Bielefeld, Nordrhein-Westfalen
[Geschrieben von Hartwig Wächter[1]*] Mein Vater, Karl Erwin Wächter, wurde am 3. April 1912 in Bielefeld geboren. Sein Vater war Albert Heinrich Wächter, geboren am 11 Dezember 1871 in Bielefeld und seine Mutter war Anna Friedrike Eliese Kröger, geboren am 30. Oktober 1876 in Bünde. Die Mutter von Erwin Wächter wurde bereits 1920 getauft. Sie lernte die Kirche durch eine Mitglieder-Familie kennen, die in ihrem Haus wohnte. Diese Familie wanderte kurze Zeit später nach Utah aus. Erwin wurde drei Jahre später getauft, am 7. Mai 1923, als er 11 Jahre alt war. Sein Vater, Albert Heinrich Wächter, unterstützte zwar die Familie in kirchlichen Angelegenheiten, ließ sich aber erst 1932 taufen.
Mein Vater war zu der Zeit meiner Geburt 32 Jahre alt. Kurz danach wurde er zum Militärdienst einberufen und musste seine Ehefrau mit zwei kleinen Kindern zurücklassen. In der deutschen Wehrmacht wurde er zum Sanitäter ausgebildet und er hatte die Aufgabe, verwundete Soldaten zu bergen, sie zu versorgen und zum Truppenlazarett zu bringen. In den Jahren zuvor waren schon mehrere hunderttausend Soldaten in Europa gestorben und eine Einberufung zu diesem Zeitpunkt, als der Krieg auf eine Entscheidung hinauslief, war äußerst kritisch und die Wahrscheinlichkeit, sein Leben zu verlieren, sehr hoch. Die Entscheidung des 2. Weltkrieges wurde am 6. Juni 1944 eingeleitet, als alliierte Truppen in der Normandie (Frankreich) landeten. In den folgenden Monaten gab es an vielen Plätzen heftige Kämpfe und bei einem solchen Gefecht wurde mein Vater am 6. November 1944 bei La Chapelle, Frankreich, von einer Granate getroffen und schwer verletzt. Neben großen Fleischwunden an seiner linken Körperseite und Beinen war vor allen Dingen seine linke Hand betroffen, an der mehrere Finger zerfetzt waren. Infolge des hohen Blutverlustes und der Schmerzen brach er zusammen und konnte sich nicht mehr retten, während seine deutsche Einheit sich nach dem Angriff zurückzog und sich in sichere Stellungen brachte. In solchem schrecklichen Kampfgeschehen war es durchaus üblich, dass schwer verletzte und gefallene Soldaten von den übrigen zurückgelassen werden mussten, um sich selbst zu retten. Mein Vater lag also dort auf dem Schlachtfeld mit starken Schmerzen, hohem Blutverlust und ohne Hilfe in der Novemberkälte und Nässe, dem sicheren Tod entgegensehend. Er ist aber von amerikanischen Soldaten gerettet worden.
Nur kurze Zeit später kamen zwei amerikanische Soldaten der 7. Armee, die – völlig ungewöhnlich in einer solchen Situation – dem deutschen Soldaten Erste Hilfe leisteten und ihn als einen „Prisoner of War“ zu einem amerikanischen Lazarett brachten. Hier wurden die zerfetzten Finger seiner Hand amputiert und seine Wunden behandelt. Seine Gefangenen-Nummer war „Internment serial number 81-G-501, 726-H“.
Der Kontakt zu seiner deutschen Kompanie und natürlich auch zu seiner Familie in Bielefeld war gänzlich abgebrochen. Man nahm an, dass er bei dem Angriff amerikanischer Truppen am 6. November 1944 getötet worden wäre. Meine Mutter erhielt kurze Zeit später von dem deutschen Kompaniechef meines Vaters einen Brief mit der Mitteilung, dass mein Vater vermisst sei und wahrscheinlich bei dem Angriff ums Leben gekommen sei. Der Kompaniechef sprach ihr zu dem schmerzlichen Verlust sein Beileid aus.
Doch mein Vater lebte, wusste aber nichts von seiner Familie in Bielefeld, genauso wie seine Familie keine Nachricht über seinen Verbleib hatte. In seinem Tagebuch schrieb er am 10. Oktober 1945: „Der Vater im Himmel wird bestimmt meine Gebete erhören. Möge ich bald die Gelegenheit haben, dass ich mit meinen Lieben vereint sein kann. Wenn es mir hier auf Erden nicht vergönnt sein sollte, dann im Himmel“.
Im Frühjahr 1946 konnte mein Vater zu seiner Familie nach Bielefeld zurückkehren. Dank amerikanischer Soldaten wurde sein Leben erhalten. Er war stets ein tüchtiger Priestertumsträger und hat in der Kirche in verschiedenen Führungsaufgaben viele Jahre gedient. Er hat mich getauft und konfirmiert, mir das Aaronische und Melchisedekischen Priestertum übertragen und zu diesen und anderen Anlässen seine verstümmelte Hand auf meinen Kopf gelegt und Segen gespendet; ebenso für viele andere Gemeindemitglieder. 1989 starb er am 20. Dezember in Bielefeld im Alter von 77 Jahren.
Erwin Wächter war immer aktiv in der Kirche. Er lernte eine junge Frau kennen, die kein Kirchenmitglied war. Er heiratete sie, Luzie Grothaus, im Jahre 1935, die sich 1938 dann auch der Kirche anschloss. Seitdem war das Ehepaar gemeinsam aktiv in der Kirche tätig, wenn auch zu Kriegszeiten unter schwierigen Verhältnissen.
Erwin Wächter diente z.B. als Hoher Rat im Pfahl Hannover und war viele Jahre Gemeindepräsident und Ratgeber in Distriktspräsidentschaften. Seine Frau Luzie war FHV-Leiterin in der Gemeinde und im Distrikt Bielefeld. Er erlernte den Beruf eines Buchbinders und arbeitete bis zu seiner Pensionierung in diesem Beruf in einer großen Buchdruckerei in Bielefeld.
* Aufgeschrieben am 20. Aug. 2006