurde alles vernichtet, das ganze Viertel wurde kaputt gemacht. Wir waren im Keller und ich weiß noch, wie Feuer die Treppe runter gelaufen kam, das war Phosphor, und wir waren unten eingeschlossen. Wir mussten durch das Feuer raus gehen. Wir haben in einer Wanne Decken nass gemacht und uns übergeschmissen und sind durch das Feuer auf die Straße gerannt. Als wir draußen waren, war nur ein Flammenmeer zu sehen, die ganze Straße entlang. Rechts und links waren nur Flammen und alles war kaputt. Wir sind nur gerannt.

Es gab Auffangstationen, die wir aufsuchen sollten, wenn etwas sein sollte. Dort sind wir hingelaufen und sind unter anderem – das sind solche Sachen, an die ich mich gut erinnern kann – eine Straße entlang gelaufen, wo der Friedhof war, dort sind die Bomber gekommen und haben auf die Kinder und die Frauen mit der Bordkanone geschossen. Neben uns sind Frauen und Kinder umgefallen und wir sind gerannt, gerannt, damit wir unser Leben retten konnten. Es war kein Mann dabei, nur Kinder und Frauen. Als wir an dieser Auffangstation angekommen waren, war die schon kaputt. Dort war auch nichts mehr. Wir haben uns auf der Straße hingelegt und gewartet, bis der Morgen kam. Ältere Männer, die nicht beim Wehrdienst waren, sind zurückgegangen und haben nachgesehen, ob aus dem Haus noch etwas zu retten war. Aber sie kamen zurück und sagten, dass alles kaputt sei. Wir hatten nur das, was wir auf dem Leib hatten. Wir hatten weder Ersatzkleidung noch Decken oder Speisen, gar nichts. Alles war weg, alles verbrannt.

Von dort aus sind wir Richtung Leipzig gelaufen, das sind von Chemnitz aus ungefähr siebzig Kilometer. Kurz vor Leipzig kamen wir in einen Ort und dort hat uns eine Bauernfamilie aufgenommen. Sie hatten meine Mutter, nur mit mir und meinen Bruder an der Hand gesehen und sie haben gesagt: ,,Hier könnt ihr eine Weile bleiben“. Ich konnte das erste Mal wieder in einem richtigen Bett schlafen. Wir durften dort aber nicht bleiben, weil irgendwelche Behörden gesagt hatten, dass das nicht ginge. Ich weiß nicht mehr, welche Gründe das waren, dass wir weggehen mussten. Wir hatten aber noch eine Großmutter in Freiberg. Zu dieser Großmutter sind wir gegangen. Sie war schon sehr alt und konnte das alles nicht verstehen. Ich weiß noch, wie sie sagte: „Wieso habt ihr euer schönes Zuhause verlassen?“ Wir haben ihr gesagt, dass doch alles kaputt sei, aber das konnte sie nicht begreifen. Wir sind dann bei einem Onkel in Freiberg, Arthur Mauermann, untergekommen. Er hat uns ein Zimmer gegeben, bis wir 1946 eine „Wohnung“ bekommen haben. Wir haben eine sehr bescheidene Bleibe bekommen, notdürftiger weise. Wir hatten ja kein Geld, nichts.

Ich hatte keine gute Kinderzeit. Ich kannte nur Hunger und Armut. Es gab ja nichts zu essen zu kaufen. Viele Leute aus der Stadt sind zu den Bauern aufs Dorf gegangen und haben mit dem, was sie hatten (Kleider, Bilder, Schmuck u.a.m.), mit den Bauern getauscht für Lebensmittel. Wir hatten nichts zum Tauschen. Wir haben uns selbst Messer und Gabel ausgeliehen. Ich bin zu den Bauern um etwas essbarem betteln gegangen. In dem Sinne hatte ich eine ganz schlechte Zeit.

Am 14. März 1945 wurden wir ausgebombt. Bis Mai war noch Krieg. Da ging es uns, wie gesagt, äußerst schlecht. Wenn Bombenangriffe waren und die Sirenen angingen, haben wir gezittert. Wir sind nicht mehr in den Keller gegangen. Wir konnten die Erlebnisse der Zerstörungsnacht nervlich nicht mehr verkraften. Sobald diese Sirene losging, sind wir weit weg aus der Stadt in den Wald gegangen und haben uns dort versteckt. Die Angst und die Sirenen, das war furchtbar. Diese Ereignisse haben mir innerlich einen ganz schönen Schlag versetzt.

Ich bin die ganze Zeit ohne Vater groß geworden. Mein Vater ist 1942 in den Krieg eingezogen worden und ist erst 1949 aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen. Er war in Omsk (Russland), am Ural, in Gefangenschaft. Wir wussten aber, dass er lebt und Post haben wir auch von ihm bekommen. Ich kannte meinen Vater überhaupt nicht, nur aus Erzählung meiner Mutter. Als er in den Krieg gegangen ist, war ich drei Jahre alt. Ich weiß noch, dass er einmal in Urlaub gekommen war. Bevor er nach Russland gegangen ist, haben wir ihn in Österreich, in der Steiermark, wo er stationiert war, besucht. Da war ich drei, dreieinhalb Jahre alt und deshalb weiß ich nicht mehr viel davon.

Weil mein Vater so spät zurückgekommen ist, habe ich nie ein richtiges, liebevolles Verhältnis zu ihm kennengelernt. Ich war zehn Jahre alt, als er wiedergekommen ist. Ich kannte ihn nicht. Das Verhältnis zu meinem Vater hat sich nicht besonders aufgebaut, ich hatte mehr eine gute Beziehung zur Mutter. Wir haben zusammen gehungert und den Krieg erlebt, so haben wir uns zusammengerauft. Ich war der Kleinste, und wenn wir zu den Bauern betteln gegangen sind, habe ich meistens etwas bekommen ¬meistens. Ich kann mich noch an Weihnachten 1946 erinnern. Da haben wir in die Stube, es war aber unser Schlaf- und Aufenthaltsraum gesessen, es war sehr kalt und wir hatten auch nichts zu essen. Eine Nachbarin hat uns dann getrocknete Kartoffelschalen und geschenkt, daraus wurde eine Suppe bereitet und das haben wir Weihnachten, abends, gegessen. Es war schon ein bitteres Dasein.

Der alltägliche Ablauf war in der Regel folgender: Nach dem Frühstück (wenn etwas zu essen da war, meistens gab es nur etwas zu trinken) ging es in den Wald um Tannennadel auf zu kehren und in Säcke zu packen. Sie wurden zum Heizen bzw. kochen verwendet. Holz (Äste an den Bäumen gab es in erreichbarer Höhe nicht mehr). Danach wurden nach Pilze und Kräuter gesucht. Anschließend ging es über ein in der Nähe liegendes Dorf (von Bauer zu Bauer), um etwas an Essbaren zu erbitten. Wir sind dann am Späten Nachmittag wieder zu Hause angekommen. Danach wurde, von dem Ersammelten, eine Speise bereitet. Nach dem Essen wurden noch ein paar Geschichten, meist selbst erfundene, erzählt (in den Schriften konnten wir nicht lesen, wir besaßen keine), danach ging es auf den Strohsack zum schlafen. Spielzeug für mich gab es nicht. Die späteren Jahre, als mein Vater da war, ging es uns natürlich besser. Ich bin dann zur Schule gegangen und habe auch meine Ausbildung als Kfz-Schlosser 1957 beendet.

Ich bin in der Kirche aufgewachsen. Meine Oma ist in der Kirche gewesen und meine Eltern waren in der Kirche. Mit acht Jahren bin ich am 16. August 1947 getauft worden. In der Zwischenzeit habe ich auch rege am Kirchenleben teilgenommen. Ich war ziemlich aktiv und nahm an allen Jugendtreffen teil. Nachdem ich ein eigens Fahrrad besaß, sind wir dorthin natürlich mit dem Rad gefahren. Ich war sehr viel mit dem Fahrrad mit Bruder Manfred Fleischer unterwegs, das war mein Freund, er war ein Jahr älter als ich. In den Schulferien sind wir einmal mit dem Fahrrad nach Wolgast hochgefahren. Dort hat Bruder Krause, er ist ja bekannt, sein Domizil gehabt. Zu ihm sind wir mit dem Fahrrad gefahren und haben dort oben ein paar schöne Tage auf dem Heuboden verlebt.

Mitte der 50ziger Jahre folgten viele Geschwister den Aufruf ,,kommt nach Zion“. Es sind sehr viele Familien von hier nach Utah gegangen. Mein Freund ist auch mitgegangen, auch die Familie Baumgart, Fleischer, Hegewald und wie diese Großfamilien alle hießen.

Als ich achtzehn Jahre alt wurde und ausgelernt hatte – mein Vater war ein bisschen ängstlich in dieser Richtung – wollten wir auch gehen. Wir sind übereingekommen, dass ich voranschreiten und nach Westdeutschland, Langen/Hessen fahren sollte. Langen war so etwas wie das Auffanglager für Ostdeutschland, bis es dann weiter nach Utah ging. Es lag nicht weit vom Flughafen Frankfurt entfernt. Die Kirche hatte dort ein paar Wohnungen. Als ich nach dem Grenzübertritt in Westdeutschland war, ging ich erst einmal nach Darmstadt, hier lebte vorübergehend mein Freund bei dem ich die erste Zeit in einem Zimmer wohne durfte. Dort habe ich gearbeitet und habe mich dann in der Gemeinde Langen/Hessen bei Bruder Hans Fiedler (damaliger Gemeindepräsident) umgehört wegen einer Wohnung für meine Eltern. Das hat dann auch geklappt. In Langen wurde eine Wohnung frei. Ich habe meinem Vater geschrieben: ,,Ihr könnt kommen, ich habe eine Wohnung besorgt“. Sie wollten nicht ins Ungewisse, das kann man auch verstehen. Als es soweit war, ist mein Vater bis nach Berlin gefahren, um in Berlin über die Grenze zu gehen. Er ist eine Nacht in Berlin gewesen, hat seine Sachen gepackt und ist wieder zurückgefahren. Er hat das sein lassen. Ob er Angst gehabt hat, dass weiß ich nicht. Jedenfalls ist er nicht gekommen und ich war drüben alleine.

Ich habe dann meiner Tante, die damals in Amerika gelebt hat, geschrieben, dass ich in Westdeutschland bin und meine Eltern nicht mitkommen, aber ich alleine gerne ausreisen möchte. Sie hat mir einen Brief geschrieben: (Leider habe ich ihn nicht aufgehoben, damals als Jugendlicher). Na ja. ich sei noch sehr jung und sie müsste für mich bürgen und sie kenne mich nicht und dies und jenes. Habe also eine Absage ich bekommen. Da bin ich in Langen hängengeblieben

Hier lernte ich 1957 bei einer Jugendveranstaltung der Kirche, meine Frau kennen. 1960 bin ich wieder zurück in die DDR gegangen, weil ich generell alles, was mit dem Krieg zu tun hatte, aus der Kindheit heraus, abgelehnt habe. In Westdeutschland habe ich 1960 einen Einberufungsbefehl bekommen. Ich sollte dort zur Bundeswehr gehen. Das ist nicht mein Ding gewesen und es gab noch ein paar andere Gründe, wie zum Beispiel mit der Wohnung. Es kam für mich so viel zusammen. Meine Mutter schrieb mir dann: ,,Komm wieder zurück, du kannst jederzeit bei uns wohnen“. Da bin ich wieder hier her, nach Freiberg/Sachsen, gekommen. Hier habe ich auch sofort Arbeit gefunden und nachdem meine Frau ihre Lehre in Langen abgeschlossen hatte, folgte sie mir und wir Heirateten am 14. Mai 1960.

Damals war es noch freiwillig zur Armee zu gehen. Natürlich bin ich nicht gegangen. Später, als die Mauer gebaut wurde, und wir nicht mehr zurück konnten, kam die Verpflichtung, zur Armee zu gehen. Ich habe mich bis zuletzt gesträubt. Zum Termin der Musterung hatte ich etwas mit dem Arm und mit dem Gelenk und musste dort wieder und wieder zu Untersuchungen gehen. Das hat sich dann alles heraus gezögert. Ich hatte immer etwas. Als ich den Termin zur Einberufung hatte, habe ich mir den Blinddarm herausnehmen lassen, lauter solche Kleinigkeiten. Ich bin nicht gegangen. Natürlich gab es auch Ärger mit der DDR-Behörde, weil ich nicht zur Armee gegangen bin, weil ich ja dann gegen den Staat gewesen bin. Aber ich habe mich soweit durchringen können, dass sie mich nur zur Reserve vier gemustert haben. Das heißt, in allergrößter Not und in rückwärtigen Diensten, wie Schreibstube oder ähnliches. Damit konnte ich mich dann zufriedengeben. Ich habe dann gesagt, dass ich gegangen wäre, aber das ginge ja nicht, das hatte ich schriftlich. Ich bin also nicht zur Armee gegangen. Meine Söhne sind auch so erzogen worden, alle beide, sie sind auch nicht bei der Armee gewesen.