Wien, Österreich
Ich bin Heinz Peter Stanek, geboren am 23. Dezember 1936 in Wien, Österreich. Mein Vater ist Johann Paul Stanek, er ist bereits verstorben. Meine Mutter ist Ella Luise Constanzia Andres, sie ist auch schon verstorben.
Ich bin in Wien geboren, aber die Familie ist im Jahr 1940 nach Berlin übersiedelt, weil mein Vater dort eine Stelle bekommen hat. Wir haben in Berlin-Nikolassee gewohnt, das ist im Südwesten, ein nobler Vorort oder Außenbezirk von Berlin, Richtung Potsdam. Dort haben wir in der oberen Etage einer großen Villa gewohnt. Es war in einer Straße, in der große Villen standen. Dort haben wir den zweiten Weltkrieg erlebt. In der Endphase des Krieges sind wir fast jede Nacht in den Bunker gefahren. Das war für ein Kind in dem Alter nicht sehr gesundheitsfördernd, wenn man einschläft und aufgeweckt wird. Wir sind mit dem Fahrrad zum Bunker geradelt, dort haben wir einige Zeit im Bunker gesessen, bis die amerikanischen Flugzeuge wieder weggeflogen sind. Dann ging es wieder nach Hause und ins Bett. So ist das in der letzten Zeit fast jede Nacht gegangen. Bei uns ist aber nichts passiert. Ich bin nur mit meiner Mutter in den Bunker gefahren, mein Vater war dort in der Nähe in einem Splittergraben oder so etwas geblieben. Unserem Haus ist nichts passiert.
Am Ende des Krieges sind die russischen Truppen nach Berlin gekommen. Sie haben ganz Berlin besetzt. Die ersten waren recht primitive Soldaten, die alles kaputt gemacht haben, was sie nicht kannten, wie Telefon, Radio und so etwas alles. Sie haben uns auch die Uhren weggenommen. Wir waren im Keller des Hauses. Der Zugang zu diesem Keller war vom Garten aus. Ich kann mich nur dunkel an diese Zeit erinnern, ich war damals acht Jahre alt. Im Keller waren meine Eltern und ich, der Hausbesitzer, Herr Hickstein, und seine Tochter mit zwei Kindern, sie waren von irgendwoher geflüchtet. Dann war noch bei uns eine Freundin meiner Mutter, die auch von irgendwoher geflüchtet und zu uns gekommen ist. Der Mann dieser Freundin, sie hieß Hermine, war noch im Krieg bei der Waffen-SS. Die Waffen-SS ist eine Kampftruppe, also nicht die, die im KZ waren. Er ist im letzten Moment ganz kurz vor den Russen gekommen mit der SS-Uniform. Das war natürlich eine gefährliche Situation. Mein Vater hat ihm Zivilkleidung gegeben und die Uniform haben sie unter einem großen Kohlenhaufen im Heizungskeller versteckt.
Die Russen sind ab und zu gekommen. Aus unserer kleinen Kellertür sind dann ein paar Männer herausgekommen und die Russen haben Abstand gehalten. Es ist nichts passiert. Nur Hermine war hoch schwanger und hat natürlich Angst gehabt, dass sie bei ihren Mann entdecken, dass er bei der Waffen-SS war. Aber es ist nichts passiert, bis auf die technischen Geräte, die kaputt waren. Soweit haben wir das Kriegsende ganz gut überstanden. Man konnte dann auch wieder einkaufen.
Ich kann mich erinnern, dass in der Nähe ein totes Pferd auf der Straße lag. Das war für mich eine unangenehme Sache. Die Russen haben sogar in dem Kino, das bei uns in der Nähe war, russische Filme vorgeführt. Wir haben kein Wort verstanden, aber wir hatten eine Abwechslung.
Dann kamen die Amerikaner. Sie haben unseren Bezirk, Zehlendorf, bekommen. Berlin wurde ja in vier Zonen aufgeteilt. Unser Bezirk war also amerikanisch. Den amerikanischen Offizieren hat diese Straße, wo so schöne Villen waren, auch sehr gut gefallen. Kurzerhand haben sie gesagt, dass die Deutschen alle raus müssen, weil sie da wohnen wollten. Sie haben diese Häuser beschlagnahmt. Wir haben innerhalb kürzester Zeit raus gemusst und haben in der Nähe, ein paar Straßen weiter, eine Notunterkunft gefunden. Dort haben wir nur in einem großen Zimmer gewohnt. Ich weiß nicht, ob das Wochen oder Monate gedauert hat, bis wir wieder zurück in unsere Häuser durften. Der erste Kontakt mit den Amerikanern war also eher negativ.
Während der Kriegszeit war ich einmal bei meinen Großeltern am Land im kleinen Ort Greifenberg, das war in Vorpommern. Dort bin ich auch die allererste Zeit, zur Volksschulzeit, in die Schule gegangen. Wir haben noch auf Schiefertafeln geschrieben. Das war eine schwarze Tafel, auf der man mit einem Griffel geschrieben hat und das man wieder wegwischen konnte. Hefte hat es nicht gegeben. Dann musste ich wieder zurück, weil die Russen nach Berlin vorgerückt waren. In Berlin war der Schulunterricht kurz vor Kriegsende und kurz danach ein bisschen chaotisch und durcheinander, weil nichts organisiert war. In unserer Straße war dann eine Schule, ein Gymnasium. Das Gymnasium habe ich bis 1952 besucht, da war ich 15 Jahre alt.
Dieses Haus, in dem wir jetzt sind, hatte mein Vater 1938 gekauft. Wir hatten dieses Haus an ein Ehepaar vermietet. Im Laufe des Krieges oder in der Nachkriegszeit wurde von den Behörden noch eine Familie einquartiert. Das Ehepaar, das das Haus gemietet hatte, hat oben und die anderen, ein Ehepaar mit zwei Kindern, haben unten gewohnt. Sie hatten nicht sehr viel Platz. Wir haben immer versucht, in das Haus zurückzukommen. Das war nicht so einfach, da sie amtlich eingewiesen waren. Man konnte ihnen damals nicht einfach kündigen.
Meine Eltern waren inzwischen geschieden. Irgendwann war die Situation so, dass der, dem wir das Haus vermietet hatten, die Miete nicht mehr bezahlt hatte. Dadurch konnten wir so genannten Eigenbedarf anmelden. Aber es war notwendig, dass wir schnell kommen und das Haus wieder in Besitz nehmen. Man kann nicht sagen, dass man Eigenbedarf hat und dann kommt man nicht. Es musste also schnell gehen. Im Sommer 1952 bin ich mit meiner Mutter nach Wien gekommen. Der Vater ist in Berlin geblieben. Das war insofern eigenartig, weil meine Mutter Berlinerin war und nach Wien gegangen ist, und mein Vater war Wiener und blieb in Berlin.
In Wien haben wir nur die obere Etage gehabt und unten hat noch immer die Familie, die eingewiesen worden war, gewohnt. Sie waren nicht so einfach hinaus zubekommen, weil das eine amtliche Einweisung war. Wenn sie nicht von selber gehen, bekommt man sie nicht raus.
Das erste halbe Jahr bin ich in Mödling, einem Vorort von Wien, in die Schule, in die Bundesgewerbeschule gegangen. Das ist die größte HTL [Höhere Technische Bundeslehranstalt]in Österreich. Sie haben jetzt etwa dreitausend Schüler. Damals war das Hauptgebäude von den Russen besetzt, die russische Kommandantur war da drin. Die HTL war auf verschiedene Gebäude aufgeteilt. Wir sind sehr viel unterwegs gewesen von einem Ort zum anderen. Ich war dort in einem Internat, weil das Wohnen hier zuerst nicht so klar war. Das Internat war das Kloster St. Gabriel in Mödling. Ich habe ein halbes Jahr im Kloster verbracht, aber nicht wirklich im Kloster. Dieser Teil des Klosters war für das Internat und wir hatten dort zum Teil auch Unterricht gehabt. Ab dem zweiten Semester bin ich auf das TGM in Wien im neunten Bezirk gegangen. TGM heißt Technologisches Gewerbe Museum. Es war aber kein Museum, sondern eine Schule. Sie hatte nur von alters her diesen Namen gehabt. Dort habe ich insgesamt fünf Jahre berufsbildende Mittelschule absolviert, in der Fachrichtung Maschinenbau bzw. Kraftfahrzeugtechnik. Wenn man eine gewisse Praxis hat, bekommt man den Titel Ingenieur.
Nach der Schule, gleich im nächsten Monat, habe ich in Wien bei der Firma Steingassner angefangen. Ein Jahr habe ich im Konstruktionsbüro in einer Zahnräderfabrik verbracht und dann bin ich zur Firma Alfa-Laval gegangen im zwölften Bezirk in die Industrieabteilung. Dort war ich ziemlich lange, so elf Jahre, bis 1970, zum Teil im Innen- und Außendienst. Anschließend habe ich bis Ende 1996 bei der Firma Henkel im Außendienst gearbeitet
1961 haben Missionare der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage vor unserem Haus gestanden. Das Besondere war dabei, ich denke, das war eine Fügung, dass der Senior-Missionar, Bruder Lehnhardt, aus Berlin gestammt hat. Seine Familie ist ein paar Jahre vorher nach Amerika übersiedelt. Er hat noch berlinerisch gesprochen. Ich war auch noch nicht so lange in Wien und für mich war berlinerisch die Sprache meiner Kindheit und Jugend. Das hat mich sicher zugänglicher gemacht. Ich habe sie beim ersten Mal nicht am Gittertor rein gelassen. Ich habe ihnen gesagt, dass ich das Tor nicht aufmachen kann, weil ich gerade das Schloss repariert habe, und wir haben nur durch den Zaun gesprochen. Sie kamen aber wieder. Damals war das Missionsprogramm noch viel länger, die Diskussionen haben länger gedauert. Sie haben mir das Buch Mormon gegeben. Für mich war das selbstverständlich, aber im Nachhinein habe ich erfahren, dass ich für sie ein ganz besonderer goldener Untersucher war, weil ich das Buch Mormon innerhalb einer Woche durchgelesen habe. Ich habe Tag und Nacht gelesen. Dadurch habe ich auch ein Zeugnis bekommen. Die Missionare haben sich vorbereitet, wie üblich, um mich dann zu fragen: „Haben sie … und wollen sie … usw.“ Für mich war das alles selbstverständlich. Das Buch Mormon ist wahr. Als die Frage kam, ob ich mich taufen lassen will, sagte ich: „Natürlich will ich mich taufen lassen.“ So bin ich am 12. Februar 1961 getauft worden.
Die Missionare hatten mich, wie es üblich ist, eingeladen, die Versammlungen in der Kirche zu besuchen. Aber ich habe gesagt, dass mich nicht interessiert, was da für Leute sind, sondern dass ich von der Lehre vom Evangelium überzeugt bin. Nach der Taufe würde ich schon sehen, wie die Leute dort ausschauen. Ich würde erst hingehen, wenn ich ein Mitglied geworden bin. Damals hatten wir in Wien noch kein eigenes Gemeindehaus und ich bin im Diana-Bad getauft worden. Das war ein öffentliches Bad, das kurzzeitig für die Taufen gemietet wurde.
Die Gemeinde in Wien war in gemieteten Räumen in einem normalen Wohnhaus. Hinten war noch eine Autowerkstätte drin. Wir hatten im Erdgeschoß zwei Zimmer und im ersten Stock einen Saal und einen kleineren Saal. Das Ganze war ziemlich alt. Es war damals ein sehr großer Zuspruch zur Kirche. Das kam durch die politische Situation mit Ungarn und Tschechien, denn von dort sind viele Leute gekommen. Der Saal, der so groß nicht war, war voll besetzt, und an den Türen haben auch noch Leute gestanden. Dadurch war es eine besondere Stimmung. Wenn ein Untersucher zum ersten Mal hinkam und gesehen hat, wie sich die Leute drängten, um etwas zu hören, war das eine ganz besondere Atmosphäre.
Ich bin dann brav in die Kirche gegangen und habe auch Berufungen bekommen. Ich war ziemlich schnell Gemeindesekretär und habe damals sehr viel zu tun gehabt, weil es sehr viele Taufen gab. Es waren in Wien damals ungefähr zehn Taufen im Monat. Damals musste man noch alles mit der Schreibmaschine schreiben, alle Mitgliedsscheine und Berichte und das alles. Es kamen viele Leute zur Kirche.
Ich hatte damals schon den Wunsch zu heiraten und habe vorher auch Freundinnen gehabt. Meine Frau habe ich relativ kurz nach meiner Bekehrung in einem Kaffeehaus kennengelernt. Wir hatten das Gefühl, dass wir zusammenpassen. Wir haben zusammen Ausflüge unternommen und im Winter 1961/1962 sind wir gerodelt. Ich habe sie meiner Mutter vorgestellt und ich war auch bei ihr ihren Eltern. Da ich die Schriften und die Belehrungen der Missionare noch in Erinnerung hatte, habe ich meine Frau selber belehrt. Inzwischen, 1962, wurde das Gemeindehaus in der Böcklinstraße fertig gestellt. Dort war dann schon ein Taufbecken und da wurde meine Frau getauft. Es war mir nicht so klar, dass das eigentlich die Vollzeitmissionare machen sollten, aber ich habe es halt gemacht. Am 30. Mai 1963 haben wir geheiratet. Ein Jahr später, 1964, sind wir in den Tempel gegangen. Damals gab es nur den Schweizer Tempel. Ich hatte ein sehr kleines Auto und damit sind wir nach Zollikofen gefahren. Hinter dem Tempel im Wald haben wir unser Zelt aufgebaut und haben dort gewohnt. Die Herberge gab es damals noch nicht. Dort waren sehr viele mit Wohnwagen und mit Zelten. Im Tempel haben wir uns duschen können.
Ursprünglich waren drei Gemeinden in der Böcklinstraße. Dann waren zwei Gemeinden in dem Haus, weil die erste Gemeinde wieder in die Seidengasse zurückgegangen ist. Das mit den zwei Gemeinden hat sich auch nicht bewährt und sie wurden zusammengelegt auf die zweite Gemeinde. Ich war dann Ratgeber vom Gemeindepräsident, Engelbert Schauperl. Dann hat der Distriktspräsident, Leopold Soucek, mich als Gemeindepräsident für die neu zu gründende Gemeinde Wien drei, die wieder in die Seidengasse zurückgehen musste, berufen, weil inzwischen das Gemeindehaus von Wien eins fertig gestellt war. Wien eins war also in der Silbergasse. Die Seidengasse war wieder frei und wir sollten dort hingehen. Es wurde die Gemeinde Wien zwei geteilt in zwei Gemeinden und wir haben dort in der Seidengasse wieder bei Null angefangen.
Ich hatte noch viele andere Berufungen gehabt. Ich war längere Zeit Ratgeber vom Bischof oder vom Gemeindepräsidenten. Dann wurde der Pfahl Wien gegründet. Als wir endlich entlassen wurden, das war, glaube ich, nach elf Jahren, sind der Bischof und ich Hohe Räte geworden. Ein Jahr später ist der neue Bischof von Wien drei nach Kärnten übersiedelt und dann wurde ich wieder Bischof von Wien drei, der zweite Versuch, sozusagen. Zwischendurch war ich Ältestenkollegiumspräsident, Sonntagsschullehrer, Sonntagsschulleiter, Pfahl-Genealogiebeauftragter, Hohepriester-Gruppenleiter usw. Insgesamt war ich ungefähr zwanzig Jahre in der Bischofschaft.