Mainz-Gonsenheim, Rheinland-Pfalz

Ich heiße Heinrich Lersch, ich bin am 11. Februar. 1930 in Mainz Gonsenheim geboren, Vater Josef Lersch, meine Mutter Johanna Saßmannshausen. Ich habe sehr frühe Kindheitserinnerungen. Wir wohnten zuerst noch bei meiner Großmutter, Emma Scheuer und meine Großmutter konnte nur ein Ding zeichnen, das war ein Ziegenbock. Ich hatte nur einen Wunsch, sie möge mir einen Ziegenbock zeichnen. Ich sagte zu ihr „Oma Gaisbock schreiben!“.

Sie hatte nur kariertes Papier und hat mit in einem Bleistift mit unbeholfenen Strichen einen Ziegenbock gezeichnet, worüber ich mich sehr gefreut habe. Ich habe gerne mit Wasser gespielt, aber das hat man nicht gerne gesehen, da das Wasser Geld kostete. Es gab eine schwarz weiß gesprenkelten Spülstein, eine Abwasch, ein Spülbecken, da war ich immer am Wasserhahn und wollte Wasser trinken, doch der war so fest zugedreht, dass ich darum betteln musste. „Oma ein Schlückchen Wasser“.

Als ich drei Jahre alt war sind wir nach Uslar in Solling gezogen, mein Vater hat dort Arbeit gehabt, als Lohnbuchhalter und dort habe ich dann sechzehn Jahre gelebt. Ich bin dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. Es war ein kleines Städtchen in einer landwirtschaftlichen Gegend und einer großen Fabrik, die Möbel herstellte. Dort hat mein Vater eine zuverlässige Arbeit gehabt. Später hat er mir erzählt, er habe drei Möglichkeiten gehabt: eine, nach Berlin zu gehen; eine, nach Hannover zu gehen und eine, in das kleine Städtchen zu gehen. Aber er hätte die Ahnung gehabt, es werde einen Krieg geben, das war 1939. Deshalb ist er in die kleine Stadt mit uns gezogen.

Mein Vater kam aus einer niedergegangenen bürgerlichen Familie. Seine Vorfahren waren Schmiede und Kesselschmiede gewesen und hatten mehrere Werkstätten. Sein Großvater hat diese Werkstätten an seine Söhne vererbt, aber durch die Elektrifizierung wurden Dampfkessel immer weniger nötig. Nach dem ersten Weltkrieg, als die Deutschen die Reparationen nicht bezahlen konnten, sind Franzosen ins Ruhrgebiet einmarschiert und haben Fabriken demontiert, so auch die Schmiede meines Großvaters. Dadurch gab’s in der Familie einen Niedergang. Mein Vater hatte allerdings einerseits der Wunsch nach Bildung, andererseits eine Besessenheit von guten Tischmanieren. Als ich so mit dreieinhalb Jahren beim Essen schmatzte, war seine erste Reaktion, mich groß anzuschauen, die zweite Reaktion mich anzuschreien mit meinem Vornamen Hein, beim dritten Mal nahm er eine Peitsche, das war eine Holzstich mit Lederstreifen dran und schlug mich damit. Das ging so weit, dass meine Mutter diese Peitsche verbrannte. Aber mein Vater war darüber nicht böse. Er war bei der Arbeit sehr gefordert, sehr nervös, er hatte diese Arbeit nicht gelernt. Er war ein gelernter Landwirt. In der Zwischenkriegszeit war das eine Möglichkeit für seine Mutter, die sechs Kinder hatte, ihre Familie zu versorgen, so dass sie genug zu essen hatten.

1940 bekam ich einen kleinen Bruder. Ich kann mich gut an diesen Tag erinnern. Wir Kinder spielten an einem grünen Abhang neben der Molkerei und warfen abgeschnittene Dosendeckel in die Luft, die flogen so schön im Wind. Da kam mein Vater um die Ecke gelaufen und rief „Hein, komm, du hast einen kleinen Bruder bekommen!“ Das war am 20. April 1940, dem Geburtstag von Hitler. Mein Vater war kein Nationalsozialist, aber er hat meinem Bruder doch den Namen Adolf gegeben. Er hatte Hitler insofern verehrt oder anerkannt, und das haben viele getan, weil Hitler Deutschland aus einer großen Arbeitslosigkeit herausgeführt hat. Wie ist eine andere Frage.

Das haben viele nicht gewusst, dass viele Juden ihre Arbeit verloren, viele jüdische Geschäfte in deutsche Hand überführt wurden, aber für die Arbeitslosen war es wichtig, dass sie Arbeit hatten. Es war viel Kriegswirtschaft dabei, das wissen wir heute. Aber damals ging es den Leuten darum wieder Arbeit zu haben, Geld zu verdienen und eine Aussicht zu haben ein normales Leben zu führen. Meine Mutter war eine sehr fleißige Frau, die auch aus sehr kleinen Verhältnissen kam. Ihr Vater war ein russischer Kriegsgefangener gewesen. Meine Großmutter war eine Witwe mit vier Kindern und als ihr schon älterer Mann starb, hat sie selbst gearbeitet und im ersten Weltkrieg war das Leben sehr ärmlich. Die Kinder haben Hunger gehabt, viele haben Hungertyphus gehabt, meine Mutter auch. Nach dem Frieden von Brest-Litowsk 1916/17 hat man den russischen Kriegsgefangenen in Deutschland die Möglichkeit eröffnet in Deutschen Betrieben zu arbeiten. So bekam meine Großmutter einen russischen Kriegsgefangenen zu arbeiten. Er war offensichtlich ein netter Mensch. Meine Großmutter hat ihn offensichtlich geliebt. Aus dieser Liebe ist das Kind, meine Mutter entstanden. Aber sie konnten nicht heiraten, weil mein Großvater gar keinen Pass besaß, er hieß Iwan Jemtchenko. 1921, gab es einen evangelischen Pfarrer, der darauf drang, dass die beiden heiraten sollten. Dann ist mein Großvater nach Russland gefahren und ist verschollen. Später hat jemand gesagt, er sei an der rumänischen Grenze erschossen worden, es war damals Bürgerkrieg in Südrussland und da ist alles möglich.

Ich glaube, schon als Dreijähriger habe ich mitgekriegt, dass Krieg war, denn im Radio hat man gehört von Truppenbewegungen. Am Anfang haben die deutschen Truppen überall gesiegt und von daher waren wir völlig sorglos aber einer meiner späteren Schulkameraden, hat schon in den ersten Tagen seinen Vater verloren, sein Vater fiel schon in Frankreich. Zu einem militärischen Tod hat man gesagt, er ist gefallen oder er ist im Felde geblieben. Das war eine politische Umschreibung eines grausigen Todes, wie er im Krieg sein kann. Der Vater von Fritz gegenüber, der war Fallschirmjäger und ist in Kreta umgekommen. In unserem kleinen Städtchen hat man nur vom Krieg etwas mitgekriegt, weil so viele Männer weg waren. Als ich dann 1942 in die Schule kam, da gab es fast nur noch Lehrerinnen. Lehrer waren alle eingezogen, das heißt, sie mussten zum Militär.

Auch kam Karl Reichert, ein sehr netter junger Mann aus unserer Straße. Ich kann mich gut erinnern, als wir in dieses Städtchen gezogen waren, gab es viele Jungs, die sich dumme Späße mit den Kleinen Kindern machten. Sie zogen ihr Taschenmesser heraus und sagten „Ohren abschneiden, Ohren abschneiden!“ Und Karl Reichert, der einer aus der Altersgruppe war, der hat ihnen das abgewöhnt. Im Gegenteil einmal zu Ostern hat er angeregt, kleine Zuckereier zu streuen für die kleinen Kinder auf dem Rasenstreifen zwischen zwei Fahrbahnen unserer Straße und die kleinen Kinder suchen zu lassen. Und seit Karl Reichert das gemacht hat, haben die großen Jungs uns nicht mehr geärgert. Ich kann mich gut erinnern, es war ein sonniger Tag und Karl Reichert war gemustert worden.

Ich habe ihn auch beim Jungvolk mitmarschieren sehen. Und ein- zwei Mal in der Woche mussten sie marschieren, sie zogen in Uniform singend durch die Straßen im Marschschritt. Was wir kleinen Kinder nicht so mitbekommen haben, dass sie auch Geländespiele gemacht haben. Der Hitler hatte die Absicht seine jungen Männer abzuhärten und kampftüchtig zu machen. Sie sangen Lieder, die uns alle im Kopf waren. z. B: „Wir marschieren mit sturmzerfetzten Fahnen, die jungen Helden der deutschen Nation und über uns die Heldenahnen, Deutschland, Vaterland wir kommen schon.“ Ein Liedende ist mir im Sinn geblieben, daran habe ich damals schon nachgedacht: „Denn die Fahne ist mehr als der Tod“ – damit konnte ich mich als Vier- Fünfjähriger überhaupt nicht einverstanden erklären. Man sagte nicht guten Tag oder guten Morgen, sondern nur „Heil Hitler“ und hoben den Arm. Eines Tages ist Karl Reichert eingezogen worden und sein Vater stand stolz auf der Straße und sagte, er ist eingezogen worden zur Waffen SS, er war sehr stolz darauf. Aber er wusste nicht, was das hieß. Denn das war das intensivste Kanonenfutter der deutschen Wehrmacht. Andere große Jungs verschwanden von der Straße oder aus dem Blickfeld, als sie zum Militär kamen. Irgendwann habe ich wohl mitgekriegt 1942, dass sich da in Stalingrad etwas abgespielt hatte, denn immer mehr Kinder in der Klasse, wenn sie nach ihrem Vater gefragt wurden sagten: „Vermisst bei Stalingrad“.

Bald kriegten wir in unserem kleinen Städtchen mehr vom Krieg zu sehen. Es muss im Sommer 1943 gewesen sein. Ich kam 1942 zur Schule und 1943 hatten wir nur zwei Stunden Unterricht morgens, Deutsch und Rechnen und wenn wir nach Hause gingen, war Fliegeralarm. Es war einschöner Sommer, der Himmel war klar. Wir sahen am Himmel tausenden von glitzernden Flugzeugen in großer Höhe, so wie Silberfischchen sahen sie aus, wie sie nach den großen Städten hinflogen und der Himmel war voller Motorengeräusch. Am Abend hörten wir dann wo die Bombengefallen waren, war es in Kassel, in München, in Berlin oder wo immer. Wir hatten keine klare Vorstellung davon, aber immer mehr Kinder kamen in unseren Ort, weil Verwandte in großen Städten ihre Kinder zu Verwandten in unser Städtchen schickten. Einmal war Fliegeralarm und wir gingen in unseren Keller und einer erklärte mir, weshalb wir Krieg führten und er hat gesagt: „Die Engländer, die kämpfen für ihren Geldbeutel und die Deutschen für die Freiheit,“ aber ich konnte das nicht realisieren.

In späteren Jahren dann 1944 kamen Frauen und Kinder aus den Ostgebieten. Mehrmals haben wir Familien in die Wohnung bekommen. Eines Abends kam jemand von der Stadtverwaltung mit einer Frau und zwei kleinen Mädchen und sagte zu meiner Mutter: „Frau Lersch, diese Familie ist ausgebombt, wir wissen, dass sie genügend Platz in der Wohnung haben, sie müssen sie aufnehmen. “Meine Mutter war eine sehr teilnehmende Frau und hat die Frau und die Mädchen aufgenommen, hat mein Bett ins Wohnzimmer gestellt und noch ein Kinderbett. Ich war gar nicht erfreut, dass sie mein Bett ins Wohnzimmer gestellt hatte. Ich habe dann in meines Vaters Bett geschlafen. Ich hatte das Gefühl, ich war zu Hause gestört. Und einmal als die Frau Rosenkranz ihre Milch auf unserem Herd mitwärmte, bin ich wohl so unfreundlich geworden, dass meine Mutter mich ernsthaft zurechtgestutzt hat. Die müssen wohl irgendwann eine andere Unterkunft bekommen haben. Es war vielleicht ein paar Wochen, dass sie bei uns gewohnt haben. Später haben wir dann noch einmal eine Familie aus der Aachener Gegend bekommen, eine Frau mit einem kleinen Mädchen, von dem habe ich dann Läuse bekommen.

Je weiter der Krieg fortging, kamen immer mehr Flüchtlinge, erst aus Ostpreußen, dann aus Oberschlesien, dann aus Aachen und Heinsberg, zur Zeit der Westfront. Ich kann mich gut noch an die Dialekte dieser Leute erinnern. Die Oberschlesier, die schlesischen Frauen hatten große Umschlagtücher und liefen zum Teil im Winter barfuss, was mich sehr gewundert hat, aber wahrscheinlich haben sie keine Schuhe gehabt. Aber sie machten den Eindruck, dass sie besser Kälte ertrugen als wir. In unseren Klassen waren Kinder aus allen deutschen Landschaften vertreten.

Mein Vater wurde Anfang 1943 eingezogen, er war nicht mehr der Jüngste und kam erst nach Belgien zur Ausbildung und durfte sechs Wochen lang nicht schreiben. Eines Tages kam eine Postkarte, Absender hieß Josefa Schrel, er hatte den Namen umgedreht und einen weiblichen Vornamen drangehängt und in Blockschrift geschrieben, dass es ihm gut geht. Er hat auch nicht geschrieben, wo er ist und dass er sich wieder melden wird. Dann kam er nach Nantes an die französische Westküste. Er war eine Weile in Frankreich, kam von dort dann auch auf Besuch, auf Urlaub. Meiner Mutter hatte er ein paar sehr schöne Handschuhe mitgebracht, die waren aus verschiedenfarbigem Leder. Mir hat er ein paar Schuhe mitgebracht. Die Sohen waren aus Autoschläuchen, die haben sich sehr bald aufgelöst, weil die Kleber damals nicht sehr gut waren. Er hat auch ein Bilderbuch von Frankreich mitgebracht. Das war eines meiner liebsten Bilderbücher. Von Frankreich kam er nach Gotenhafen bei Danzig. Da er im Beruf im Büro tätig war, war er immer in Schreiberdiensten. Da war so eine Geheimregistratur. Was er dort wirklich gemacht hat, weiß ich nicht.

Er erzählte von einem Bombenangriff auf die Hafenanlagen, wo er einen kranken Admiral in einen Keller geschleppt hatte, in dem dann tatsächlich ein Luftmine einschlug. Er war aber um andere Kameraden noch einmal hinaufgegangen, deshalb ist er dem Tod entgangen. Von Gotenhafen kam er dann nach Bergen in Norwegen. Da gab es auch so eine Geheimregistratur, die die Schärenwege bewachte und die Zufahrt durch die Scherenwege ordnete. Dort ging es ihm offensichtlich sehr gut. Dort haben keine Krieghandlungen stattgefunden. Erst als der Krieg zu Ende ging und Deutschland kapitulierte, hat man dann die militärischen Anlagen zuerst den Engländern und dann den Norwegern übergeben. Die Engländer haben dann diese Deutschen Kriegsgefangenen in einem Lager konzentriert, wo sie sich mit ihren Militärischen Lebensmittelvorräten selbst versorgen konnten.

Aus Langeweile haben die Soldaten dort Theater gespielt. Sie wurden dann später von den Amerikanern übernommen und auf eine große Wiese in Deutschland gebracht und sich dort selbst überlassen. Die meisten hatten eine Zeltplane, hatten sich Zelte gebaut und haben sich ihre letzten Vorräte eingeteilt. Mein Vater hatte schlechte Erinnerungen daran, Sie waren dem Regen ausgesetzt usw. Aber er ist schon bei uns 1945 nach Hause gekommen. Ich kann mich gut daran erinnern. Es hatte geregnet. Die Straße hatte Schlaglöcher, die Sonne schien in die Pfützen hinein und da rief jemand: „Da kommt Dein Vater!“ Ich schaute die Straße hinunter. Tatsächlich kam er daher, hatte einen Seesack auf dem Rücken, eine verblichene Marineuniform an und kam so nach Hause. Er war ganz gut ernährt, er war kräftig, er hatte keine Verwundungen.

Es gab noch keine Arbeit. Die große Fabrik hatte in den letzten Jahren zerbombt von Munitionskisten und gesperrt worden. Der Direktor war Parteimitglied. Ich kann mich erinnern an den Einmarsch der Amerikaner. Am Tag vor dem Einmarsch der Amerikaner mussten wir in dem Luftschutzkeller bleiben und hörten draußen Flugzeuge schießen. Am Abend wechselten Gerüchte ständig. Wir unser Ort verteidigt oder nicht verteidigt. Der SS Führer hätte den Bürgermeister und zwei wichtige Bürger an die Wand gestellt und sie gezwungen zuzustimmen, dass der Ort verteidigt wird. Aber das waren immer so Gerüchte, die ständig wechselten und gegen Abend, als das Schießen der Flugzeuge aufhörte, hat meine Mutter gesagt. „Kinder kommt, wir gehen in die Fabrik, da ist ein großer Luftschutzkeller, ein Zweistockkeller in die Tiefe – meine Mutter fühlte sich da sicherer. Der Nachbarin gab sie den Wohnungsschlüssel, für den Fall, dass es brennt oder was. Die Nachbarin blieb zu Hause. Sie hatte zwei Söhne und beide waren Bluter und irgendwie war sie auch gleichgültiger oder, ich weiß nicht, oder optimistischer, die blieb zu Hause. In diesem Keller sind wir gehockt, und die Gerüchte wechselten weiter, bis es Morgen um vier hieß, unser Ort wird verteidigt. Da hat meine Mutter gefürchtet, wenn dann geschossen wird und die Fabrik wird getroffen, das war das höchste Gebäude im Ort, da wird es im Keller eine Panik geben, denn dort waren viele Frauen und Kinder. Sie sagte, wenn es hier eine Panik gibt, dann will ich nicht dabei sein. Wenn schon sterben, dann lieber allein im Wald. Dann sind wir mit dem Kinderwagen Umgezogen. Mein Bruder hat im Kinderwagen Platz gehabt und hat geschlafen.

Wir sind über die Felder bis zum nächsten Dorf gegangen. Es dämmerte leicht. Ich hörte Flugzeuggeräusche in den dunklen Wolken, dabei war mir nicht wohl. Im Dorf warteten schon die Bauern und fragten, wird Uslar verteidigt oder nicht verteidigt. Meine Mutter sagte, unser Ort wird verteidigt. Da sind alle Bauern mit den Pferdewagen zwischen den Feldern hinauf in den Wald gezogen. Da haben wir uns angehängt. Die Bauern hatten in den Waldtälern Wiesen, wo sie ihre Hütten hatten und haben dort den Tag verbracht. Wir haben dann auf einem Waldweg Bekannte getroffen, die bei uns zu Hause wohnten. Das waren auch Flüchtlinge aus Heinsberg. Dann kamen deutsche Soldaten mit Pferdewagen vorbei und die sagten: „Wir kämpfen nicht mehr, wir wollen nur noch nach Hause!“ Aber wir haben den Tag dort verbracht. Hie und da zogen Geschosse durch die Bäume, das pfiff und zischte durch die Wipfel und schlug dann irgendwo ein. Flugzeuge kreiste über dem Wald, aber uns passierte nichts. Wir trafen dann am Waldrand ein Holzfäller, wo russische Kriegsgefangene einquartiert gewesen waren, die im Krieg dort im Wald gearbeitet hatten. Es roch stark nach Desinfektionsmittel. Eine Bauersfrau, aus einem nahen Dorf, die hatten einen Ochsen schlachten müssen und hatten Suppe gekocht und hat uns davon abgegeben. Die Frau war sehr freundlich. Meine Mutter hat später für diese Frau Kleider genäht. Gegen Abend, als die Schießerei immer weniger wurde, sind wir ins Dorf zurück. Meine Mutter wäre am liebsten noch die Nacht im Dorf geblieben, aber die Bauern haben niemanden aufgenommen.

Meine Mutter hatte Angst. Erst als ich sah, dass unsere Nachbarin, die dicke Frau Homes mit ihrem kleinen Handwagen nach Hause ging, da gingen auch wir nach Hause. Hie und da wurde noch in die Wiesen geschossen. Die Erde flog in Fontänen hoch. Einmal traf so ein Geschoß neben uns in den Straßenrand, der Dreck flog auf und ich schrie, aber wir sind dann weiter gegangen und dann hat das Schießen aufgehört. Als wir in den Ort kamen, lagen amerikanische Soldaten in den Senken eines grasigen Abhangs. Die Maschinengewehre auf die hereinkommenden Frauen und Kinder gerichtet. Da hatte ich den Eindruck, die haben Angst vor uns, dann hatte ich keine Angst mehr gehabt. In unserer Straße spielten Negersoldaten mit den schmutzigen Kindern. Andere Soldaten spielten und warfen sich Bälle zu. Das war offensichtlich ihr täglicher Trainingssport. Unsere Wohnung war besetzt. Es waren Soldaten in die Häuser gekommen, es waren neue Häuser, in denen es Badezimmer gab, die man allerdings mit Holz heizen musste. Unsere Nachbarin hat einem Truppführer der amerikanische Soldaten unseren Wohnungsschlüssel gegeben, sie selbst hatte zwei Offiziere aufgenommen. Wir konnten bei der Nachbarin schlafen.

Meine Mutter konnte kein englisch, aber sie ging in unsere Wohnung, hat dort ein bisschen Ordnung gemacht. Hat den Soldaten den Badeofen angeheizt, dass sie baden konnten und hat sich ganz mutig unter die Soldaten gemischt und hat draufgeschaut, dass Ordnung in dieser Wohnung war. Einem Zuckersack, der vor einem Bett lag, hat sie einen Tritt gegeben. Den haben wir am nächsten Tag wieder gefunden. Wir haben auch ein paar Löffel aus Essen gefunden, aus Bad Nauheim, da waren Silberlöffel dabei. Ein paar Socken sind noch liegen geblieben. Den Zuckersack haben wir gut gebrauchen können. Ich hatte ein Luftgewehr, das hatte ich zu meinem Geburtstag geschenkt bekommen, habe aber nie etwas damit gemacht, ich hatte auch keine Patronen dafür gehabt, aber vertrauensvoll wie ich war, habe ich einem amerikanischen Soldaten dieses Luftgewehr gezeigt. Meine Mutter war sehr erschrocken, denn Waffen waren verboten und mussten abgegeben werden. Sie hat das Gewehr gleich zerbrochen und hat den Kolben verbrannt. Aber dieser amerikanische Soldat hat sich überhaupt nichts daraus gemacht. Er hat die Untauglichkeit dieser Waffe gleich erkannt.

Eines Morgens saßen meine Spielkameraden auf der Mauer und wir schauten hinaus und sie hatten Konservenbüchsen in der Hand und tauchten ihre Finger hinein und holten etwas heraus und aßen das. „Was habt Ihr denn da?“ „Konserven“. „Wo habt ihr die her?“ „Von den Amis!“. „Haben die sie euch geschenkt?“ “Nein, geklaut!“ „Wo gibt’s das?“ Da sind so Kästen an den Autos, da ist das drin!“. Ich bin raus gegangen, das war noch am ersten Tag, nachdem wir heimgekommen waren. Da standen viele amerikanische Autos. Da standen ein paar Jeeps hintereinander. Ich bin zu den Autos, habe so getan, als ob mich die Autos sehr interessierten, habe in den Kasten hineingeschaut. Ein Griff, eine Dose in der Hand und die Tasche gesteckt und bin dann davon gegangen, ganz steif, mit steifem Rücken, mit Angst ich könnte erwischt werden. Ich bin dann die Straße hinaufgegangen. Dort stand ein Russlanddeutscher, Leo Panneck, der aus Russland nach Deutschland gebracht wurde zum Arbeiten. Seine Mutter wurde zum Arbeiten gebracht und wir hatten den Leo sehr gern gehabt. Wir sind miteinander in einen vorsorglich gegrabenen Laufgraben gegangen und haben diese Konserve aufgemacht. Es war ein Schlüssel dran, es war Schinken mit Ei. Wir haben das mit den Fingern herausgeholt und das hat uns sehr gut geschmeckt.

Meine Eltern waren konfessionslos, das heißt, mein Vater war früher katholisch gewesen, hatte aber in der katholischen Kirche so viele unangenehme Sachen erlebt, so viel Heuchelei und Oberflächlichkeit, dass er aus der katholischen Kirche austrat. Es kann sein, dass einige moralische Dinge auch die Gründe waren. Meine Mutter war evangelisch gewesen, aber die Familie war unreligiös, sie sind nie zur Kirche gegangen, sie haben sich darum auch nicht geschert. Die evangelische Taufe, war alles nur pro forma. Als ich dann zur Schule kam, gab es auch Religionsunterricht. Aber unsere Familie war offiziell ohne Bekenntnis. Das hieß damals gottgläubig. Damit hat man mehr oder weniger vertuscht, dass wir an nichts geglaubt haben. Aber für mich war dieses Phänomen Gott, ein Problem. Ich habe früh lesen gelernt. Ich habe mit vier Jahren lesen gelernt, überall kam das Wort Gott vor und ich hatte keine rechte Vorstellung, was das war, was damit los war. Dann gab’s Religionsunterricht. Ich nahm nicht daran teil. Eines Tages kam eine Klassenkameradin auf der Straße und sagte: „Au, Au, du kommst nie zur Religion!“ Und ich fühlte mich provoziert und habe unflätiger Weise gesagt: „Religion ist scheiße!“ „Das werde ich der Lehrerin sagen!“ Sie hat es der Lehrerin erzählt. Die Lehrerin war eine sehr vernünftige Frau und hat mich nach Hause bestellt, zu ihr. Ich kam in ihr kleines Haus hinein und sie war oben auf der Treppe und wischte die Treppe und sagte: “Komm mal rauf!“. Dann hat sie mich gefragt: “Hast du zu Annika Scheidemann gesagt: „Religion ist scheiße?“ Dann habe ich gesagt: „Ja“. „Gut dass du so ehrlich bist!“. Dann hat sie mir irgendwie klar gemacht, dass das nicht nett war. Und irgendwie konnte ich dem zustimmen, darüber habe ich mich auch schon geärgert. Die Annika ist mir auf die Nerven gegangen und ich hab’ das einfach so abgewehrt.

Später hat dann die Klasse einen anderen Religionslehrer bekommen, der hieß Reichert. Und dieser Herr Reichert hat am Anfang der Klasse immer, die Namen aufgerufen, um festzustellen, wer da war, vor allem in der ersten Stunde. Herr Reichert hat meinen Namen genannt und die Mitschüler haben gesagt, der ist gottgläubig. Dann hat Herr reichert gesagt: „Der ist ungläubig!“. Als es zur zweiten Stunde kam, standen die Klassenkameraden in der Pause vor der Schule und zeigten auf mich „ungläubig, ungläubig, ungläubig!“ Ich musste innerlich zustimmen, aber es war mir unangenehm in der Klasse so gesondert zu sein. Es dauerte nicht lange, dieser Religionslehrer war sehr streng, so dass meine Klasse bald einen neuen Abzählreim hatte, der ging so: „Das elfte Gebot, Herr Reichert ist tot, Herr Reichert ist frech, patsch hast du eine weg!“ Es dauerte nicht lange, da wurde Herr Reichert versetzt und ich hatte kein Problem mehr damit. Ich habe oft im Religionsunterricht hinten gesessen, auch später in der Mittelschule und habe zugehört. Manchmal war ich der aufmerksamste Schüler da hinten. Meine Mitschüler haben sich mit den Religionslehrern mehr Scherze erlaubt, als mir Nichtreligiösen angenehm war.

Mein Vater wollte, dass ich auf der Mittelschule bliebe, was aber nicht zum Abitur führte. Ich war ein guter Schüler, weil alles, was ich lernen konnte mich interessiert hat. Die Schule hätte mich gerne behalten. Damals musste man noch Schulgeld bezahlen und auf Grund meiner Schulleistungen hatte ich eine Freistelle, wie einige Mitschüler, von denen ich aber nicht wusste. Ich wollte gerne Holbildhauer werden. Mein Vater hat gerne geschnitzt und hat nach dem Krieg versucht, damit sein Brot zu verdienen, was nicht so gut gelang. Ich wollte gerne schnitzen, das hat mir Spaß gemacht. Ich habe immer wieder ein Messer gefunden oder gesucht, auch wenn ich wusste, wem es gehört hat und habe damit geschnitzt. Ich war nicht ganz ehrlich. Ich habe dann eine Lehre als Holzbildhauer in der Fabrik gemacht und mein Vater eben auch als Angelernter tätig war.

Nach einem Jahr als Geselle habe ich gemerkt, da kann ich nichts mehr lernen. Ich habe mich nach einer anderen Stelle umgeschaut. Ich bin nach Süddeutschland gegangen und kam dort in katholische Gebiete. Und habe auch gemerkt, dass ihre Religion sehr äußerlich gelebt wurde. Nach einem Jahr bin ich wieder an eine andere Stelle gegangen, nach Aidenbach in Niederbayern. Dort habe ich Katholiken mit Herz kennengelernt, die allerdings ihre Religion mehr oder minder oberflächlich lebten. Dort gab es einen Lehrling, der mir immer wieder erzählte, dass der Pfarrer betrunken in die Kirche gekommen sei am Sonntagmorgen. Bei meinen weiteren Arbeitsstellen, habe ich später in Werkstätten Heiligenfiguren geschnitzt, Grabmahle, Heiligenfiguren, Jesus am Kreuz, Maria mit Kind, ohne Kind und so weiter in größer und kleiner. So habe ich eben mein Brot gedient. Aber wegen meiner mangelnden Religiosität habe ich da keine Probleme gehabt.

1961 bin ich dann nach Wien gekommen, um an der Kunstakademie zu studieren, weil ich gemerkt habe, bei den Handwerkern war nichts mehr zu lernen für mich. Nach dem Studium, das war 1967, da hatte sich einer meiner liebsten Studienkollegen, ein Ungar, der Kirche angeschlossen, er hieß Sandor Suranyi. Wir hatten während des Studiums öfter miteinander gesprochen über alles, über Krieg, Volk und Sprache, Philosophie und Religion. Er war katholisch, seine Familie war katholisch gewesen. In Ungarn katholisch zu sein, das war gar nicht so einfach. Als 1956 die Revolution in Ungarn war, war er nach Westen gegangen, weil alle Studenten, die sich an der Revolution beteiligt hatten um ihr Leben fürchten mussten. 1967, das war schon nach dem Studium, ich habe in der gleichen Straße von der Akademie gewohnt, ging er mir einmal über den Weg, denn ich wohnte zwei Häuser weiter, in der Böcklinstraße, ganz nahe bei der Mormonenkirche. Da lief er mir über den Weg. „Was machst du hier?“ “Ja, wir gehen jetzt in die Kirche, du solltest auch einmal da hin kommen!“

Ich habe die Kirche nur als modernen Bau wahrgenommen und fand es interessant, einen so modernen Bau als Kirche zu gebrauchen. Ich wollte mir dieses Haus einmal anschauen Die Missionare machten mir damals einen so verschlossenen Eindruck, dass ich mich abgestoßen fühlte. Aber ich kann ihnen keinerlei Schuld zuschreiben, es war mein Eindruck. Eines Tages kam er zu mir in meine kleine Werkstatt und sagte zu mir: „Lersch, du solltest einmal mit mir zur Kirche kommen!“. Ich war damals in einer Situation, wo ich offen war. Ich hatte schon mehr als ein Jahr entzündete Handgelenke und ein älterer Kollege, den ich sehr verehrte, sagte: „Das muss doch einen Sinn haben. Bei irgendeiner Reise in Deutschland, hatte ich einen evangelischen Pfarrer kennengelernt, mit dem ich korrespondierte, auch über Religion. Also ich war irgendwie vorbereitet und damals wurde im Kultursaal der Film „Des Menschen Suche nach Glück“ gezeigt.

Ich fand das ganz schön. Die Lila Figuren da am Himmel, die fand ich kitschig, aber sonst hatte ich einen guten Eindruck davon. Denn die christlichen Ideale sagten mir was. Nur wie sie von den Kirchen praktiziert wurden, damit war ich nicht einverstanden. Nach dem Film wurden gestrichene Brote serviert und Himbeersaft und ich war gewohnt, in Wien wurde Wein serviert. Und dass die Leute auch ohne Alkohol fröhlich sein konnten, das hat mir imponiert. Und dann gab es zwei Missionare, die mich gefragt haben, ob sie mich besuchen dürften? „Ja, warum nicht!“ Sie kamen zu mir und ich hatte mir einen Bogen Papier zu Recht gelegt und oben hingeschrieben: „Woher kommt der Mensch, wozu ist er auf der Erde und wohin gehen wir?“ Und ich hatte mich darauf gefreut, mit ihnen zu diskutieren, Ich habe gerne diskutiert. Die wollten nicht diskutieren, die haben gesagt: „Beten Sie darüber!“. Au, das war etwas Neues. Gebetet hatte ich noch nie. Am Ende der Belehrung haben sie gefragt, ob ich beten wollte und mein erstes Gebet lautete etwa so: „Vater im Himmel, wenn es Dich wirklich gibt usw., dann beantworte mir diese Fragen!“ Die haben mich jede Woche besucht und belehrt. Mir war das mehr oder weniger eingängig, aber es gab Sachen, die mir unklar waren, die ich nicht verstehen konnte, aber ich habe auf alles Antworten bekommen. Nicht wie mit einem Donnerschlag, nicht irgendwie mystisch, sondern es kam mir einfach in meinen Geist hinein, dass es zur Erkenntnis wurde, dass es richtig ist, dass es sein kann, dass es glaubwürdig ist.

Ich bin auch sonntags dann in die Kirche gegangen, habe auch am Fastsonntag gefastet und fand das sehr geistvoll, so dass sie nach sechs Wochen mich gefragt haben, ob ich mich taufen lassen möchte? Ich hatte nicht so ein Zeugnis, das alle Bedenken ausgeräumt hatte, das habe ich bis heute nicht, sondern es war die Frage. Bin ich konsequent oder feige? Feige wollte ich nicht sein, sondern konsequent auf Grund der Erkenntnisse und der Antworten, die ich bekommen habe, habe mich taufen lassen. Seitdem bin ich noch heute in der Kirche und meine Überzeugung ist, dass durch unsere Religion christliche Ideale auf die beste Art und Weise gelebt werden, wie man sie leben kann, von allen Kirchen, die ich kenne. Zweitens, dass durch das gelebte Evangelium, besonders in Bezug auf das Familienleben, es kein besseres Konzept für eine Gesellschaft gibt. Mein Glaube, dass das Leben unendlich ist, ist tief in mir verwurzelt.