Wien, Österreich
Ich bin Edeltraud Johanna Anna Franziska Agnes Wallner. Mein Vater hat Johann Wallner geheißen und meine Mutter Agnes Josefa Wallner, geborene Neubauer. Ich bin am 2. Januar 1936 in Wien geboren. Meine ersten intensiven Erinnerungen gelten meinem Vater. Ich kenne ihn eigentlich nur krank und bettlägerig. Als er krank geworden ist, war ich drei Jahre alt. Er ist immer weniger geworden. Einmal hat er den Ausspruch getan: „Edel haben wir sie getauft, und am Ende ist sie es geworden.“ Ich war ein sehr lebhaftes Kind. Zum Beispiel bin ich immer auf die Tür hinauf geklettert. Auf der Tür habe ich hin und her geschaukelt. Dort habe ich meine Bilderbücher angeschaut, auf der Tür habe ich auch lesen gelernt. Da der Arzt fast täglich zu meinem Vater gekommen ist, kam ich zu ihm, als ich einmal von einem Baum gefallen bin. Ich hatte mir den Fuß verletzt. Als er mich fragte, wie das geschehen ist, sagte ich ihm, dass ich an einem Baumast hängengeblieben bin. Er sagte daraufhin: „Ist dir die Tür nicht mehr hoch genug?“ Er hat mich nämlich immer, wenn er kam, auf der Tür vorgefunden.
Als ich zwei Jahre alt war, hat der Krieg begonnen. Am Anfang habe ich nicht sehr viel mitbekommen. Mir ist es zuerst sehr gut gegangen. Aber je länger der Krieg gedauert hat, je mehr habe ich ihn miterlebt. Meine dritte Volksschulklasse habe ich eigentlich mit sechs Jahren schon gemacht. Einmal ist eine Schule durch eine Bombe zerstört worden. Ein anderes Mal ist eine Schule als Lazarett verwendet worden. Und ein nächstes Mal war wieder etwas Anderes. Jedenfalls bin ich in meiner dritten Volksschulklasse in sechs verschiedenen Schulen gewesen. Zwischendurch ging es dann immer wieder in den Luftschutzkeller. Einmal sind wir auch verschüttet worden. Einen ganzen Tag war ich in einem finsteren Keller. Meine Mutter hatte eine Decke über mich geworden, so dass ich nicht allzu viel von dem ganzen Staub abbekommen habe. Aber es war ein sehr dramatisches Erlebnis für mich. Es wirkt bis heute nach. Ich mag keine engen Räume oder Höhlen oder irgendeinen Platz, an dem es dunkel ist. Alles, was mich einengt oder mir das Gefühl vermittelt, eingesperrt zu sein, mag ich nicht ertragen.
Im Jahre 1945 sind wir noch ausgebombt worden. Ich bin dann eine zeitlang bei meiner Tante gewesen. Das war dann meine siebente dritte Volksschulklasse. Diese Tante, Anna Wallner, war eine strenge Kindergärtnerin nach altem System. Sie war nicht so, wie man heute die Kindergärtnerinnen kennt, die sehr liebevoll sind. Sie war eher eine sehr, sehr strenge Tante. Und es war für mich eine sehr schwierige Zeit. Denn weil ich ein sehr lebhaftes Kind war, hatte ich dort große Schwierigkeiten. Ich musste immer bei ihr am Tisch sitzen und durfte mich kaum bewegen. Und das war für mich furchtbar. Als dann meine Mutter eine Ersatzwohnung bekommen hatte, bin ich wieder zu ihr zurückgekehrt.
Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich meinen Bruder sehr gerne gehabt habe. Ich habe ihn sehr geliebt. Er war zehn Jahre älter als ich, und wir haben uns gut verstanden. Ich war für ihn die kleine „Edi“ und er war für mich der „Wiwi“ obwohl sein Name Gottfried war. Schon als kleines Kind habe ich alle Süßigkeiten, die ich zu Ostern oder aus einem anderen Grund bekommen habe, meinem Bruder zugesteckt. Am 2. Januar 1944, es war mein Geburtstag, ich hatte gerade Mumps, und es ging mir eh nicht sehr gut, da kam die Nachricht, dass mein Bruder gefallen ist. Das war ein sehr trauriger Tag für mich.
Wir sind dann von Wien weggezogen, weil meine Mutter große Angst vor den Russen hatte. Während des Krieges waren mein Vater, meine Großmutter und mein Bruder gestorben. Meine Mutter hatte zwei Töchter und hatte Angst vor den Russen. So sind wir von Wien nach Deutschland gezogen. Dort haben wir für ein Jahr auf einem wunderschönen Bauernhof gelebt. Ich hatte von allem genug, genug Milch, genug zu essen. Als ich dann wieder nach Wien kam, war ich eigentlich ein gut ernährtes Kind im Gegensatz zu den anderen Kindern. Als es in der Schule einmal eine Untersuchung gab und ein amerikanischer Arzt gekommen ist, um herauszufinden, welche Kinder unterernährt sind, um sie zu verschicken, damit die sich erholen, hat er mir auf den Bauch geklopft und gesagt: „All right!“ Ich war das einzige Kind, das normal ernährt war in unserer Klasse. Das war, nach dem der Krieg schon ein Jahr beendet war, als wir nach Österreich kamen.
Zuerst haben wir bei einer Freundin meiner Mutter gelebt, weil wir keine Wohnung hatten und auch das Geschäft nicht mehr war. Es war eine Kunsthandlung, die ziemlich durch die Bomben beschädigt worden war. Es hat dann ziemlich lange gedauert, bis man meiner Mutter als kriegsgeschädigter eine Wohnung zugewiesen hat. Ein Zimmer und eine Küche. Aber die hat sie dann meiner Schwester zur Verfügung gestellt, weil meine Schwester zu dem Zeitpunkt gerade geheiratet hat. Wir sind in das Kabinett meines Schwagers gezogen und haben dort einige Jahre gelebt, bis auch wir eine Küche und ein Zimmer bekommen haben.
Aber ich kann gar nicht sagen, dass ich meine Kindheit als so grausig empfunden habe. Vor dem Bombenalarm habe ich mich gefürchtet, das ist wahr. Aber es gab auch schöne Zeiten. Da ist zum Beispiel die Adventszeit. Ich weiß nicht, wie meine Mutter das gemacht hat, aber wir hatten zu dieser Zeit nie das Gefühl, dass Krieg ist. Meine Mutter hatte immer schon am „Campustag“ die erste Weihnachtsbäckerei. Und wir durften so viel essen wie wir wollten. An jedem Adventsonntag haben wir zusammen gesessen und haben gebastelt und gesungen. Das war eine sehr schöne Zeit, obwohl es Krieg war. Wir mussten alle Fenster gut verdunkeln. Es durfte kein Licht nach draußen scheinen. Meine Geschwister hatten ihre Freunde dabei, und alle zusammen haben wir gesungen.
Nach dem Krieg bin ich dann die letzten zwei Monate noch einmal in die letzte dritte Klasse gegangen, bis das Schuljahr zu Ende war. Danach konnte ich normal die Schule weiter besuchen. Ich bin dann auch in den Turnverein eingetreten. Ich hatte eine sehr, sehr schöne Jugend, habe sehr viel Sport getrieben, hatte sehr viele Freunde; Freunde, mit denen ich heute noch zusammen bin. Alle, die noch leben, mit denen treffe ich mich jede Woche, um mich mit ihnen zusammen körperlich zu ertüchtigen. Mit zehn Jahren bin ich dem Turnverein beigetreten, und heute bin ich über siebzig Jahre alt und noch immer dabei. Und es sind noch immer Freunde dabei, die mit mir mit zehn Jahren angefangen haben.
Ich habe dann eine Lehre begonnen. Es war nicht das, was ich gerne gemacht hätte, denn dafür habe ich keinen Lehrplatz erhalten. Eine Kaufmannsgehilfenlehre habe ich dann begonnen und den Beruf auch bis zu Ende ausgeübt. Ich war aber sehr zufrieden mit dem was ich tat. In den späteren Berufsjahren habe ich mich in der Computertechnik weitergebildet. In den letzten Jahren konnte ich die allererste IBM Maschinen, diese großen mechanischen Maschinen, kennenlernen. Ich habe die Entwicklung bis zu den heutigen kleinen Mikrochips miterlebt, mit denen man heute arbeitet. Ich habe praktisch diese ganze Generation, bis zu meinem Berufenden, miterlebt.
Ich war etwas über zwanzig Jahre alt, als meine Schwester und meine Mutter die Kirche kennen gelernt und sich der Kirche angeschlossen haben. Ich habe mich der Kirche nicht angeschlossen, weil ich aktive Sportlerin war. Fast jeden Sonntag habe ich Basketball gespielt. Wir waren österreichischer Jugendstaatsmeister und dann österreichischer Damenstaatsmeister, und wir haben fast immer am Samstag oder Sonntag gespielt. Und am Sonntag in die Kirche gehen und nicht Basketball spielen, das konnte ich nicht so schnell. Ich habe gute drei Jahre gebraucht, um den Leistungssport aufzugeben. Und dann habe ich mich taufen lassen. Ich bin nicht von den Missionaren belehrt worden. Meine Mutter und meine Schwester sind von den Missionaren belehrt worden. Da habe ich schon einige Belehrungen mitbekommen. Bevor meiner Taufe war ich des Öfteren in der Kirche, war auf Ausflügen dabei und war schon Bienenkorblehrerin, bevor ich überhaupt getauft worden war. Zu der Zeit hatten wir eine kleine Gemeinde in der Seidengasse. Das waren die 1956 bis 1959 Jahre. Eigentlich bin ich in der Kirche in den Klassen belehrt worden und nicht von den Missionaren. Es war das Jahr 1959, als ich mich der Kirche angeschlossen habe. Dann hatte ich alle möglichen Berufungen, angefangen von der GFV-Leiterin, JD-Leiterin oder FHV-Leiterin, auch in dem Pfahlbereich oder Großdistrikt, damals noch Österreichische Mission geheißen. Aber zuerst waren wir ein Großdistrikt, und erst dann sind wir zu einem Pfahl geworden. Ich bin auch sehr viel herumgereist und habe andere Gemeinden besucht.
Eines Tages sind amerikanische Soldaten zu uns in den Turnverein gekommen und haben uns angeboten, zu ihnen in die Stiftskaserne zu kommen, wo sie stationiert waren, um uns das Basketball spielen beizubringen. Unsere Trainer waren am Anfang ein bisschen skeptische. Ausländer! Besatzungsmacht! Sie wollten zuerst gar nicht, dass wir dorthin gehen. Aber irgendwie müssen sie sich das überlegt haben; denn wir durften dann zu den Amerikanern gehen. Wir waren damals dreizehn, vierzehn Jahre alt und haben von diesen amerikanischen Soldaten in der Stiftskaserne das Basketballspielen erlernt. Ja, und darum waren wir damals auch Staatsmeister. Wir haben von den Profis gelernt, denn in Österreich kannte man dieses Spiel zu der Zeit noch nicht. Das war eine sehr gute Erfahrung. Wir waren also im Vorteil, weil Profis unsere Lehrer waren. Zu der Zeit begann man in Österreich erst mit dem Basketballspielen. Bei uns hat es Korbball gegeben. Das Spiel hatte andere Spielregeln.
Als wir damals von Wien fort gingen, sind wir mit dem Pferdewagen gefahren. Zurückgekommen sind wir mit dem Zug. Von Wien sind wir noch mit dem Zug abgefahren. Dann ist das deutsche Militär gekommen und hat gesagt, dass die Russen kommen. Die Zivilbevölkerung ist dann in Militär-LKWs eingeladen und mit diesen weitertransportiert worden. Die Fahrt ging über Wald- und Wiesenwege, und wir sind auch steckengeblieben. Dann wurde alles Gepäck hinaus aus den Autos geworfen, und die Menschen sind wieder eingestiegen, damit diese gerettet werden konnten. Die Autos, die auf den Wiesen stecken geblieben waren, sind vom Militär angezündet worden, damit sie nicht den russischen Panzern, die aus dem Wald herauskamen, in die Hände fielen. Dann waren wir eine Woche in amerikanischer Gefangenschaft. Da haben wir unter freiem Himmel geschlafen. Das war für mich gar keine schlechte Zeit. Es war schönes Wetter in dieser Woche. Abends habe ich dagelegen und habe die Sterne am Himmel bewundert. Wir haben auch täglich Brot erhalten. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich damals gehungert habe. Dann hat man zehn Personen von uns Pferd und Wagen gegeben, einen Planwagen und zwei Pferde, und dann wurde uns gesagt, dass wir hinfahren könnten wohin wir wollten. Da wir mit einer Bekannten geflüchtet waren, die in Westfalen Verwandte hatte, sind wir mit ihr nach Westfalen gekommen.