Hamburg

mormon deutsch inge viereggeMein Name ist Inge Vieregge und ich wurde am 8.Mai.1928 in Hamburg geboren. Mit acht Jahren wurde ich 1936 in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage getauft. Meine Eltern, Helene und Hermann Laabs, hatten 7 Kinder: 1) Christel, geb. 10.Jan. 1918 – 2) Harry, geb. 3. März 1920 – und beide in Stettin geboren, die folgenden Geburten waren in Hamburg 3) Gerda, 2. März 1922, 4) Fred, 26. März 1924, 5) Inge, 8. Mai 1928, 6) Hermann, 13. März 1931 und 4) Werner, 5. Mai 1940, der allerdings nur ein halbes Jahr überlebt hat. Meine Eltern waren bereits vor dem Krieg Mitglieder der Kirche. Ich selber habe drei Kinder: Kai Heinz, 25. Aug. 1959, Jörg Fred, 26. März 1962, Ilka Helene, 10. Juni 1968 – alle in Hamburg geboren.

Alles begann für uns 1939 mit der so genannten „Kristallnacht“. Ich war im Haus und kann mich noch sehr gut daran erinnern. Meine Mutter hatte den ganzen Tag geweint, aber nicht darüber gesprochen. Ein oder zwei Tage später hatte sie dann zu meinem Bruder Hermann und mir gesagt: „Kommt mit, ich will euch was zeigen“! Sie ist dann mit uns zur „Bürgerweide“ gegangen (ein Straßenname beim Berliner Tor), in der sie uns ein Fahrradgeschäft zeigte. „Seht euch das mal an“, sagte sie und wir sahen ein völlig zusammengeschlagenes, zertrümmertes Geschäft. Dann ist sie mit uns über den Steindamm gegangen zu dem Geschäft „Vollmer“. Die hatten eine Passage über die Straße; das sah genau so aus und war völlig zerstört worden. Sie hat uns das deutlich gezeigt und ist dann mit uns wieder nach Hause gefahren, ohne jedoch darüber zu sprechen. Erst später im Laufe der Zeit wurde uns klar was sie damit hat sagen wollen und was das alles zu bedeuten hatte.

Meine Heimatgemeinde der Kirche in den Kriegstagen, war Sankt Georg, am Besenbinderhof. Vorher war in diesen Räumen wahrscheinlich eine Loge gewesen. Die Gemeinde bestand aus etwa 80 bis 100 Mitglieder. Einige der Mitglieder hatten damals noch die Geschichte unserer Gemeinde geschrieben, dann aber sind viele von ihnen nach den USA ausgewandert. Auch der Bruder Hübener gehörte zu unserer Gemeinde. Sein Werdegang bis zu seiner Hinrichtung ist ja allgemein bekannt und schon mehrfach geschrieben worden.

Ich sehe im Geiste immer noch am Eingang zum Gemeindehaus einen SA-Mann mit langen braunen Stiefeln stehen, um uns zu kontrollieren und von anderen Mitgliedern weiß ich, dass wir unsere Zionslieder nicht singen durften, weil es uns verboten war. Ich persönlich hatte aber damals noch nicht viel von Problemen bemerkt, dafür war ich wohl mit 11 Jahren noch zu jung. Meine Eltern waren keine eifrigen Kirchgänger und wir Kinder wurden nur zeitweilig zur Kirche geschickt. Zum Beispiel am Wochenende zur Sonntagsschule und zu den Klassen der Jugendlichen – aber nicht während der Woche. Zu der Zeit hatten wir ja auch noch unsere Versammlungen morgens von 9 bis 12 und nachmittags von 17 bis 19 Uhr.

Meine ersten Eindrücke vom Krieg hatte ich, als wir merkten, dass der Krieg nicht an uns vorüber ging. Die Bombenangriffe unterbrachen natürlich unseren Frieden und das Laufen zu den Luftschutzkellern zu jeder Tages- oder Nachtzeit war entsetzlich. Ebenso aber haben sich mir einige Dinge der damaligen Zeit fest eingeprägt wie zum Beispiel das Sammeln von Granatsplittern und Silberpapier von den Zigarettenschachteln und ganz schlimm war es, als wir merkten, dass einige Kinder der Nachbarschaft, plötzlich verschwanden. Über Nacht waren sie mit den ganzen Familien weg. Den einen Tag haben wir noch mit ihnen gespielt, am nächsten waren sie fort und die Fenster des Hauses wurden zugenagelt. Jetzt im Nachhinein, glauben wir, dass es Juden waren.

Was ich aus der Kinderzeit noch erinnere ist die Verdunkelung. Wenn man nachmittags um fünf oder sechs einkaufen wollte, dann musste man im Dunkeln gehen. Man durfte ja kein Licht machen, die Laternen auf den Straßen durften auch nicht leuchten und in den Häusern nur dann, wenn die Rollos ausreichend abdichteten und das Licht nicht an den Seiten nach draußen durch schien, denn sonst wurde gleich vom dem draußen patrouillierenden Luftschutzwart gebrüllt: „Licht aus“!!! Und kurz darauf begann die Luft auch schon vom Gebrumm der Flugzeuge zu vibrieren, die Sirenen heulten und alles flüchtete wieder in die Luftschutzkeller.

Konzentrationslager hatten wir zwar gewusst, dass es sie gab, aber wir waren immer der Meinung gewesen, da kommen die Verbrecher hin. Dass die Juden da vergast wurden ist uns nicht bekannt gewesen. Das haben wir zu der Zeit nicht gewusst. Nicht einmal mein Vater! – Als es nach dem Krieg eines Tages im Fernsehen gezeigt wurde, hatte er noch gesagt, dass er das nicht glauben kann.

Wenn wir unterwegs waren, und es Alarm gab – dann heulten die Sirenen – und es regnete Silberpapier, Bomben, Minen und Phosphor vom Himmel und es heulte, pfiff und krachte in den Straßen. Die Häuser wackelten, die Scheiben barsten und der Kalk rieselte im Luftschutzkeller von den Wänden. Einmal bin ich davon vor Schreck beinahe aus dem Bett gefallen. Das ging bis zu dem Tag, an dem wir ausgebombt wurden. Das war dieser große Bombenangriff auf Hamburg, der sinnigerweise mit Namen „Gomorrah“ benannt wurde. Es begann mit dem Abwurf von Silberpapier um die Peilung der militärischen Suchgeräte zu stören, dann wurde Phosphor abgeworfen, der wie Tannenbäume am Himmel brannte und dann die Brandbomben. In den Arbeitervierteln, wo die Kohlen zum Heizen der Wohnungen auf dem hölzernen Dachboden lagen, sind ganze Viertel abgebrannt und unser Haus auch mit.

Wir wohnten in Borgfelde, als Hammerbrook nieder brannte. Das ist in der Nähe des am schlimmsten betroffenen Viertels von Hamburg. Zwar nicht direkt im Arbeiterviertel, sondern mehr am Rand, aber die anderen Regionen Hamburgs sind ja auch davon betroffen gewesen. Drei Tage und drei Nächte wurde Hamburg bombardiert. Der Brand war die Hölle auf Erden. Die Menschen auf den Straßen wurden zum Teil vom Feuersturm erfasst und in den nächsten Brand hineingeweht. In den Straßen standen die Menschen auf dem Phosphor und haben grotesk ausgesehen wie kleine Puppen, so waren sie verbrannt und zusammengeschrumpft. Wir hatten uns vor dem Phosphor und der Hitze dadurch geschützt, dass wir uns unter nassen Wolldecken verbargen, die immer wieder nass gemacht werden mussten. Nachher sind wir dann mit einem Lastwagen mitgefahren und nach Friedrichsruh gebracht worden. Dort haben wir im Schloss ein Lager bekommen. Die Kühe auf den Weiden waren schwarz geworden von dem sich in der Luft befindenden Ruß und waren ganz wunderlich anzusehen.

Erst daraufhin sind wir dann nach Stettin und von dort aus nach Pommern, zu meinen Großeltern gereist – dreckig, speckig und verrußt wie wir waren – und da haben wir dann ein paar Tage gelebt. Doch meine Mutter und ich mussten wieder nach Hamburg zurück, wir waren ja berufstätig. Meine Schwester aber ist in Stettin geblieben und hat sich dort eine Arbeit gesucht. Mein jüngerer Bruder Hermann blieb bei meiner Tante und mein Vater, der nur ein Auge hatte, ist während dieser Zeit fast gänzlich erblindet und blieb ebenfalls in Pommern.

Wieder in Hamburg angekommen, haben wir dann in Aumühle in einem Eisenbahnwaggon geschlafen. Es war eiskalt – so um die 20° Minus müssen es gewesen sein. Alles war mit dicken Eisblumen übersät. Das Zeug, das wir auf dem Leib trugen reichte nicht und unsere Schuhe waren durchlöchert. Darum wohl auch hatte sich einer der Bahnbeamten erbarmt und nachts die Lok angekoppelt, um wenigstens einmal durch zu heizen, dass wir nicht so froren. Wir hatten kein Zuhause mehr in Hamburg und sind umher geirrt. In jener Zeit schliefen wir in Luftschutzkellern, in Ruinen, ausgebrannten Häusern und eben in Eisenbahnwaggons. Wir hatten nichts zu essen und nichts zu trinken. Die einfachsten Dinge der täglichen Hygiene waren nicht vorhanden und nicht möglich und unsere Kleidung – besonders unsere Schuhe – waren erbarmungswürdig.

Eine kurze Zeit hatten wir in Wilhelmsburg ein kleines Zimmer zur Verfügung. Meine Schwester Christel hatte eine Wohnung in Finkenwerder, die nach ihrer Evakuierung – wegen zu gefährlicher Lage am Ölhafen – frei wurde und dann sind wir um 14 Uhr von Wilhelmsburg nach Finkenwerder während eines Bombenangriffs zu Fuß gegangen, um dort zu wohnen. Spät am Abend sind wir noch im Dunkeln mit der letzten Trajektfähre kurz vor Mitternacht über die Elbe nach Walters hof gesetzt und waren dann anderntags um 11 Uhr dort angekommen. Ich war in der Lehre, doch das Firmengebäude war auch ausgebombt worden. Darauf kam ich als Patenlehrling in eine größere Firma und weil meine erste Firma nicht wieder aufgemacht hatte, musste ich dort in der größeren meine Lehre bis zum Abschluss weiter machen.

Später haben wir dann in Friedrichsruh gewohnt und ich bin bis nach Altona in die Gemeinde gefahren. Es war in ganz Hamburg die einzige Gemeinde die noch existierte. Unsere Gemeinderäume am Besenbinderhof waren ebenfalls in Trümmer gelegt. Es trafen sich alle Mitglieder von Altona in der Freimaurerloge in der „Kleine Wasserstraße“, die es heute nicht mehr gibt. In dem großen Saal haben sich alle versammelt, vom Besenbinderhof, aus Eppendorf, von Barmbek und aus Wilhelmsburg. Alle hatten sie lange Anfahrtswege, aber zeitweilig waren wir um die 150 Personen oder mehr anwesend. Die Versammlungen wurden jeden Sonntag zweimal am Tag durchgeführt, aber nicht jeder konnte immer kommen. Teils war es uns ganz unmöglich gemacht überhaupt nur daran zu denken. Wir hatten in Finkenwerder und später in Friedrichsruh gewohnt und von Friedrichsruh noch 20 Minuten weiter außerhalb. Da ist es mir oft nicht möglich gewesen nach Altona zu kommen. Das waren rund 40 bis 50 Kilometer und Züge fuhren nicht, denn die Bahnstrecken waren ja alle zuerst bombardiert worden und fast ganz außer Betrieb, so bin ich erst kurz nach dem Krieg wieder dahin zurück gekommen. Die Straßen waren aufgerissen und voller Trümmer. Wenn wir nach Hamburg fuhren, mussten wir unterwegs oft aussteigen und das letzte Ende zu Fuß gehen und während des Krieges wurden wir dann auch noch teils von Tieffliegern angegriffen, die auf den Zug schossen oder sogar auf uns. Wo wir in dem Bahnwärterhäuschen wohnten konnten wir uns nicht einmal Wasser holen, dann kamen die Tiefflieger und wir mussten in die Büsche springen. Das waren dann aber schon die letzten Tage im Krieg, so im März, April fünfundvierzig.

1942 bin ich noch zur Kirche gegangen. Es waren immer noch einige Priestertumsträger da, die die Gemeinde leiten konnten. Doch 1943 wurden wir ausgebombt und seitdem hab ich oft nicht mehr zur Kirche kommen können. Es war einfach nicht möglich. Einige junge Leute waren eingezogen worden, wie auch Bruder Sommerfeld. Gemeindeaktivitäten aber waren eingestellt, die waren gar nicht mehr möglich. Die ausgebombten Mitglieder hatten ja keine Bleibe und jeder war darauf bedacht sich für die nächste Mahlzeit wieder etwas zum Essen zu besorgen, oder eben nur die notwendigsten Sachen, die man so brauchte, um nur schon mal von Tag zu Tag weiterleben zu können. Jeder musste sehen, dass er zu Recht kam. Auf den Lebensmittelkarten bekam man auch schon nichts mehr. Die Geschäfte waren ja leer. Das kann man gar nicht alles so schildern, wie das war. In einer Einkaufsschlange stand ich einmal schon sehr lange an, da bin ich ohnmächtig geworden und umgefallen. Bei einer Führerrede, die wir uns alle immer anhören mussten, bin ich auch einmal umgekippt. Ich hatte schon meine Lehrerin vor mir am Mantel gezupft, aber sie hatte nicht darauf reagiert und da bin ich umgefallen und man hat mich raus getragen.

Jeder hat um seine eigene Existenz kämpfen müssen. Man konnte nirgends mehr hinkommen. Es fuhr keine Bahn, kein Auto und kein Bus. Selbst Fahrräder konnten auf den aufgerissenen Straßen nicht fahren – nur zu Fuß war es möglich, indem man über alles im Weg herumliegende hinweg kletterte. Wenn mal ein Zug fuhr, dann nur eine Kurzstrecke, die vielleicht gerade wieder notdürftig repariert war. Die meisten Wagen hatten keine Fenster, keine Türen oder waren auf sonstige Weise beschädigt. Und dann hatten wir nichts anzuziehen – keine Kleidung, keine Schuhe, nur was wir mal geschenkt bekommen hatten und auf dem Leib trugen. Das war dann aber auch bald aufgebraucht. Wir hatten Hunger, wir froren und wir mussten sehen dass wir von einem Tag zum anderen am Leben blieben und zu Recht kamen. Später, als wir nicht mehr wussten wohin, sind wir in einem Bahnwärter Häuschen untergekommen – sechs Quadratmeter groß. Bei uns war eine Bahnschranke, aber das Stellwerk war etwas weiter entfernt. Wir hatten Eis an den Wänden, aber wir hatten ein neues Zuhause. Es war ein eiskalter Winter mit bis zu rund 20 ° minus Kälte. Ein kleiner Ofen war vorhanden, eine so genannte „Hexe“ auf der auch gekocht werden konnte, den haben wir mit Sammelholz geheizt.

Hamburg war total ausgebombt und kaputt. Manche Gebiete waren völlig abgesperrt, da durfte man nicht gehen. Erstens wegen Einsturzgefahr der noch übrigen Mauerreste und wegen der vielen herumliegenden Leichen. Auf den aufgerissenen Straßen häufte sich der Schutt zu Bergen und teils war man durch große Krater daran gehindert weiter zu gehen. Um zur Arbeit zu kommen, musste ich mit der Bahn fahren. Damit ich morgens um viertel nach fünf schnell zum Bahnhof kam, war mir der Weg über die Straße zu lang und so wählte ich den kürzeren von unserem Bahnwärterhäuschen auf dem Gleiskörper entlang zum Bahnhof. Da hatte ich ein grausiges Erlebnis, als ich eine Leiche entdeckte, die sich den Kopf hatte abfahren lassen. Und das ist zweimal geschehen. Außerdem wurden wir oft von den Tieffliegern angegriffen, die die Gleisanlagen und die Bahnaktivitäten zu stören suchten. Wenn wir Wasser holen gingen, mussten wir oft schnell am Wegesrand in die Büsche springen um nicht beschossen zu werden. Auf den Gleisanlagen vor unserem Haus standen Waggons mit Eisenbahngeschützen aufgestellt und immer wieder waren wir schon dadurch im Mittelpunkt der täglichen Angriffe.

Aus unserem Bahnwärterhäuschen mussten wir aber wieder raus, weil unsere kleine Notunterkunft die letzten Tage noch von den deutschen Funkern besetzt wurde. Die letzten Nächte haben wir dann in einem Tunnel für den kleinen Wasserlauf bei uns geschlafen. Es wurde immer noch viel bombardiert, weil sie ja die Bahn zerstören wollten. Die letzten Tage war dann noch das Schloss von „Bismarck“ getroffen, obwohl die Rote Kreuz Fahne als das internationale Zeichen für Lazarett ausgehängt war. Das Ende des Krieges war direkt an meinem Geburtstag, am 8. Mai 1945, da bin ich 17 Jahre alt geworden. Die englischen Offiziere sind zu uns herein gekommen und haben uns den Frieden verkündet, da waren wir alle sehr erleichtert. Aber leider wurde im Wald immer noch geschossen. Das hielt noch einige Tage an. Einige aufgehetzte junge Leute wollten den Krieg immer noch gewinnen.

Ich bin oft gefragt worden wie man in so schwierigen Verhältnissen das Zeugnis vom Evangelium Jesu Christi behalten kann. Entweder man hat einen Glauben oder man hat ihn nicht. Wenn man einen Glauben hat, dann bleibt man auch dabei und betet zu Gott, dass man die Kraft bekommt das durchzustehen. Damals als Kinder haben wir alles, was so auf uns zu kam eben nur angenommen und haben das Beste daraus gemacht. Ja, es gab schon Situationen wo der himmlische Vater mich geführt, behütet und beschützt hat. Es ist ja auch auf uns geschossen worden und es ist nichts passiert, weil vorbeigeschossen wurde.

Die Bahnstrecke, an der wir wohnten kreuzte sich bei uns und da die Gleise für die Heimkehrer gute Orientierungslinien waren, trafen sich bei uns sehr viele dieser Kriegsheimkehrer aus den sich kreuzenden Linien, die alle wieder nach Hause wollten. So manches Mal haben bei uns zehn und mehr von den grausam ausgepumpten Soldaten übernachtet, um am nächsten Tag weiter zu ziehen. Einmal kam einer und fragte nach Wasser. Wir hatten keines mehr ihm mitzugeben. Meine Mutter sprach allein mit ihm und wollte nicht, dass wir Kinder ihn sehen, aber sie sprach dann mit uns: „Dieser Mann hat schon aufgesprungene Lippen und macht es bestimmt nicht mehr bis nach Hause. Wir haben noch vier Scheiben Maisbrot und etwas Schmalz, wollen wir ihm davon zwei Scheiben abgeben“? Und wir stimmten zu.

Am nächsten Tag klopfte es bei uns. Ein Förster stand vor der Tür und fragte nach dem Weg, denn er hatte sich verlaufen, weil es stark neblig war. Er konnte unmöglich weitergehen und wir beherbergten ihn eine Nacht. Meine Mutter konnte ihm aber nichts mehr zu essen anbieten, da wir ja selber nichts mehr hatten. Er war sehr verwundert darüber und am nächsten Tag brachte er uns aus Dankbarkeit einen Sack Pferdebohnen. Wir waren so dankbar für diesen Segen, der ja um so viel größer war, als die zwei Scheiben Maisbrot vom Tag vorher. Der Vater im Himmel lässt sich nichts schenken. Geschichten dieser Art haben wir viele erlebt, denn die Heimkehrer haben alle bei uns mit gegessen.

Damals war ich in der Gemeinde nicht so integriert und kannte nicht so viele der Mitglieder. Die jungen Leute, mit denen ich zu tun hatte, sind alle wieder zurückgekommen. Ich weiß nur von meinem Cousin Gerhard Köhler, der verloren ging und nicht wieder heimkehrte, ich kannte aber auch nicht so viele.

Erwähnen möchte ich auf jeden Fall noch die Hilfe, die wir von der Kirche der Heiligen der Letzten Tage aus Amerika bekommen haben. Ich habe Schuhe bekommen, ein Kleid, einen Mantel und Weizengrütze. Auch Dosen mit Pfirsichen – oh! Das werde ich nie vergessen, wie die Pfirsiche geschmeckt haben. Das kann man sich überhaupt nicht vorstellen, wie diese Pfirsiche schmeckten! Und dann haben wir Grütze gegessen, Weizengrütze. Und Decken haben wir bekommen – diese Patchwork-Decken. Und damit haben wir wieder vielen anderen Leuten helfen können.

Bei uns kamen die ganzen Heimkehrer durch. Die Engländer haben das nachher erfahren und sie abgefangen, um sie in Gefangenschaft zu bringen. Wenn die Engländer aber nicht da waren, dann haben wir den Heimkehrern die Decken gegeben und sie sollten sich in der Schonung verstecken und erst einmal schlafen und immer wenn die Engländer weg waren, sind wir dann in die Schonung gegangen und haben die Decken wieder geholt. Diese drei Patchwork-Decken die wir hatten, haben nicht nur uns geholfen, sondern auch vielen anderen. Bei einer der Familien, die diese Pakete zusammengestellt hatten, war eine Adresse mit dabei und wir haben uns brieflich dafür bedankt und daraufhin haben sie uns noch einmal ein Paket geschickt.

Weil ich keine Schuhe anzuziehen hatte und immer durch den Matsch im Wald zu gehen hatte, bin ich krank geworden. Meine ganzen Füße waren wund. Die Zehen waren bis auf die Knochen durch gefressen, dann hatte ich überall Schweinsbeulen und Furunkeln am ganzen Körper und in der Leiste war eine Drüse entzündet mit einem Faustgroßen Geschwür welches mich am Gehen hinderte. Ich war schon im Delirium und kein Arzt kam. Das waren alles so Begleiterscheinungen, weil man nichts Rechtes zu Essen und nichts anzuziehen hatte. Die Entbehrungen der ganzen Jahre machten sich auf diese Weise bemerkbar. Ich konnte ja auch nicht zur Arbeit gehen und da hat man mir Schuhe besorgt. Leinenschuhe mit Holz unter! Ich musste damit durch den Matsch im Wald; die waren natürlich auch bald hin.

Und dann hatten wir Hunger. Meine Mutter hatte uns nachher aus lauter Verzweiflung die Lebensmittelkarten selbst in die Hand gegeben und gesagt: „Hier, besorgt euch selber was. Ich habe nichts mehr“! Da kam die Spende aus Amerika und dann haben wir mal Steckrüben bekommen und es gab jeden Tag Weizengrütze mit Steckrüben. Aber alles war natürlich ohne Fett. Im Krieg waren alle Einkäufe recht mager. So haben wir am Ende des Krieges gehungert. Aber die richtige Hungerzeit haben wir erst nach dem Krieg erlebt. Es gab ja nichts mehr! Bis es dann langsam wieder anfing besser zu werden mit den Lebensmitteln und den anderen Gebrauchsgütern.

Alles, was so auf uns zu kam haben wir eben nur so angenommen und das Beste daraus gemacht. Ich kann wirklich sagen, der Vater im Himmel hat mich allezeit beschützt und ich bin sehr dankbar dafür. Nie bin ich wirklich in Not geraten. Letztendlich hat Er mich immer wieder davor beschützt unter zu gehen. Immer hat Er mich vor dem Schlimmsten bewahrt.