Biensdorf, Sachsen
Mein Name ist Marianne Seyfert, geborene Rothe. Ich bin am 24. April 1921 in Biensdorf in Sachsen geboren. Ich hatte noch eine ältere Schwester und zwei jüngere Brüder. Als ich zwei Jahre alt war, zogen meine Eltern nach Chemnitz, da mein Vater dort arbeitete. Ich hatte sehr liebevolle Eltern und dadurch eine sehr schöne Kindheit. Acht Jahre besuchte ich die Volksschule und danach drei Jahre noch eine Hauswirtschaftsschule, wo ich auch Schneiderin lernte.
Während des Krieges wurde ich dienstverpflichtet, in einer Munitionsfabrik zu arbeiten, die sich in Scheuen bei Celle befand. In den Bunkern der Fabrik mussten wir Munition verpacken. Es gab fast jeden Abend Fliegeralarm. Die Flugzeuge setzten Leuchtkugeln ab, sodass das ganze Gelände hell erleuchtet war. Wir hatten alle Angst, dass eine Bombe reinfällt. Es ist aber alles gut gegangen.
Im Herbst 1942 bin ich nach Chemnitz zu meinen Eltern zurück. Aber mein Vater und der ältere meiner Brüder Ernst Rudolf waren schon beim Militär. Mit 18 Jahren wurde dann auch der jüngere Bruder Hans Gerhard zur SS (Schutzstaffel) eingezogen. Bei der Musterung wurde er gefragt, ob er etwas gegen die SS hätte. Er konnte nicht „Ja“ sagen, weil er sonst sofort verhaftet und vielleicht sogar getötet worden wäre. Nach dem Krieg geriet er in amerikanische Gefangenschaft, und danach in englische Gefangenschaft. Als er entlassen wurde, ist er in England geblieben und hat dort geheiratet. Er hatte drei Kinder.
Auch mein Vater und mein Bruder Ernst Rudolf haben den Krieg überlebt. Meine Schwester Irene Hildegard Rothe, verheiratete Rockmann, wohnte in Leipzig. Ihr Mann ist im letzten Kriegsjahr gefallen. Da die Luftangriffe immer heftiger wurden, kam sie nach Chemnitz zurück. Hier wurde 1944 ihr Sohn Joachim geboren.
Einmal bat mich meine Schwester mit ihr nach Leipzig zu fahren, um nachzusehen, ob ihre Wohnung noch erhalten geblieben war. Gerade als wir dann in Leipzig waren, erfolgte am nächsten Tag ein Großangriff und es hat überall gebrannt. Als wir zum Bahnhof wollten, lagen ringsherum nur Trümmerhaufen. Die Straßen waren alle verschüttet und es war kaum ein Durchkommen. Aber wir haben es dann doch noch geschafft.
Da die Luftangriffe auch in Chemnitz immer heftiger und immer öfter waren, sind meine Mutter, meine Schwester mit Sohn Joachim und ich mit meiner Tochter Rosemarie zu einem Onkel (ein Bruder meines Vaters) nach Niederrossau in die Nähe von Frankenberg gezogen. Er hatte einen Gasthof und eine große Landwirtschaft. Wir sind zuerst zu Fuß mit dem Handwagen und zwei Kinderwagen bis nach Frankenberg gelaufen. Das waren ungefähr 20 Kilometer. Dort haben wir eine Nacht bei einer Schwester meiner Mutter geschlafen und am nächsten Tag sind wir nochmals circa 12 Kilometer nach Niederrossau gelaufen.
Ich musste aber abends mit dem Fahrrad zurück nach Chemnitz, weil ich bei einer Deutschen Fernsprechgesellschaft gearbeitet habe, wo wir Telefonwählerscheiben justiert haben. Jeder Beschäftigte musste einmal die Luftschutzwache übernehmen. Als ich in dieser Nacht dableiben sollte, sagte ich, dass ich noch einmal nach Hause müsste und mir wurde gesagt, dass ich unbedingt wieder kommen sollte. Als ich dann von zu Hause wieder in die Fabrik wollte, gingen die Sirenen und es war Fliegeralarm. Ich wollte jedoch in die Firma zurück, doch die Hausbewohner meinten, es sei viel zu gefährlich und ließen mich nicht gehen. Gemeinsam mit den Hausbewohnern bin ich dann in den Keller gegangen. Dort haben wir uns alle auf den Boden gelegt und gewartet, bis der Luftangriff vorüber war. Die Bomben, die wir hörten, trafen uns nicht, aber die, die wir nicht hörten hätten uns treffen können. Fast die ganze Stadt brannte. Es war alles sehr schlimm. Bei diesem Angriff wurde die Firma getroffen, und wäre ich dort gewesen, wäre ich mit umgekommen. Ich war allein und meine Mutter hat in Niederrossau gebangt, ob mir etwas passiert war. Es war alles so furchtbar, und ich bin dem Himmlischen Vater dankbar, dass ich die vielen Fliegerangriffe überlebt habe.
Mein Mann Emil Herbert Seyfert und ich haben im Februar 1946 geheiratet. Wir waren 58 Jahre glücklich verheiratet. Er war schon als Kind getauft und immer aktiv in der Kirche. Doch am Ende seines Lebens war er demenzkrank. Diese letzten 3 Jahre waren eine schlimme Zeit. Er starb 2004. Durch meinen Mann lernte ich das Evangelium und die Kirche kennen und so wurde ich im Herbst 1946 in einem Bach in Geyersdorf getauft. Die ersten Freundschaften in der Annaberger Gemeinde entwickelten sich mit Bruder und Schwester Wagner. Schwester Marianne Wagner war eine sehr liebe Schwester, die mir viel Gutes getan hat. Sie sind jedoch Anfang der fünfziger Jahre nach Amerika ausgewandert. Wir sollten unbedingt mitkommen. Aber wir kannten in Amerika niemand, der für uns gebürgt hätte. Inzwischen ist Schwester Wagner verstorben.
Wir waren auch alle sehr dankbar, als nach dem Krieg von Amerika Pakete mit Konserven und Weizenschrot kamen. Diese Nahrungsmittel haben uns sehr über die Nachkriegszeit hinweggeholfen.
Nachdem ich Mitglied in der Kirche geworden war, wurde ich gleich als Lehrerin und Ratgeberin in die Primarvereinigung berufen. In diesen Berufungen war ich 20 Jahre tätig. Anschließend wurde ich als FHV-Leiterin eingesetzt. In dieser Berufung war ich zehn Jahre tätig. Danach war ich nochmals zwei Jahre in der Primarvereinigung. Jedoch hat mir diese Berufung keine Freude bereitet, denn die Kinder waren alle frech.
Zu dieser Zeit war Bruder Willy Schramm Gemeindepräsident. Er war es viele Jahre. Einige ältere Mitglieder in Amerika können sich vielleicht noch an ihn erinnern. Nach ihm war Bruder Werner Jungk der Gemeindepräsident. Beide sind bereits verstorben.
Als FHV-Leiterin gab es immer sehr viel zu tun. Zweimal waren in der Annaberger Gemeinde Distriktkonferenzen. Die Brüder und Schwestern kamen unter anderem aus Chemnitz, Mittweida, Hohenstein-Ernstthal und Schwarzenberg. Die meisten von ihnen hatten kein Auto und haben bei den Annaberger Mitgliedern übernachtet. Sonntagmittag wurde dann für die auswärtigen Brüder und Schwestern Mittagessen gekocht, da eine große Küche vorhanden war.
Ein ganz besonderes Erlebnis war es auch, als im Februar 1982 unser jetziger Prophet und Präsident der Kirche Thomas S. Monson die Konferenz besuchte. Alle Konferenzen waren eine aufbauende und schöne Zeit und die älteren Geschwister erinnern sich noch gern daran. Als ich FHV-Leiterin war, haben fünf Schwestern geheiratet. Zwei sind in der Annaberger Gemeinde geblieben, drei sind nach Forst gezogen. Sie kommen aber immer gern zu Besuch und sind alle noch treue Mitglieder und fest im Glauben.
Mein erstes Zeugnis erhielt ich, als ich in der Primarvereinigung tätig war. Wir hatten nur noch 5,00 Mark und mein Mann hatte dieses Geld für den Zehnten zurückgelegt. Nach dem Krieg gab es wenig Nahrungsmittel und auch wenig Geld. Ich war nicht einverstanden, denn diese 5,00 Mark sollten für die nächste Woche reichen. Aber mein Mann sagte mir: „Lasse uns darum beten“, was wir auch getan haben. Als wir am Sonntagmorgen zur Kirche kamen und ich meine PV-Leiterin Schwester Johanne Schieck begrüßte, drückte sie mir 5,00 Mark in die Hand. Ich fragte, warum sie mir das Geld gibt. Darauf antwortete sie: „Ich weiß, du brauchst es, nimm es nur.“
Im Laufe der Jahre hat sich mein Zeugnis immer mehr gefestigt. Ich weiß mit Bestimmtheit, dass das Evangelium wahr ist, dass Christus lebt und unser Himmlischer Vater uns hilft, wenn wir unseren Teil getan haben und ihn darum bitten. Ich bin dankbar für meine zwei Kinder mit Ehepartner, für meine vier Enkel und deren Ehepartnern und neun Urenkel. Der Herr möge sie alle segnen, dass sie standhaft und treu bleiben im Werk unseres Herrn Jesus Christus.