Hamburg

Mein Name ist Wally Sperling und ich bin in Hamburg am 23. März 1919 geboren. Mein Mann war Wilhelm Sperling, geboren am 12. März 1913 in Göggingen, (das heute als Stadtteil zu Augsburg gehört). Geheiratet haben wir am 10. Februar 1940 in Hamburg. Er starb 1991 in Hamburg. Unsere Kinder sind Horst-Dieter, 1943 und Giesela, 1949. Meine Mutter war Anna Renner und stammte aus Saverne im Elsass. Mein Vater, Paul Otto Max Möhrke, stammte aus Berlin. Gelebt haben wir in Hamburg.

Das Jahr 1939 brachte unserer Familie ungeahnte und schwere Veränderungen, deren traurige Folgen wir uns überhaupt nicht hätten vorstellen können. Unsere liebe Mutter starb am 6. April 1939 im Alter von 46 Jahren an einem Nierenleiden. Sie stand im Mittelpunkt des Lebens von unserer Familie. Sie war immer für uns Kinder da – Marianne und mich – und konnte uns auch immer bei den schwierigen Problemen einen Rat geben und helfen. Ich war gerade 20 Jahre alt geworden und meine Schwester wurde am 11. September des Jahres 13 Jahre alt. Von einem auf den anderen Tag war die Geborgenheit in der Familie vorbei.

Die folgende Zeit wurde schwer und kompliziert. Unser Vater entschloss sich bald, in seine Heimatstadt Berlin zu ziehen, um dort zu heiraten. Wir wollten unsere Wohnung am Augustenburger Ufer nicht aufgeben. Mein Verlobter Willi Sperling – und ich fassten den Entschluss, unsere für später geplante Hochzeit auf den 10. Februar 1940 vor zu verlegen. Dadurch konnte Marianne bei uns wohnen bleiben. Die neuen Lebensbedingungen waren allerdings gewöhnungsbedürftig. Unsere Verantwortung für meine Schwester war groß, sie war gerade ein Teenager geworden.

Als offiziell am 1. September 1939 im Radio bekannt gegeben wurde, dass in den frühen Morgenstunden dieses Tages ein Krieg mit Polen begonnen hatte, waren wir entsetzt und hilflos. Bestimmte Kellerräume wurden sofort durch schwere, starke Pfeiler gestützt und sollten dadurch vor einem Einsturz bewahren. In den Räumen standen Betten und Sitzmöbel. Die Türen bestanden aus schwerem Metall, es waren jetzt „Luftschutzkeller“ geworden.

Wir wohnten in einem großen Häuserblock mit etwa 26 Eingängen. Außerhalb der Luftschutzkeller wurden in die betreffenden Wände große Löcher geschlagen, um Verbindungen zu den angrenzenden Treppenhäusern mit ihren Wohnungen zu haben. Dadurch gab es Fluchtmöglichkeiten bei Zerstörungen durch die Luftangriffe. Wir konnten also unter der Erde alle Eingänge erreichen. Unsere Straße war nur auf einer Seite bebaut, denn wir wohnten am Ufer des Osterbek-Kanals, genauso sah es am gegenüber liegenden Ufer aus. Außerdem stand – und steht heute noch—eine hohe, große Schule mit einem Flachdach dort. Eine Flakeinheit (Flugzeugabwehrkanonen) stand darauf. Die Aufgabe dieser Waffe der Flugabwehr bestand darin, die feindlichen Flugzeuge zu bekämpfen. Die Sirenen wurden ausprobiert. Es gab verschiedene Signale, deren Bedeutung wir lernen mussten, um im Ernstfall richtig darauf reagieren zu können. Lebensmittelmarken wurden ausgegeben, auf denen ein bestimmtes Lebensmittel mit Mengenangabe stand, zum Beispiel „Margarine 50 g“, und auch der Zeitraum, für den sie bestimmt waren. Das galt für alle Esswaren. Die Praxis zeigte später allerdings, dass nicht immer alles, was uns zustand, in den Läden vorhanden war. Hin und wieder standen wir geduldig in langen Schlangen vor den Läden, leider vergebens! Wir mussten ohne Einkaufserfolg zurück nach Hause gehen.

Willi war kein Kirchenmitglied, besuchte aber mit uns regelmäßig die Versammlungen. Dadurch ergab sich, dass in unserer Gemeinde Barmbek eine kirchliche Hochzeitsfeier stattfand. Ich wusste wohl, dass es Tempel gibt, aber nähere Einzelheiten waren nur sehr begrenzt bekannt. Für uns gehörten sie in die USA.

Im Juli 1940 wurde Willi zur Wehrmacht eingezogen. Er musste mit Kameraden in Schlesien, (das jetzt zu Polen gehört) in der Kaserne einer Kleinstadt eine neue Einheit zusammenstellen. Ich war berufstätig und hatte durch die vielen unerfreulichen und beschwerlichen Erlebnisse der letzten Zeit gesundheitlich sehr gelitten. Mit einem ärztlichen Attest konnte ich meinen Arbeitsplatz aufgeben und den Winter 1940/41 in Ruhe (das heißt ohne Alarm in Hamburg) in Schlesien verbringen. Marianne ging noch in Hamburg zur Schule. Von dort aus wurde eine Kinderlandverschickung eingerichtet. Ganze Schulklassen wurden für mehrere Monate nach Bayern evakuiert, wo es noch ruhig war.

Willi’s Wehrmachtseinheit wurde Anfang 1941 in die Niederlande versetzt. Das bedeutete auch für mich das Ende meines Aufenthaltes in Schlesien, und ich fuhr nach Hamburg zurück. Von hier aus reiste ich dann zu meiner Schwägerin nach Stuttgart, ihr zu helfen, denn sie war mit ihrem Baby allein, da ihr Mann auch Soldat war. Nach mehreren Monaten musste ich nach Hamburg zurückkehren. Bald kam die Zeit, in der Willi und ich uns manchmal am Wochenende an der deutsch/niederländischen Grenze in einem kleinen Ort treffen konnten. Er brachte mir dann Lebensmittel mit, die ich so dringend brauchte. Im Frühjahr 1942 wurde das Militär nach dem ehemaligen Jugoslawien (in Südost Europa) geschickt, um Partisanen zu bekämpfen. Das war eine harte Zeit, weil die Soldaten von allen Seiten angegriffen wurden.

Es gab dort Gebiete, in denen schon seit einigen Jahrhunderten deutsche Siedler wohnten und in denen es noch ruhig war. Ich hätte bei einer deutschen Familie untergebracht werden können, um in einer deutschen Schule unsere Muttersprache zu lehren. Das hörte sich gut an. Wir hatten nach unseren gründlichen Überlegungen aber einen anderen Plan. Die Siegesmeldungen der deutschen Wehrmacht über den Volksempfänger (Radio) weckten in uns das Gefühl, dass der Krieg nicht mehr lange dauern könnte. Immer wieder kam der Wunsch nach einem Kind. Es sah so aus, als wenn der Krieg zur Zeit der Geburt zu Ende sein würde. Aber die Realität lehrte uns etwas ganz anderes. Ausländische Radiosender durften wir nicht hören, denn dort wurden ganz andere Nachrichten verbreitet. Deshalb wurde das Hören wie ein Verbrechen bestraft, und das wollten und konnten wir nicht wagen. Zu einer Hamburger Gemeinde der Kirche der Heiligen der Letzten Tage gehörte ein junger Bruder, Helmut Hübener. Er hatte ausländische Radiosender gehört, die Nachrichten auf Zettel geschrieben, kopiert und mit zwei Freunden in der Öffentlichkeit verteilt. Er wurde verraten und musste als 17-jähriger sein Leben lassen.

Im Jahre 1942 wurden die Angriffe auf Hamburg zahlreicher und regelmäßiger. Im Januar 1943 wurde Stalingrad (Sowjetunion) von deutschen Truppen schwer angegriffen. Der Kampf endete in den letzten Tagen des Monats mit der Kapitulation der deutschen Truppen, die dort von russischen Einheiten rings um die Stadt eingeschlossen waren. Das brachte eine Wende für den weiteren Verlauf des Krieges. Wir lebten nun schon ein paar Jahre mit den Luftangriffen. Unser Koffer mit den wichtigsten Papieren und anderen notwendigen Dingen stand immer bereit. Wenn die Sirenen heulten, griffen wir zuerst nach unserem Notkoffer und hasteten in die Luftschutzkeller.

Die Verfolgung der Juden brachte auch für unsere Kirche große Schwierigkeiten wie auch Kummer. Am Eingang des Hauses, in dem unsere Gemeinde die Versammlungen abhielt, musste ein Schild angebracht werden mit der Aufschrift „Juden unerwünscht“. Ich kann mich an Kontrolleure vom Staat erinnern, die gelegentlich vor einer Versammlung kamen, um sich bestimmte Informationen zu holen. Einen jungen Bruder, der in der PV eifrig tätig war, betraf die obige Anordnung, er und die ganze Gemeinde waren schockiert. Mehreren jungen Brüdern gelang es nicht, ihm trotz Einsatz ihrer ganzen Kräfte und Möglichkeiten zu helfen. Salomon Schwarz musste in einem Konzentrationslager [KZ] sterben. Er hatte nichts Gesetzwidriges getan, allein sein Judentum reichte für so eine unfassbare Tat aus .Er hatte einen jüngeren Halbbruder, der zur Wehrmacht eingezogen und von den eigenen Kameraden erschossen wurde. Der Grund dafür ist mir unbekannt. Mit der Schwester der beiden war ich bis zu ihrem Tod vor ein paar Wochen befreundet. Sie hat bis zu ihrem Lebensende nicht mit diesen Tatsachen fertig werden können.

Was Ende Juli 1943 auf uns zukam, konnten wir allerdings nicht ahnen, obwohl die Luftangriffe der letzten Wochen schon heftig waren. Das starke und schnell aufeinander folgende, sowie das weniger starke Schießen des Flakgeschützes auf dem Schuldach konnten wir hören und daran erkennen, wie weit oder wie nahe die Flugzeuge von unserem Stadtteil entfernt waren. Durch Erschütterungen beim Aufprall von Sprengbomben bewegten sich die Wände des Luftschutzkellers ein wenig. So stelle ich mir ein leichtes Erdbeben vor. Wir gingen ängstlich und unsicher nach jedem Angriff in unsere Wohnungen, wir wussten ja nicht, was uns dort erwarten würde.

Etwa zu Beginn der letzten Juliwoche heulten wie gewohnt die Sirenen kurz vor Mitternacht. Ein Großangriff auf die Innenstadt hatte begonnen und das Gebiet von mehr als 27 Quadratkilometer wurde durch Spreng- und Phosphorbrandbomben zerstört. 1500 Menschen hatten in dieser Nacht ihr Leben verloren. Über 700 Flugzeuge waren (laut einer Veröffentlichung) an diesen Angriffen beteiligt. Am nächsten Morgen (einem Sonntag) blieb es dunkel, die Sonne konnte sich durch die Qualm- und Staubwolken erst später durchsetzten. Am Sonntagnachmittag griffen US-Flugzeuge den Hamburger Hafen an. Wegen des von brennendem Fett und Öl versperrten Eingangs eines Luftschutzkellers konnten 40-50 Leute ihn nicht verlassen und kamen ums Leben. In den nächsten drei Tagen und Nächten wurden weitere Stadtteile von Hamburg angegriffen, davon einige total zerstört. Mir war erzählt worden, dass es nicht mehr möglich war, die vielen Brände zu löschen. Durch Einwirkungen von außen ist damals so ein gewaltiger Feuersturm entstanden, der durch die Straßen fegte und die Lage verschlimmerte. Viele Flüchtlinge rannten um ihr Leben. Die Leute in den Luftschutzkellern wollten sich nach draußen begeben, wegen der inzwischen gewaltigen Hitze in den Straßen und des entstandenen Kohlenoxydgases waren viele Menschen eingeschlossen. Rettung fanden nur die, die in ein Gewässer (Kanal, Fleet oder Teich) springen konnten. Andere verbrannten oder erstickten. Ich habe mit Bewohnern, die aus den angrenzenden Teilen dieser Gebiete kamen, gesprochen und dabei erfahren, dass überall in den Straßen Menschen lagen, die durch Hitze oder Verbrennungen ums Leben gekommen waren. Die Zahl der vielen Opfer war allerdings noch nicht bekannt. Es ging aber um Tausende.

Jetzt war die Zeit gekommen, dass allen werdenden Müttern dringend geraten wurde, die Stadt zu verlassen. Ich war sofort dazu bereit, wollte aber nicht ohne meine Schwester irgendwo hinfahren. Das klappte auch. Wir wurden in einem offenen Eisenbahnwaggon untergebracht, der normalerweise für Kohlentransporte benutzt und entsprechend staubig und ungeeignet war. Wir mussten stehen während der Fahrt und kamen in Bad Oldesloe (etwa 45 Kilometer nördlich von Hamburg) an, unserem bis dahin unbekannten Reiseziel. Nun mussten wir uns selbst um den weiteren Weg kümmern und überlegen, in welche Richtung wir reisen wollten. Die Eltern meiner lieben Freundin wohnten seit ein paar Jahren in der Lüneburger Heide. Wir wagten es deshalb, mit einem Zug dorthin zu fahren und erreichten auf Umwegen das betreffende Dorf nach 24 Stunden. Wir waren total erschöpft und wurden sehr herzlich empfangen. In der Umgebung von Hamburg wurden die Bewohner der Ortschaften gebeten, Flüchtlinge aus Hamburg bei sich aufzunehmen. Dadurch konnten wir bei einer jungen Bäuerin wohnen. Ihr Mann war im Krieg gefallen, sie hatte drei kleine Kinder. Wir konnten in eine kleine Wohnung ziehen, gaben unsere Lebensmittelmarken ab und konnten mit der Familie, zu der noch Großvater und Großmutter gehörten, unsere Mahlzeiten einnehmen. Niemand teilte uns zu, was und wie viel wir essen konnten. Wir gehörten zur Familie und meinem ungeborenen Kind tat diese bessere Versorgung sicher gut. Jetzt waren wir circa 50 Kilometer südlich von Hamburg untergekommen und abseits der noch immer andauernden Angriffe auf unsere Heimatstadt. Wir konnten abends sehen, wie die Stadt brannte und hatten kein gutes Gefühl dabei. Wir kannten ja die Sorgen und Ängste, die beim Heulen der Sirenen aufkamen.

Seit Ende Juli wohnten wir nun schon in Eyendorf und inzwischen war der August vergangen. Ich bekam vom Hamburger Wohnungsamt Bescheid, dass unsere Wohnung beschlagnahmt werden sollte für Berufstätige, die wieder in die Stadt zurückgekommen und deren eigene Wohnungen zerstört waren. Das konnte ich nicht zulassen, weil meine Schwester und eine liebe Bekannte die Wohnung brauchten, denn auch sie wollten in das Berufsleben beziehungsweise an ihren Arbeitsplatz zurückkehren, so fuhr ich am 1. September (fünf Tage vor der Geburt meines Kindes) in die Stadt und konnte dieses Problem lösen. Am 6. September 1943 kam mein Sohn Horst-Dieter im Krankenhaus des Nachbardorfes Salzhausen auf die Welt. Die Freude war groß, er war ein kräftiges Kind und ich habe dieses Wunder des neuen Lebens voll Dankbarkeit und Staunen in den Arm genommen, wie jede junge Mutter.

Es wurde Herbst und damit kühler. Unsere Wohnung konnte leider nicht geheizt werden. Das bedeutete für uns, dass wir an unsere Heimreise denken mussten. Nach Wochen, als die Temperaturen weiter fielen, war es soweit. Die Wohnung in Hamburg war ja fast ganz in Ordnung. Alle Soldaten, die in unserer Stadt wohnten, bekamen sofort Kurzurlaub, um sich über die Zustände der eigenen Familien zu informieren. So konnte Willi sich und mich von dem verhältnismäßig guten Zustand der Wohnung überzeugen. Nur die Eingangstür war von Nachbarn zerstört worden, damit sie feststellen konnten, ob keine Brandbomben eingefallen waren. Die Zentrale unserer Fernheizung war durch Angriffe zerstört worden. Es gelang mir aber, einen kleinen Kohleofen zu besorgen, dessen Abzugsrohr einfach aus dem Fenster geleitet wurde. Elektrischen Strom bekamen wir nur stundenweise. Wir waren wieder zu Hause! Dahin gehörten wir.

Unsere Barmbeker Gemeinde war zerstört. Auch die Gemeinde in St. Georg in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofes gab es nicht mehr. Jetzt fanden die Versammlungen in Altona statt, das ziemlich weit im Westen unserer Stadt liegt. Ich konnte diesen Weg mit meinem Baby nicht unternehmen, weil der Weg schwierig war und wir immer noch mit Angriffen rechnen mussten. Im Spätsommer 1944 bin ich dann mit meinem Kind und meiner Schwester für einige Zeit ins Elsass (Oberrhein) gefahren. Es gehörte bis zum Kriegsende zu Frankreich, wurde aber zu der Zeit von Deutschland besetzt. Auf der Fahrt musste unser Zug auf freiem Feld anhalten, weil die vor uns liegende Stadt Mannheim von Flugzeugen angegriffen wurde. Wir konnten sehen, wie die Bomben auf die Stadt fielen. Einige Mitreisende von uns sprangen aus dem Zug, liefen eine kleine Strecke weiter und warfen sich auf den Boden. Wir waren natürlich alle ängstlich und mein Gebet zum Vater im Himmel war das einzige, was uns in dieser Lage helfen konnte.

Wie oft ich mich während des Krieges mit der Schriftstelle 1. Nephi 3:7 beschäftigt habe, weiß ich nicht, aber jetzt war es wieder soweit. Sie hat mein Zeugnis von der Wahrheit unseres Evangeliums gestärkt. Die vielen schweren Erlebnisse im Laufe der Kriegsjahre hätte ich ohne unsere Lehre nicht ertragen können. Trotz aller Schwierigkeiten habe ich immer eine gewisse Geborgenheit empfunden.

In Zabern (Saverne) wohnten wir im Elternhaus meiner Mutter und haben uns bei einem Bruder meiner Mutter, der dort mit meinem Cousin und seiner Familie lebte, sehr wohl gefühlt. Nach einer gewissen Zeit unseres dortigen Aufenthaltes hörten wir ganz schwach aus der Ferne Schüsse. Sie kamen täglich näher und wir hörten im Radio, dass Briten und Amerikaner von Groß-Britannien aus über das Meer kamen und an der französischen Küste landeten. (Normandie) Sie kämpften zusammen mit den Franzosen gegen die deutsche Besatzungsmacht und drängten sie zurück. Das war für uns das Zeichen, sofort die Heimreise anzutreten. Wir haben schnell gehandelt.

Mit Willi stand ich durch Feldpost in Verbindung, Das bedeutete, dass wir uns schreiben konnten, ohne Porto dafür zu bezahlen. Auf dem Briefumschlag musste außer dem Namen des Soldaten seine Feldpostnummer angegeben werden. So erreichten die Briefe den Empfänger, ohne dass sein Aufenthaltsort bekannt wurde. Ich schrieb jeden Tag an ihn und er antwortete regelmäßig. Mehr als sechs Wochen hörte ich nichts von ihm. Ich wusste, dass an einem See in Ungarn Kämpfe stattfanden, in dessen Nähe seine militärische Einheit stationiert war. Ich war sehr beunruhigt. Wie oft habe ich unseren himmlischen Vater um seine Hilfe gebeten! Nach einigen Tagen klingelte es an unserer Wohnungstür. Als ich sie öffnete, stand mein Willi vor mir! Ich konnte es fast nicht glauben und war sehr dankbar! Er war verwundet, und seine Uniform war durch Blut verschmutzt. Im Kampf war sein Arm zwar verletzt worden, aber der Blutverlust konnte nach einiger Zeit gestoppt werden. Alle Verwundeten, die es schaffen konnten, bekamen die Erlaubnis, in die Heimat zu fahren. Eine große Hilflosigkeit und Ratlosigkeit verbreitete sich überall. Unser 1½ -jähriges Söhnchen brauchte nicht viel Zeit, um sich mit seinem ihm bis dahin unbekannten Vati an zu freunden.

In Schleswig-Holstein wurden Truppen zusammengestellt, die aus über 60 Jahre alten Männern und Jugendlichen ab 16 Jahren bestanden. Willi hatte die Aufgabe, eine solche Einheit zu leiten. Die äußeren Umstände und die politische Lage waren katastrophal. Die Gruppe wurde bald aufgelöst und alle Männer gingen erleichtert nach Hause. Es hatte nicht einmal für jede Person eine Handwaffe gegeben, um sich zu verteidigen. Ein großes Durcheinander brach aus, und in wenigen Tagen ging der Krieg zu Ende. Nun endlich brauchten wir uns keine Sorgen mehr um Luftangriffe zu machen. Endlich ohne gefährliche Störungen die Nächte verbringen zu können, empfanden wir dankbar als einen großen Segen. Immer mehr Hamburger kamen von ihren Flüchtlingsquartieren zurück in die Stadt, auch von unserem Häuserblock. Einige Familien, die durch die Luftangriffe ihr Hab und Gut verloren hatten, taten etwas Bewundernswertes. Weil sie keine von den wenigen zur Verfügung stehenden Wohnungen bekamen, richteten sie sich in ihren ehemaligen unterirdischen Kellern provisorisch ihre neuen Wohnungen ein und waren sogar froh, dass sie nun wieder unabhängig leben konnten.

In dem Buch „Geschichte der Stadt Hamburg“ von Eckart Klessmann habe ich Zahlen gelesen, die das Ausmaß der Kämpfe und ihrer Folgen schilderten. Ich greife einige heraus, die nur die letzte Woche im Juli 1943 betreffen: Etwa 35 000 Menschen wurden tot geborgen, von den Krankenhäusern und Rettungsstation allein wurden über 37 000 Verletzte gemeldet, es dürften 100 000 insgesamt gewesen sein. Knapp 50% der Wohnungen waren völlig zerstört worden, über 30% galten als leicht bis schwer beschädigt und nur 20% waren unbeschädigt. Diese unruhige und gefährliche Zeit hat sich auch auf unser Privatleben ausgewirkt.

Mit dem 8. Mai 1945 begann ein neuer Zeitabschnitt. Hamburg gehörte zur britischen Besatzungszone. Bald kamen Soldaten in unsere Wohnungen, um nach nationalsozialistischen Büchern, Fotos und anderen Dingen zu suchen, die mit der Partei zu tun hatten. Lebensmittelkarten gab es weiterhin, aber nicht mehr für alle Lebensmittel. Das war natürlich eine Erleichterung, reichte aber längst nicht immer aus. Deshalb versuchten Leute, sich zusätzlich auf dem Schwarzmarkt Butter, Wurst und andere Esswaren zu besorgen. Ein halbes Pfund Butter kostete zum Beispiel etwa 160 Reichsmark. In den kommenden Wintermonaten mussten wir hungern und frieren, denn unser kleiner Ofen konnte nur die Küche heizen. Unsere Gedanken und Handlungen drehten sich meistens um die alltäglichen Probleme.

Jetzt kam die Zeit wo unsere Gemeinde eine neue Unterkunft fand. Es war die Schule in der Uferstraße, ganz in der Nähe unseres Pfahlhauses, das es allerdings damals noch nicht gab. Natürlich habe ich es nicht vergessen, wie sehr unsere Geschwister in Utah uns durch Care-Pakete geholfen haben. Textilien und Lebensmittel waren sehr wichtige und nützliche Güter. Vieles hatten wir seit langer Zeit hier bei uns nicht bekommen können. Noch heute kann ich keine Lebensmittel vernichten, wir haben in den vergangenen Jahren soviel hungern müssen, und auch jetzt gibt es viele Menschen, die Hunger leiden. Ich achte bis heute sehr darauf, dass keine Lebensmittel verderben und gehe bewusst mit allem, was wir zur Verfügung haben, dankbar um.

Überall lagen die Trümmer der zerstörten Häuser in den Straßen und es mussten Möglichkeiten gesucht werden, sie irgendwie zu entfernen. Unser Kanal wurde bis auf drei Meter Breite damit zugeschüttet, sodass heute nur ein kleiner Bach durch den jetzigen Park fließt. Die Kinder von damals haben noch mehrere Jahre in den Trümmern spielen müssen. Am 20. Juni 1948 gab es eine Währungsreform, das bedeutete folgende Veränderungen. Für jeden Einwohner wurde im Verhältnis von zehn zu eins Geld getauscht. Jeder Person, ob Erwachsener und Kind, standen 40,- DM (deutsche Mark) zu, das heißt: 400,- Reichsmark mussten dafür bezahlt werden. Bis zu diesem Tag waren die Läden leer. Über Nacht waren die Schaufenster mit allem gefüllt, was zum Leben gehört, und das auf allen Gebieten. Nun war auch die Zeit der Lebensmittelkarten bald zu Ende. Wir konnten uns auf eine neue Zukunft einstellen. Am 3. Mai 1949 freuten wir uns über die Geburt unserer lieben kleinen Gisela.

Ein Jahr nach dem Tod meines Mannes (1991) hatte ich die sehr erfreuliche Gelegenheit, eine Tempelmission anzutreten. In den Wintermonaten der Jahre 1992/93, 1993/94, 1994/95 und 1995/96 hatte ich die Möglichkeit im Frankfurter Tempel zu dienen. Es war eine wunderbare Zeit. Meine Erlebnisse, die ich nur dort haben konnte, brachten mir immer wieder die Gewissheit, dass unser Vater im Himmel und Jesus Christus leben, dass unsere Schriften wahr sind, dass Christus unser Erretter ist, dass Joseph Smith ein wahrer Prophet ist und dass unsere lebenden Autoritäten das wahre Evangelium verkünden. Ich habe auch die Hilfe, die mir täglich gewährt wurde, gern angenommen und angewendet. Im Winter 1992/93 wurde ich vom damaligen Tempelpräsidenten Johann Wondra gefragt, ob ich bereit wäre, auf einer Fireside über die Kriegsereignisse in Hamburg zu sprechen. Ich habe es getan und auch Fragen von den Gästen beantwortet. Am Ende der Veranstaltung kam ein amerikanischer Missionar zu mir, der mit seiner Frau ebenfalls Tempeldienst leistete. Er war ganz traurig, als er von den Luftangriffen der Flugzeuge auf Hamburg hörte und sagte: “Ich war einer von ihnen”! – und er weinte.

Jetzt, mehr als 61 Jahre nach dem Kriegsende, kommen die Menschen immer noch nicht zur Ruhe. Den Politikern und anderen verantwortlichen Berufsgruppen, die in der Öffentlichkeit arbeiten, ist bekannt, dass durch Gewalt nichts Gutes erreicht werden kann. Sie handeln also wider besseres Wissen.

Durch unser Evangelium sind wir in der glücklichen Lage, auch während dieser vorausgesagten schwierigen Zeit in unseren Familien und in unserem Umfeld Frieden zu bewahren. Aufgrund der schweren Kriegsjahre haben viele Mitglieder mit ihren Familien aus Angst vor der Zukunft Deutschland Anfang der fünfziger Jahre verlassen. Der größte Teil ist nach Utah ausgewandert. Vorgestern – am 25.10.2006 – wurde eine Informationssendung im Fernsehen ausgestrahlt, die in regelmäßigen Abständen gesendet wird. Darin werden mehrere Themen behandelt und entsprechende Gäste dazu eingeladen. Bei einem Teil war es ein Bauarbeiter und ein Sprengmeister. Der Arbeiter hatte in der Erde eine Bombe gefunden, und. die zuständige Behörde benachrichtigt. Ein Sprengmeister wurde eingeschaltet. Vor einer Sprengung wird ein bestimmtes Gebiet gesperrt. Die Bewohner von dort werden gebeten, ihre Heime zu verlassen, um Verletzungen zu vermeiden. Nach der gelungenen Entschärfung können sie ihre Wohnungen wieder betreten. In diesem Fall ging es um eine Phosphorbombe. Nicht immer gelingt es, eine Bombe unschädlich zu machen. Es ist schon mehrmals vorgekommen, dass Kinder einen unbekannten Gegenstand beim Spielen fanden und sich damit beschäftigt haben. Die Bombe war explodiert und hat die Kinder schwer verletzt. Im deutschen Bundesland Niedersachsen sind inzwischen über 10 000 Blindgänger gefunden und entschärft worden. Vor etwa einer Woche hat eine Bombe in Hamburg und wenige Tage vorher eine an einer westdeutschen Autobahn wieder Schaden angerichtet.