Berlin
Mein Name ist Sabine Worm. Ich bin am 7. Juli 1926 in Berlin geboren. Mein Vater hieß Karl Worm. Er war Ofensetzer von Beruf. Meine Mutter hieß Grete Worm. Ich hatte einen Bruder, der aber starb, bevor ich geboren wurde. Es gab keine weiteren Geschwister. Wir haben in Berlin im Hansa-Viertel gewohnt. Als ich noch ziemlich klein war, hatten meine Eltern ein Grundstück in Buch gekauft. Das ist ein nördlicher Vorort von Berlin. Wir haben dann bis 1943 immer im Winter im Hansa-Viertel und im Sommer in Buch gewohnt. Wir hatten dort einen Garten.
Die erste Schulzeit, die Grundschule hier bei uns, wurde ich alle ½ Jahr umgeschult. Ich kam aber immer wieder in dieselbe Klasse. Nachher von der Oberschule ab bin ich dann mit der S-Bahn gefahren. Die Schule war eigentlich ohne Komplikationen. Ich bin ganz gerne in die Schule gegangen, trotz des Wechsels und auch später.
Mein Vater war im 1. Weltkrieg. Er ist nicht verwundet worden. Er brauchte nicht in den 2. Weltkrieg. Sein Beruf als Ofensetzer war sehr wichtig damals. Es kann sein, dass er deshalb nicht in den Krieg musste. Dann brach der Krieg aus, aber eigentlich ging es zunächst einmal so weiter, wie vorher, bis es dann mit den Bombenangriffen anfing. Wir sind im November 1943 im Hansa-Viertel ausgebombt worden. In der Zeit waren schon mehr Bombenangriffe. Die Schulen waren zum größten Teil evakuiert. Ich war nicht in Berlin, als das alles abbrannte. Wir waren in Luckau (Luckau ist ungefähr 40 Kilometer südlich von Berlin, Richtung Dresden) und haben immer nur die Flugzeuge über uns wegfliegen sehen. Wir hatten dort Schule und waren mit unseren Lehrern dort.
Unser Haus im Hansa-Viertel ist ganz zerstört worden. Die Straße hatte 72 Häuser und davon sind 1½ stehen geblieben. Aber von meiner Familie ist niemandem etwas passiert. Meine Eltern sind ganz raus gezogen nach Buch. Das war nur ein Holzhaus, das für den Sommer gebaut war, und das war sehr kalt.
In bin von Zuhause her evangelisch gewesen, aber meine Mutter hat sich gar nicht um Kirche gekümmert, und mein Vater sagte nur, nachdem er den Krieg erlebt hatte, hätte er nicht mehr geglaubt, dass es einen Gott gibt und ist aus der Kirche ausgetreten. Ich bin auch evangelisch getauft worden. Ich sollte auch eingesegnet werden. Man musste damals zum Konfirmandenunterricht der evangelischen Kirche gehen. Das fand ich so wahnsinnig langweilig. Auch musste ich zum BDM. So habe ich da gesagt, ich muss zum Konfirmandenunterricht, und im Konfirmandenunterricht habe ich gesagt, ich muss zum BDM (Bund deutscher Mädchen). Und ich bin zu keinem von beiden gegangen.
Was vielleicht typisch war, zuletzt wurde aufgepasst, dass man 3-4-mal zum Konfirmandenunterricht kam. Ich habe mir das angehört und habe gesagt: „Das ist nicht mein Ding!“ Und habe zu meiner Mutter gesagt, dass ich nicht eingesegnet werden wollte. Meine Mutter sagte: „Ich bin bloß in der Kirche geblieben, damit du eingesegnet wirst.“ Außerdem es war ja Krieg, und es gab Lebensmittelkarten. Es war allgemein üblich, dass die Einsegnung gefeiert wurde. Da man nicht so viele Lebensmittelkarten hatte, um eine Gesellschaft zu bewirten, war es üblich, dass die Leute, die eingeladen waren, vorher schon Fleischmarken schickten. Meine Mutter sagte: „Ich habe schon von allen die Fleischmarken gekriegt. Du wirst eingesegnet!“ Und dann wurde ich eingesegnet.
Unsere Klasse wurde im September 1944 aus der Schule entlassen. Normalerweise hätten wir im April 1945 Abitur gemacht. Es hieß, wir sollten uns im Arbeitseinsatz bewähren, dann würden wir den Reifevermerk kriegen, also wie ein Abiturzeugnis ohne Prüfung.
Zu diesem Arbeitsdienst wurde man einberufen. Ich habe gewartet, aber es kam nichts. Ich war noch Zuhause, und ich wartete darauf. Es ist so, ich habe mich mit meinen Eltern nie sehr gut verstanden, deshalb, immer wenn ich die Möglichkeit sah, von Zuhause weg zu kommen, dann habe ich das ganz schnell gemacht.
So war auch dieser Arbeitseinsatz, den man machen sollte, eine Möglichkeit von Zuhause weg zu kommen. Eine Freundin und ich, wir haben gewartet, aber wir kriegten keine Einberufung. Dann wollte ich irgendetwas anderes machen, aber es hieß immer: Haben Sie einen Arbeitsdienst gemacht? Dann kriegte ich die Einberufung im März 1945 in der Nähe von Prenzlau. Das ist in der Nähe von Stettin. In Stettin waren schon die Russen. Ich wollte auf jeden Fall hinfahren, weg von Zuhause. Am Bahnhof sagte man mir, dass man da gar nicht mehr hin kann, weil die Russen schon da waren. Aber ich bin trotzdem hingefahren, in die Nähe von Prenzlau, in ein Dorf.
Wir wurden eingeteilt und haben beim Bauern gearbeitet. Und nach 14 Tagen waren hier inzwischen von allen Seiten die Russen auf Berlin zugekommen. Wir waren da alle aus Berlin, und nun wollten alle nach Hause. So wurde es organisiert. Die Lebensmittel, die wir hatten, wurden aufgeteilt. Einige haben Nächte durch gesessen und aus Handtüchern Beutel genäht, sodass jeder Mehl und Zucker und so Sachen mitnehmen konnte. Und dann sind wir morgens um 4.00 Uhr mit Lastwagen nach Berlin abgefahren. Wir wurden unterwegs von Tieffliegern beschossen. Ein paar Mal mussten wir rasch aus den Wagen und in den Straßengraben. Aber es ist niemandem von uns etwas passiert. Wir waren extra so zeitig los gefahren, dass wir den größten Weg noch im Dunkeln machen konnten.
Dann sind wir in Berlin angekommen, und wir wurden gefragt, ob jemand bereit wäre noch weiter einen Einsatz zu machen. Da habe ich mich gemeldet. Ich wollte bloß nicht nach Hause. Am 18. April sollten wir uns im Olympiastadion treffen. Aber es waren wenige, die sich da meldeten. Ich bin dann nach Hause gefahren schwer bepackt mit den Lebensmittel Marken. Ich fand damals die Begrüßung toll Zuhause. Mein Vater sagte: „Was willst du denn hier?“ Meine Mutter sagte: „Wie kannst du einen so erschrecken und hier auf einmal in der Tür stehen?“ Da habe ich gesagt: „Ich fahre ja auch morgen wieder!“ Ich war damals 19 Jahre alt. Am nächsten Tag bin ich zum Olympiastadion gefahren. Das war so eine Auffangstelle für Soldaten, die in den Kämpfen, hier in Berlin, ihre Einheit verloren hatten. Die kamen ein paar Tage dahin und wurden dann wieder neu in Gruppen zusammengestellt. Wir haben dort die Verpflegung gemacht. Kommissbrot war ein sehr schweres Brot. Ein Brot wurde zum Frühstück in fünf Teile geteilt und zum Abendbrot in drei Teile.
Ich möchte noch einen Tag schildern vor dem Kriegsende. Wir waren im Olympiastadion. Als dann der Weg zur Stadt mal frei war – es waren überall Russen – hat uns jemand den Weg in Richtung Stadt gesagt. Wir sind dann mit verschiedenen Unterbrechungen im Zoo-Bunker gewesen, wo jetzt der Busbahnhof ist, am Bahnhof-Zoo. Da war damals ein großer Bunker mit vier Geschützen obendrauf. Ein Stück weiter abseits war ein kleinerer Bunker mit Horchgeräten obendrauf.
Am 2. Mai sind wir in den Zoo-Bunker gekommen. Ein- oder zweimal, als es sehr ruhig war in der Umgebung, wurden die Klappen, die Fenster, aufgemacht. Da habe ich die Gedächtniskirche brennen sehen. Am 4. Mai hieß es auf einmal, der andere Bunker ist schon den Russen übergeben, und unser würde auch den Russen übergeben, und wir müssten alle raus. Wer nicht raus geht, der müsste drinnen bleiben. Keiner wusste, was das bedeutet. Der Bunker hatte an jeder Ecke einen Turm, nicht so hoch, aber da waren Wendeltreppen. Es haben sich da fürchterlich viele Leute das Leben genommen. Da sind dauernd Leute runter gesprungen. Weil so viele Leute da waren, die Gänge in den Etagen waren so hoch, da haben sie dann einen Zwischenboden eingezogen. Da oben waren auch Leute, und nachher waren da fast nur noch Leute, die sich das Leben genommen hatten.
Wir waren 10 oder 12 Mädels. Eine Etage in dem Bunker war ein Lazarett. Wir haben in dem Lazarett geholfen. Wir hatten uns vorgenommen, wir wollten zusammen bleiben. Es strömte alles zu diesen Treppen hin, und es ging auch noch das Licht aus. Dann sind wir raus gekommen, waren nur noch zu Viert zusammen. Die eine von uns wohnte in einem südlichen Vorort von Berlin, meine Eltern wohnten im Norden in Buch. Die anderen waren aus Westdeutschland. Sie kannten sich aber schon lange und waren befreundet. Die eine hatte Verwandte in Frohnau. Das ist auch im Norden von Berlin. Ich habe dann gesagt, wir müssen jetzt in Richtung Norden laufen, aber da kam man nicht durch. Da waren entweder immer noch Kämpfe oder eine Brücke war kaputt. Es war so richtig mittendrin.
Schließlich haben wir dann festgestellt, wir kommen nicht nach Norden durch, wir müssen doch nach Süden gehen. Da sagte eine dann: „Dann gehen wir zu uns!“ Wir sind dann nach Bohnsdorf gegangen ganz im Süden von Berlin. Vier Wochen sind wir dort geblieben. Dann erfuhr man, dass da schon mal die U-Bahn ein paar Stationen fuhr oder der Bus oder so. Die eine blieb dann bei ihren Eltern. Wir waren dann also zu Dritt. Ich habe gesagt: „Jetzt müssen wir es eigentlich schaffen nach Norden durch zu kommen.“ Dann sind wir eben gelaufen, oder wo Fahrmöglichkeiten waren, gefahren, bis zur Bornholmerstraße. Da wohnte eine Tante von mir. Sie war da und das Haus war auch nicht kaputt. Dann haben wir da bloß etwas getrunken. Die anderen beiden sind dann nach Frohnau gegangen und ich nach Buch. Das war das Kriegsende.
Man hatte uns gesagt, wir müssten den Reifevermerk von der Schule abholen. Dann bin ich in die Stadt gelaufen, nur 25 Kilometer und kam zur Schule. Mir kam eine Lehrerin entgegen und sagte: „Ach wie schön, dass du auch wieder kommst!“ Alle, die ich traf, sagten: “Ach, wie schön, dass du auch wieder kommst!“ Dabei war ich ja nur gekommen, um den Reifevermerk abzuholen. Aber als ich dann wieder in der Klasse war, wir waren ungefähr 10, die sich zusammen gefunden hatten, und wieder richtig Unterricht machten, dann stand doch bei mir fest, dass ich wieder in die Schule wollte.
Es war etwas schwierig, weil das natürlich auch wieder Schulgeld kostete, auch mit dem Wohnen war es nicht einfach. Ich konnte ja nicht jeden Tag diesen Weg machen. Zuerst habe ich bei einer Klassenkameradin gewohnt, dann bei der einen Tante und dann bei der anderen. 1946 habe ich das Abitur gemacht. Wir waren die einzige Schule in Berlin, die das Abitur gemacht hat in dem Jahr.
Für mich stand schon, bevor ich in die Schule ging, fest, dass ich Medizin studieren will. Ich habe in Göttingen studiert. Am Tag, wo ich die Abiturprüfung machte, habe ich erfahren, dass ich eine sehr schlimme Tuberkulose hatte. Dann bin ich erst ein halbes Jahr Zuhause gewesen, und dann bin ich in eine Heilstätte, in ein Sanatorium im Harz gekommen.
Es ist eigentlich so gewesen, dass damals bei Kriegsende, obwohl die Zeit in der Schule zwar sehr schön war, alle eigentlich potenziell selbstmordgefährdet waren. Man wusste bloß nicht, wie man es machen sollte. Als ich dann diesen Befund kriegte, habe ich gedacht: „Wie schön, dann brauche ich es nicht zu machen.“ Während des halben Jahres, das ich Zuhause war, habe ich dann doch wieder ausgeruht. Und es kam wieder, ich wollte weg von Zuhause. Dann kamen die sechs Monate in der Heilstätte im Harz, dicht an der Zonengrenze, aber eben noch im Osten. Es war aber ganz dicht an der Grenze. Wir sollten viel spazieren gehen. Wir wussten dann sehr schnell, wo die Grenze ist, und wo die bewacht ist und haben es beinahe als Sport gemacht, dass wir Leute rüber gelotst haben, die vom Osten in den Westen wollten. Wir wussten, wo die Posten standen. Zwei von uns haben sich mit denen unterhalten, und die anderen haben inzwischen die Leute rüber gelassen.
Dann bin ich von da aus, auch in der Zeit noch, nach Göttingen gefahren, und habe mich um einen Studienplatz beworben. Als ich dann wieder Zuhause war, bekam ich den Bescheid, dass ich zugelassen bin. Meine Mutter sagte: „Das willst du doch nicht etwa annehmen?“ Dann bin ich aber mit vielen Hindernissen, mit Rucksack, über die Grenze nach Göttingen. Das war im Mai 1947. Es gab Schwierigkeiten über die Grenze zu kommen. Mir hatte auf der Ostseite Jemand gesagt, ich solle mich nach links halten, wenn ich über die Grenze komme. Das ist ein Dreizoneneck gewesen. Ich kam von der russischen Zone, nach Süden war amerikanische Zone, nach Norden war die englische Zone. Die sagten, die bei der englischen Zone würden einen garantiert zurück schicken, und die Amerikaner vielleicht nicht.
Die Grenze war eine stillgelegte Bahnstrecke. Ich sah am Weg an der Bahnstrecke entlang, ich war ja noch im Osten, ein paar Russen kommen. Da war so ein Stellwerkhäuschen von der Bahn, und da bin ich rein gegangen und habe mich hinter die Tür gestellt. Das war leer, die Bahnstrecke ging nicht mehr. Und ausgerechnet kommen die da rein, setzen sich da hin und unterhalten sich. Und ich stehe hinter der Tür. Dann sagte einer: „Du, mach doch mal die Tür zu!“ Und dann stand ich da. Ich wusste ja, was auf mich zukam, aber die waren so perplex. Sie fragten dann, was ich denn da will. Ich zeigte ihnen meine Zulassung für Göttingen. Dann haben sie gesagt, ich sollte man weiter gehen. Dann bin ich rüber und per Anhalter nach Göttingen gefahren.
Nach drei Semestern musste ich mein Studium unterbrechen. Ich hatte kein Geld mehr. Die erste Zeit gab es noch Lebensmittelmarken bis Juni 1948. Da war es kein Problem. Da habe ich immer meine Fleischmarken verkauft. Dann war die Währungsreform, und es gab keine Lebensmittelmarken mehr. Dann hat man irgendetwas gearbeitet. In Göttingen gab es gar keine Industrie. Ich bin putzen gegangen, habe Strümpfe gestopft für andere Leute, habe Nachhilfeunterricht gegeben.
Dann fand ich schließlich eine Beschäftigung Netze zu knüpfen für Tischtennis oder Einkaufsnetze. Das habe ich dann hauptsächlich gemacht. Da kriegte man für 100 Knoten 5½ Pfennige. Nebenbei habe ich auch noch Nachhilfestunden gegeben. Ich studierte ja Medizin, und wir hatten 45 Wochenstunden Vorlesung. Zuhause habe ich Netze geknüpft und in der Vorlesung Griffe daran gehäkelt. Es ging, anderen ging es genauso.
Ich habe dann drei Semester studiert und bin noch zwei Semester so da geblieben und habe immer gedacht, ich würde doch noch das Geld zusammen kriegen, um weiter studieren zu können. Aber es klappte nicht. Da sagte mir Jemand, wenn es in Göttingen keine Industrie gibt, warum ich dann nicht ins Industriegebiet in Rheinland Westfalen gehe. Das war ein Sohn von einer Freundin meiner Mutter. Wir haben uns verabredet, und ich bin per Anhalter nach Velbert gefahren und habe dort auch Arbeit gefunden. Sechs Monate bin ich da gewesen und habe in der Fabrik gearbeitet. Danach hatte ich irgendwie einen Horror vor dem Studium – nie genug Geld zu haben und nie genug lernen zu können, weil einfach nicht viel Zeit ist.
So habe ich mich entschlossen Krankenschwester zu werden und habe die Schwestern-Ausbildung gemacht und noch ein Jahr als Krankenschwester gearbeitet, ein halbes Jahr davon in der Nähe von Göttingen. Dann habe ich weiter studiert. Als Krankenschwester verdiente ich ja. Dieses Krankenhaus, in dem ich das letzte halbe Jahr gearbeitet hatte, das war eine Klinik für Psychotherapie. Das war sowieso ein Gebiet, das mich interessiert hatte.
Ich bin da auch so gut zu recht gekommen, und habe, als ich wieder studierte, in den Semesterferien da gearbeitet. Die waren sehr nett zu mir. Es waren sieben Kilometer bis zum Krankenhaus, und ich habe da die Oberschwester vertreten, und konnte in der Zeit dort umsonst wohnen und essen. Da bin ich ganz gut zu recht gekommen. Die Sekretärin aus dem Krankenhaus, mit der ich mich ein bisschen angefreundet hatte, sagte mir, sie hätte immer noch ein Zimmer in Göttingen, was sie aber nur Jemandem geben wollte, wo sie weiß, dass er es schätzen würde. Es war in einem 4-Familienhaus. Göttingen liegt in einem Tal und das Haus stand an einem Abhang des Sollingen. Man hatte von dort einen ganz weiten Blick über die Stadt. Ich zahlte 15 DM im Monat, aber das Zimmer hatte keine eigene Toilette, und es war schräg. Es kam einmal irgendjemand, der den Wohnraum registrieren musste, da wurde das, was unter der Dachschräge war nicht mitgerechnet. So war das Zimmer 4 m² groß.
1958 machte ich das Staatsexamen. Dann habe ich zuerst meine Doktorarbeit geschrieben. Meine erste Stelle hatte ich in Northeim auf der Inneren Abteilung. Northeim ist 20 Kilometer nördlich von Göttingen. Man musste nach dem Staatsexamen zwei Jahre arbeiten, man nannte das Medizinalassistent. sechs Monate arbeitete man auf der Inneren, vier Monate Chirurgie, vier Monate Gynäkologie und die übrigen 10 Monate konnte man sich aussuchen, was man wollte. Man konnte auch ins Ausland gehen. Ich bin nach Amerika gegangen.
Ich war schon Mitglied zu der Zeit. Am Anfang des Studiums wohnte ich in einem Studentenheim, und wir waren 25 Studenten und haben sehr viel diskutiert und kamen also auch auf Religion und Kirche zu sprechen. Ich hatte mich mit einer älteren Kollegin angefreundet. Sie sagte, sie wäre schon mal beinahe katholisch geworden. Und ich sagte, ich bin nie in der katholischen Kirche gewesen, weil ich Angst hatte, aus der Rolle zu fallen, weil ich nicht weiß, wann man sich hinkniet, wann man wieder aufsteht, wann man sich bekreuzigt. Das müsste man eigentlich mal erlebt haben, meinte sie. Dann sind wir in die katholische Kirche gegangen und auch noch mal in die evangelische Kirche, von der wir auch nicht viel wussten.
Dann kamen wir auf die Idee, dass wir mal alle Kirche angucken wollten, die es in Göttingen gab. Dann sind wir zu den Baptisten, zu den Adventisten, der Heilsarmee, den Zeugen Jehovas, und was wir finden konnten, gegangen. Nur die Quäker haben uns nicht rein gelassen, wir mussten eine Empfehlung von einem Mitglied haben. Dann sah ich einen Tag an der Litfasssäule ein Plakat „Konferenzgottesdienst der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“. Da dachte ich – die haben wir noch nicht gehabt, die müssen wir uns angucken. So sind wir hingegangen. Das war in einer Schule. Die Versammlung ist so total anders gewesen als in den ganzen anderen Kirchen. Dann sprach uns am Ende Jemand an und das war furchtbar. Wir waren so gehemmt, wir hatten so Angst. Ich habe dann hinterher zu meiner Freundin gesagt: „Das hat mir ja so ganz gut gefallen, aber wenn man da angesprochen wird, gehe ich da nicht mehr hin.“
Wir wohnten in dem Studentenheim zu Dritt und unsere dritte Mitbewohnerin war an dem Sonntag gerade irgendwo unterwegs. Als wir ihr das erzählten, sagte sie: „Und so eine tolle Gelegenheit zu einer Diskussion lasst Ihr Euch entgehen?“ Dann hat sie uns die ganze Woche getriezt, wir sollten doch noch einmal mitkommen. Wir haben gesagt, gut, wir kommen mit, aber wenn uns wieder Jemand anspricht, dann muss sie vorgehen. Wir haben das nachher beinahe bereut. Es kam Jemand auf uns zu, sprach uns an, und sie sagte: „Wie ist das denn bei Ihnen mit der Vielweiberei?“ Wir sind dann doch ins Gespräch gekommen, und er hat uns ein Buch Mormon geliehen. Das musste man ja auch zurückgeben. So sind wir ganz schnell in die Gemeinde rein gekommen, und wir fühlten uns dort sehr wohl.
Wir haben immer ganz guten Kontakt zu den Missionaren gehabt. Wir haben die Sonntagschule und alles mit gemacht, aber zwischendurch ist dann immer mal Jemand da gewesen, der uns direkt gedrängt hat. Dann haben wir uns wieder zurückgezogen. Dann kam die Zeit, wo ich nicht weiter studieren konnte. Ich bin dann nach Velbert gegangen und habe in der Fabrik gearbeitet. In Velbert selber ist keine Gemeinde gewesen, aber in Essen, in Wuppertal und in Düsseldorf. Dann kam mir inzwischen der Gedanke: Was mir so gut gefällt, ist es jetzt eigentlich die Kirche oder ist es die Göttinger Gemeinde? Deshalb war es mir ganz wichtig die anderen Gemeinden kennen zu lernen.
Ich hatte das Gefühl überall, wo ich hinkam, nicht nur in der Kirche, sondern auch wo ich arbeitete, überall kam ich mit den Leuten gut aus. Und ich dachte, ich muss es doch irgendwie schaffen, mit meinen Eltern auch auszukommen. Und ich entschloss mich nach Berlin zu fahren. Ich hatte vorher einmal, als ich eine Woche Ferien in Berlin machte, von der Kirche erzählt. Meinem Vater war es egal. Meine Mutter sagte: „Ach, die Mormonen, dass sind doch die, wo in der Versammlung das Licht ausgeht und dann seid fruchtbar und mehret euch.“
Ich hatte mich inzwischen entschlossen, mich taufen zu lassen, aber weil ich nun nach Hause gehen wollte, dachte ich, es wäre jetzt so richtig provozierend, wenn ich nach Berlin komme, und mich da taufen lasse. So bin ich nach Wuppertal gegangen, obwohl ich nur zweimal in der Gemeinde gewesen bin, und habe gesagt – ich möchte mich taufen lassen.
Als ich 1960 nach Amerika ging, war ich schon Mitglied. Ich hatte Bekannte, die aus Hamburg waren, und jetzt in Salt Lake lebten. Sie haben sogar eine Bürgschaft für mich geleistet, obgleich ich von vornherein gesagt hatte, dass ich nicht bleiben wollte. Sie waren so ein Anhaltspunkt, dass ich Jemand hatte, den ich kannte. Die ersten paar Tage habe ich bei ihnen gewohnt.
Zuerst habe ich 6 Monate im LDS-Hospital in Salt Lake City gearbeitet. Es war eine ziemlich harte Zeit: Jeder Intern hatte die Patienten mehrerer Belegärzte zu betreuen. Diese Patienten musste man schon gesehen haben, wenn um 7 Uhr das Op-Programm anfing. Das vorgesehene Programm ging meist Gitteerbis 3 Uhr, danach wurden die Patienten Operiert, die während des Vormittags aufgenommen worden waren. Die Belegärzte wurden während die Operationen häufig von ihren Praxen angerufen und verlegten deshalb schwierigem und komplizierte Operationen auf nach 8 Uhr, wo sie nicht gestört wurden. Und so ging es 6 Tage die Woche.
Nach 6 Monaten war ich ziemlich erschöpft und hatte außerdem noch nicht genug verdient, um das für den Weg nach Amerika geliehene Geld zurückzuzahlen, und auch nichts für den Rückweg. Ich fand dann glücklicherweise eine Stelle als Assistenzarzt im Mental Hospital in Provo, wo ich sieben Monate arbeitete.
Ab November 1961 war ich wieder in Deutschland, habe erst vier Monate in Hannover in der Chirurgie, dann vier Monate in Northeim in der Gynäkologie gearbeitet und hatte damit meine Anerkennung als Arzt. Es folgten ein Jahr Tätigkeit in Neurologie an der Uni-Klinik in Göttingen, ein Jahr in einer Psychotherapie-Klinik in Berlin und zwei Jahre in einer Psychiatrischen Klinik in Berlin. Anerkennung als Facharzt für Psychiatrie. Nebenbei machte ich von 1964 bis 1971 die Ausbildung für Psychotherapie und Psychoanalyse und hatte ab 1971 eine eigne Praxis für Psychoanalyse.
Während des Studiums war ich in der Primarvereinigung und vor allem in der GFV tätig. Später, als ich in den verschiedenen Krankenhäusern arbeitete, habe ich wegen der Dienste und auch wegen der häufigen Wohnort-Wechsel eine Zeitlang weniger Kontakt zur Kirche gehabt. Erst als ich wieder ständig in Berlin war und meinen festen Wohnsitz hier hatte, war ich regelmäßig in der Gemeinde Lankwitz.