Braunsberg, Ostpreußen
Ich, Agatha Staubach, bin die Tochter von Joseph Marquardt und Theresia Marquardt. Meine Mutter ist auch eine geborene Marquardt. Am 9. Juli 1925 wurde ich in Braunsberg in Ostpreußen geboren. Ich habe noch drei Geschwister: Karl, der Älteste, 1910 geboren, wurde nur 14 Jahre alt. Er ertrank. Margarethe, 1912 geboren, starb im März 2003 mit 90 Jahren. Und Liesbeth, 1922 geboren, starb 1943 mit 21 Jahren. Sie hatte Tuberkulose.
Ich war sozusagen das Nesthäkchen. Ich kann nur sagen, dass ich eine schöne Kindheit hatte. Vater und Mutter haben beide gearbeitet, aber sie haben uns nicht vernachlässigt. Mutter war eine ruhige Frau, Vater das Gegenteil. Das hatte auch sein Gutes. Beide waren streng – und das war auch gut so. Mich nannte Vater eine wilde Hummel, denn ich war die Lebhafteste in der Familie und bin es auch heute noch.
1932 fing ich mit der Schule an. Der Weg dorthin führte durch die ganze Stadt. Ich bin zwar gerne zur Schule gegangen, nur das Rechnen fiel mir schwer. Benehmen: sehr gut, Sport: sehr gut. Da ich immer so dünn war, hat man mich 1935 zur Erholung nach Wustrow an der Elbe geschickt. Die beiden großen Töchter der Bauernfamilie haben sich oft mit mir beschäftigt. Nach vier Wochen war die Zeit um und ich bin nach Hause gefahren. Für meine Eltern hatte ich einen Brief mitbekommen, in dem unter anderem stand, „Ihre Tochter hätte mehr zugenommen, wenn sie nicht auf jedem Baum gesessen hätte“.
Zu Hause bauten meine Eltern ein Haus, das schon fertig war, als ich wieder Heim kam. Es war nicht groß, ein halbes Doppelhaus, aber wir waren glücklich. Die Eltern haben viel gearbeitet. Die Winterabende waren immer toll. Vater hat mit uns Spiele gemacht, auch hat er mir das Tanzen beigebracht. Meine Eltern sind auch mit uns gemeinsam ins Kino gegangen. Das war immer sehr schön. Schlittschuhlaufen haben wir auch gelernt. Und zwar auf der Straße nach Frauenburg. Der Schnee war so fest gefahren, dass die Straße richtig glatt war. Ich kann nur sagen, dass meine Kindheit schön war.
In Braunsberg, unsere kleine Stadt, gab es eine Infanterie-Kaserne, eine Artilleriekaserne, eine große Bierbrauerei, eine Zigarrenfabrik, vier Kirchen, ein großes Gymnasium, eine große Volksschule und ein großes Priesterseminar. Außerdem die Elisabethschule, das war die höhere Töchterschule. Die Stadt hatte 25.000 Einwohner.
Nach der Schulzeit war ich ein Jahr im Pflichtjahr bei einer Schneiderin. Geld gab es sehr wenig, reichte nicht einmal zum Kino. Was die Schule betrifft, so mussten wir jeden Morgen vor dem Schulgebäude antreten und mit erhobenem Arm das Deutschlandlied singen. Außerdem mussten die Mädchen zum BDM (Bund Deutscher Mädchen) und die Jungen zur Hitlerjugend. Ich wollte nicht mitmachen, aber da mein Vater auf der Kaserne arbeitete, musste ich, sonst wäre er entlassen worden. Einen 1. Mai kann ich nicht vergessen. Denn es hatte geschneit und es war sehr kalt. Wir mussten morgens früh in der BDM-Kluft antreten: schwarzer Rock, weiße Bluse, Kletterweste, Lederknoten und weiße Söckchen. Dass wir gefroren haben, brauche ich nicht zu sagen.
Ich hasste den Krieg. Als Mobilmachung kam, wurden mein Vater und mein Schwager gleich eingezogen. Vater nach Polen, Schwager Bernhard Rauter nach Russland. Der Schwager ist später als vermisst erklärt worden. Um unseren Vater hatten wir auch sehr Angst.
Eines Abends, als ich von der Arbeit kam, traf ich eine Freundin. Sie fragte: „Kommst du mit zum Bahnhof?“ Mutter erwartete, dass ich nach der Arbeit gleich nach Hause kommen sollte. Aber ich ging doch mit, weil meine Freundin sagte, es komme ein Transport mit Soldaten. Sie hoffte auf ihren Bruder, der in Urlaub kommen sollte. So kam mir der Gedanke, dass mein Vater vielleicht auch dabei sein könnte. Er war zurzeit in Frankreich. Als die Tore der Bahnhofshalle geöffnet wurden, kamen Soldaten in Scharen. Einer wurde von mehreren Soldaten getragen. Es war mein Vater, der nicht gehen konnte. Er war so froh, dass ich da war. So konnte ich ihm in den Bus helfen und auf dem Weg bis nach Hause stützen. Mutter, die schon in Sorge war, wo ich so lange bleibe, war erschrocken, wer mit mir kam. Alle hatten nicht damit gerechnet, dass es Vater war, der sich auf mich stützte. Er war sehr krank und kam dann in die orthopädische Klinik nach Frauenburg.
Wir hatten ein eigenes Haus, durften es aber nur 10 Jahre bewohnen, denn am 5. Februar 1945 mussten wir flüchten. Zuvor hatten wir schon oft Fliegeralarm und der Russe kam immer näher. Die letzten Nächte haben wir – wie man so sagt – mit Stiefel und Sporen geschlafen. Am 5. Februar wurde Braunsberg beschossen. Eine Bombe flog in unseren Vorgarten. Ein Johannisbeerstrauch wurde von dem Druck über das Dach auf den Hof geschleudert. Danach sind wir gleich weg. Wir hatten fast alles auf dem Leib. Vater hatte das Fahrrad mit Brot und ein paar anderen Lebensmitteln mitgenommen. Es war ein langer Weg. Erst den Deich lang bis zum Frischen Haff (8 km). Von dort über das gefrorene Haff. Wir sollten 50 Meter Abstand halten, weil das Eis dünn war und man einbrechen konnte. Auf dem Eis stand auch schon etwas Wasser. Es war schaurig, über ein so großes gefrorenes Eis zu gehen. Sternförmig kamen viele Menschen, die alle rüber wollten. Viele haben den Tod gefunden. Auch steckte ein Militärbus halb im Eis. Kinder schrieen nach ihren Eltern, die sie in der Dunkelheit verloren hatten. Wir haben dann Rast gemacht, als wir rüber waren. Es war sehr kalt. Da ich wieder mit dem Rheuma hatte, nahmen mich meine Eltern zum Schlafen in die Mitte. Wir hatten ja nur wenig zum Zudecken und lagen auf Schnee. Zuvor hatte uns mein Vater in einem Zinkeimer, den er mitgenommen hatte, mit dem Haffwasser eine Maggi-Suppe gekocht. Sie schmeckte scheußlich. Als Nachtisch gab es für jeden eine Büchse Ölsardinen.
Meine Schwester hatte auf der Flucht vier Kinder im Alter von 7 bis 16 Jahren dabei. Im Ganzen waren wir mit neun Personen auf der Flucht. Am nächsten Morgen ging es zum Ostseebad Kalberg. Dort konnten wir in einem leeren Haus übernachten. Großes Waschen war nicht drin, denn am nächsten Morgen ging es wieder weiter. Die Russen kamen schon von Elbing über das Eis. Schließlich erreichten wir Danzig-Praust. Wieder mussten wir Quartier suchen. Ich hatte eine Scheune ausfindig gemacht und war erstaunt, dort deutsche Soldaten anzutreffen. Sie kochten in einer Gulasch-Kanone ein sehr duftendes Essen. Wir hatten Glück und konnten uns satt essen. Es war die erste warme Mahlzeit auf der Flucht.
Von Praust zogen wir in Richtung Stolp, wo man uns in ein Hotel einquartierte. Zwei Tage und zwei Nächte waren wir dort. Dann hat man uns in eine Wohnung am Stadtrand untergebracht. Von Braunsberg bis Stolp waren wir drei Wochen zu Fuß unterwegs gewesen, etwa 300 Kilometer. Den Feind stets im Nacken. Dann wurde Stolp beschossen und wir mussten weiter. Die Deutschen hatten alle Brücken gesprengt und wir mussten auf den Balken, die stehen geblieben waren, die Stolpe überqueren. Die Stolpe war recht breit und meine Mutter hatte viel Angst auf den Balken. Aber wir haben es geschafft. Anschließend kamen wir nach Lankwitz, wo wir im Schlosskeller auf Stroh übernachteten.
Am nächsten Morgen war auch schon der Russe da. „Uri, Uri“, war das Erste, was sie sagten. Das bedeutete, dass sie alle Uhren haben wollten und uns durchsuchten. Ich hatte eine schöne Uhr, die in einer Tasche in meiner Kleidung steckte. Da hat niemand rein gefasst, auch einen Ring hatte ich in jener Tasche. Den habe ich später für Esswaren eingetauscht. Es war keine schöne Zeit. Man möchte nicht über sie sprechen, aber das war so.
Wenn ein Russe kam und sagte: „Frau komm!“, bedeutete es Vergewaltigung. Nach meiner Vergewaltigung bekam ich so einen Hass auf jene Menschen und wünschte, ich wäre tot. Bei einer anderen Gelegenheit, als ein Russe gesagt hatte: „Frau komm!“, wollte mein Vater uns nicht gehen lassen. Der Russe nahm sein Gewehr und wollte auf ihn schießen. Da sagte mein Vater: „Erst alle” und zeigte auf uns und dann auf sich. Wir waren immerhin neun Personen. Das war gewagt. Da ließ der Russe doch ab und ging. Nicht immer ging es so gut aus. Mein Vater hat immer gesagt: „Wenn ich euch mit Kuhdreck bestreichen könnte, dann würde ich das tun.“
Am nächsten Tag gingen wir von Lankwitz nach Starnitz, ein langer Fußmarsch. Dort wurden wir in der Schule einquartiert. 35 Personen mussten in einem Raum auf dem Fußboden schlafen. Was die Hygiene betraf, so war es fürchterlich. Draußen gab es eine Pumpe und rundherum war alles schmutzig. Mein Vater hatte uns eine eigene Toilette aus einem Zinkeimer mit einem Deckel gemacht. Nur für uns. Es gab Läuse im Übermaß. Ich bin dann an Typhus erkrankt und habe zehn Wochen lang gelegen, nur Wassersuppe mit Roggenmehl zu Essen. Es gab Tage, wo ich 41 Grad Fieber hatte. Habe aber trotz allem für uns, die zu Hause waren, gekocht. Aus dem sieben Kilometer entfernten Rathsdamnitz kam ab und zu eine Arztfrau nach uns sehen. Als mein Fieber runter war, war ich sehr schwach. Ich konnte nicht kochen.
Am 24. Juni 1945 starb Anton, der Schwager meiner Schwester. Und am 24. Juli 1945 mein Vater. Weil Mutter mit einer Gesichtsrose im Bett lag, haben nur meine Schwester mit ihren beiden Töchtern und ich meinen Vater beerdigt. Die Männer ließen den Sarg auf dem Starnitzer Waldfriedhof runter und wir standen alleine da. Wir haben gebetet und gesungen. Dann sind wir nach Hause gegangen.
In Starnitz mussten wir alle auf dem Gutshof arbeiten. Ich hatte keine Ahnung von Feldarbeit. Es fiel mir sehr schwer, mit den anderen mitzukommen. Und der russische Posten stand immer hinter uns, „Dawei, Dawei!“ Das heißt übersetzt: „Schnell, Schnell!“ Mittags gab es einen Teller Suppe. Dann ging es wieder aufs Feld, Kartoffeln pflanzen, Rüben pflanzen, später hacken, Korn binden und aufstellen. Ich will nicht alles aufzählen. Jedenfalls mussten wir morgens um sechs Uhr antreten. Nach deutscher Zeit war das um vier Uhr. Denn die Russen hatten die Uhr zwei Stunden vorgestellt. Wir waren 90 Arbeiter aus mehreren Dörfern. Zu Hause gab es nicht viel zu Essen. Kartoffeln haben wir gestohlen. Die haben uns über Wasser gehalten. Mutter hat oft morgens Bratkartoffel in Kaffee gebraten und mit gestohlener Melasse verfeinert. Was haben wir alles tun müssen, um überleben zu können? So ging das tagein tagaus.
Im Winter war es nicht ganz so schwer. Korn dreschen, Ställe ausmisten. Können Sie sich das vorstellen? Ein Mädchen aus der Stadt – all diese Arbeit, die ich nicht gekannt habe. Und dann auf dem Feld den Dung streuen.
Die pommerschen Winter waren eisig. Um warm zu werden, haben wir uns ein Spiel ausgedacht, das wir hinter einer Scheue spielten. Eines von uns Mädchen stand Posten, die anderen spielten abwechselnd „Fisch, Fisch übern Tisch“. An den Händen haltend bildeten Paare nebeneinander eine Schlange. Auf die Hände und Arme der Paare legte sich ein Mädchen, welches von einem Ende zum anderen hinüber geschüttelt wurde.
In Starnitz wurden wir dann ansässig. Nach einiger Zeit suchten die Russen nach Mädchen und jungen Männern. Ich war gerade mit einem Mädchen zu spät zur Arbeit gekommen und nicht eingeteilt. Da wir Angst hatten, sind wir zur Scheune gegangen, um dort zu helfen. Plötzlich hörten wir Schüsse. Russische Soldaten kamen vom Nachbardorf Bornzin und suchten hier auch nach jungen Leuten. Wir waren beim Dreschen. Die Maschine wurde angehalten und alles, was jung war, musste mit. Der Maschinist sprach für eine Frau, die zwei kleine Kinder hatte. Sie durfte da bleiben. Alle anderen mussten mit über das Feld nach Bornzin. Dort standen noch andere, die auf uns warteten. Wir sollten nach Graudenz verschleppt werden. Vor Angst bin ich fast gestorben und musste unbedingt zur Toilette. Hinter einem Haus gab es ein Plumpsklo. Einer der Männer erklärte einem Russen, dass ich dorthin müsste. Der Gedanke kam mir, hinterher auszureißen. Aber es kam anders. Der Russe blieb stehen, solange, bis ich fertig war. Ein junges Mädchen aus Bornzin weinte immer. Auf die Frage, was geschehen war, erzählte sie davon, dass sie mit einem Russen schlafen sollte. Die Eltern hätten sich geweigert. Als der Russe die Eltern erschießen wollte, sei sie mitgegangen. Anschließend erschoss er ihre Eltern trotzdem.
Von Bornzin marschierten wir nach Gumbin bei Stolp, wo weitere Mädchen hinzukamen. Anschließend ging es weiter in die Hindenburgstraße nach Stolp. Wir wurden in ein großes Haus gebracht. Dort sah es unbeschreiblich aus, Schmutz über Schmutz, keine Toilette klappte. Wir mussten durch den Dreck gehen. Draußen auf der Wiese hatte man ein viereckiges Loch gegraben, wo man seine Notdurft erledigen konnte.
Wir wurden im obersten Stockwerk einquartiert. Nach einer Weile erhielten wir Pellkartoffeln zu Essen, einfach nur so ohne was dazu. Unsere Taschen mussten wir leeren und alles, was scharf war, zum Beispiel ein Messer, wurde uns weggenommen. Ich hatte immer ein kleines Messerchen bei mir, welches ich nie wieder sah. Am nächsten Tag mussten wir sehr spät am Abend einzeln zum Verhör. Es war 0:30 Uhr nachts, als man mich in den Keller holte, wo ich in einer Küche warten musste. Dort überlegte ich, wie ich ausreißen könnte. Das Fenster war so niedrig, dass ich über einen Tisch hätte, hinausklettern können. Gerade wollte ich den Versuch machen, als ein Soldat mit einem Gewehr draußen am Fenster vorbei ging. So wurde nichts aus der Flucht. Gleich darauf wurde ich nach oben in ein Zimmer gebracht. Am Schreibtisch saß ein Offizier und an einer Seitenwand stand ein Bett. Gleich ging bei mir meine Vergewaltigung durch den Kopf und ich hatte Angst. Dann stellte er Fragen zu Hitler. Er wusste auch vom Bund Deutscher Mädchen. Ich konnte nur antworten, dass es Pflicht war, und fragte ihn, wann ich nach Hause könne. Meine Eltern wüssten nicht, wo ich sei. Der Offizier hatte Mitleid mit mir. Es war auch schon spät. Er sprach gut Deutsch und ließ mich in ein Haus auf der anderen Straßenseite bringen. Dort warteten schon zwei ältere Männer, wie es ausgehen würde. Nach mir wurden noch zwei junge Männer herein geschuppst, die Verletzt waren. Es gab kein Licht im Haus. Die Federbetten waren aufgeschlitzt und Federn lagen umher. Nach kurzer Zeit waren wir völlig mit Federn behaftet. Aber ich war froh, nicht alleine zu sein. Draußen standen Posten. Ausreißen war wieder nicht möglich. Gegen Morgen kam ein Soldat, der uns freiließ. Die älteren Männer wollten, dass ich mit ihnen ginge. Aber ich wollte nach Hause und nicht in ihre Richtung. Während wir drei Tage eingesperrt waren, hatten wir Mädchen zuvor den Gedanken, wenn wir freikämen, würden wir den nächsten Besen nehmen und die Straße fegen. So würde man uns nichts tun. Doch nun war ich auf mich alleine angewiesen. Kein Besen oder sonst etwas. Ich wusste auch nicht, ob ich nach links oder rechts gehen sollte. Ich entschloss mich, nach links zu gehen. Bald darauf kam ich in die Nähe der Kaserne. Nun wusste ich, wo ich war und wie ich nach Hause finde. Einige Soldaten wuschen sich in einem Graben. Der Gedanke, wenn ich an der Kaserne vorbei bin, kann mir nichts passieren, beflügelte mich. Denn viele Frauen, die nach Stolp einkaufen gingen, hielten die Soldaten fest, um in der Kaserne sauber zu machen. Danach konnten sie gehen. Ich hatte Glück und wurde nicht erwischt. Vor mir lagen 18 Kilometer bis nach Hause.
Im nächsten Ort sahen mich deutsche Leute, die in einem Gewächshaus arbeiteten. Sie nahmen mich zu sich und gaben mir Brot und Milch. Ich hatte ja nur einmal Pellkartoffeln gegessen, sonst nichts. Das tat gut. Sie sagten mir, dass es gefährlich sei, auf der Straße zu gehen, weil immer noch Leute verschleppt würden. Ich wollte aber nach Hause und nahm die Gefahr in Kauf. Schleichwege kannte ich nicht. Unterwegs kam mir eine Kolonne Soldaten entgegen. Sie blieben stehen und fragten mich auf Russisch, wie spät es sei. Ich zuckte mit den Schultern und sie gingen weiter. Ich hatte wohl verstanden, was sie wollten und meine kleine Uhr steckte wie immer in meiner kleinen Weste.
Das nächste Dorf am Weg war Kriewan. Es lag ungefähr auf der halben Strecke, die ich zu gehen hatte. Ein junger Mann arbeitete auf dem Feld. Es war Mittag und er rief mir zu, zu ihm zu kommen. Er nahm mich mit zu seinen Eltern und dort bekam ich ein warmes Essen. So war ich wieder gestärkt. Danach hat man mir im Sand den Weg nach Starnitz aufgezeichnet. „Mädchen, pass gut auf, auch im Wald lauert die Gefahr“, ermahnte man mich. Ich bedankte mich und ging weiter.
Alles ging gut, aber als ich mich dem Dorf näherte, kam mir eine Frau entgegen und sagte: „Geh hinten rum, sie suchen schon wieder nach Mädchen“. Ich tat es. Als meine Eltern mich sahen, freuten sie sich. Ich war wieder da. Mutter hatte die ganze Zeit geweint. Ich hatte Glück und war nicht verschleppt worden. Wer weiß, was mir im polnischen Graudenz passiert wäre.
Eine ganze Zeit lang ging es gut, dann wurden ein Mädchen und ich nach Danzig-Holm zum Säcke flicken gefahren. In einem großen Speicher lag viel Korn, das eines Tages abgeholt werden sollte. Die kleinen jungen Mäuse zwischen den Säcken haben uns nichts getan. Man gewöhnte sich an sie, nur an die zwei russischen Wachposten nicht. Durch einen Kanal waren wir vom Festland abgeschnitten. Wir befanden uns auf einer kleinen Insel. Dort lebte auch eine alte Frau mit einer jungen Flüchtlingsfrau und deren etwa sechs Jahre alten Sohn. Als wieder einmal Soldaten über den Kanal zu uns kamen, sagte die alte Frau zur jungen: „Verstecke dich, mir werden sie nichts tun“. Es kam anders. Sie vergewaltigten die alte Frau im Beisein des kleinen Jungen. Zum Glück waren wir beim Säcke flicken in einem Raum, wo sie uns nicht gesucht haben.
Ich bekam Rheuma und war dankbar, weil ich deshalb nach Hause durfte. Ohne Probleme fuhr mich ein russischer Soldat nach Hause.
In Starnitz lernte ich meinen Mann kennen. Wir wollten schnell heiraten, aber den Deutschen war es damals nicht möglich. Erst 1951 durften Deutsche heiraten. In Stolp wollten wir uns deshalb anmelden. Der Beamte fragte auf Polnisch, was wir wollten. Wir antworteten auf Deutsch, dass wir heiraten wollten. Darauf antwortete er: „Russischer Speck und polnisches Brot schmecken gut, aber die Sprache könnt ihr nicht.“ Jener Beamte beherrschte sieben Sprachen. Doch wir wollten nicht die Sprache lernen, sondern nach Deutschland aussiedeln.
Zuvor mussten meine Mutter, meine Schwester, ihre Tochter Ursula und ich uns Urkunden machen lassen. Sie waren verloren gegangen. In einem kleinen Raum wurden wir zu einem Richter geladen. Der Richter sprach gut deutsch, was die Situation erleichterte. Wir bezeugten gegenseitig unsere Daten. Ich gab auch das Geburtsdatum meiner Mutter an. Als der Richter die Angaben aufgeschrieben und vorgelesen hatte, fragte er mich, ob es stimme. Ich antwortete: „Herr Richter, ich war noch nicht auf der Welt, aber es stimmt.“
Später wurde ich mit den neuen Urkunden vor einen Richter geladen, um die Genehmigung zum Heiraten zu bekommen. Bevor ich dran kam, wurde eine polnische Frau von ihm beschimpft, weil sie ihre Handtasche auf den Tisch vor dem Richter gestellt hatte. Deshalb bekam ich furchtbare Angst. Doch der Richter überreichte mir freundlich ein Blatt und sagte: „In 14 Tagen können sie heiraten.“ Sie glauben gar nicht, wie froh ich war.
Mein Mann und ich gingen arbeiten und Mutter hat sich um die Kinder gekümmert. Das war eine schwere Zeit, aber wir haben immer zusammengehalten. Wenn ich zurückdenke, als Reinhard geboren wurde, hat Heinz, mein Mann, Enteneier aus den Nestern wilder Enten geholt, damit ich etwas zu Essen hatte. Auch stellte er im Winter Hasenfallen auf. Wenn er Glück hatte, gab es einen schönen Hasenbraten. Wir waren ja so genügsam und haben an mehreren Tagen davon gegessen. Die Soße war am besten. Mutter hatte ihn im Ofen geschmort, einfach herrlich.
Bis 1950 wohnten wir in Starnitz. Dann mussten wir umziehen, weil mein Mann im sieben Kilometer entfernten Rathsdamnitz als Müller eine Arbeitsstelle bekam. Dort lebten überwiegend Polen. Deutsche konnte man an einer Hand abzählen. Aber der Ort war größer und es gab einige Geschäfte. Ein Laden erhielt gelegentlich Sonderlieferungen. Jene Waren wurden hauptsächlich an die Polen verkauft. Als ich dort eines Tages mit meiner Nichte Knöpfe einkaufen wollte, waren soeben Gummistiefel eingetroffen. Wir wollten gerade gehen, da sagte der Mann, der das Komitee leitete und bestimmte, wer etwas bekam: „Die Frau Staubach bekommt auch ein Paar.“ Ich war so erschrocken und konnte nichts sagen. Ich nahm dankbar an, ohne sie anzuprobieren. Zu Hause stellte ich dann leider fest, dass sie zu kurz und zu eng waren.
Meine Nichte sagte mir, dass da noch ein Mann im Laden gewesen sei, der auch ein Paar Gummistiefel bekommen hätte. Er sei auch ein Deutscher und hieße Porozynski. Sie wusste auch, wo er wohnte. Also machten wir uns an einem Sonntag auf den Weg, um vielleicht die Stiefel tauschen zu können. Wir hatten jeder ein Kind auf dem Arm. Ich Marianne, das ist meine Jüngste. Als wir dort ankamen, wurden wir sehr freundlich empfangen. Im Gespräch kam heraus, dass meine Stiefel einem der Kinder passten. Also ließ ich sie da. Wir hatten eine schöne Zeit bei dieser Familie. Sie baten uns, wieder zu kommen. Ich sollte auch meinen Mann mitbringen. Mein Mann und ich haben sie dann öfter besucht. Bald hörten wir, dass sie Mormonen seien. Wir hatten den Namen noch nie gehört. Zu uns kamen zuvor Vertreter einer anderen Glaubensgemeinschaft, es waren die Zeugen Jehovas. Mein Mann war von der Lehre sehr angetan, aber durch die Stiefel wurden wir auch von den Mormonen belehrt.
Porozynskis baten uns, dabei sein zu dürfen, wenn die Zeugen Jehovas wieder kämen. Gesagt, getan. Wir waren nun sechs Personen und wurden belehrt. Mein Mann und ich hörten nur zu, um herauszufinden, wer Recht hat. Wenn etwas unklar war, sagte Bruder Porozynski zu seiner Frau: „Liebes, schlag mal die Bibel auf, auf der und der Seite ist die Antwort.“ Er selbst konnte nicht gut sehen, aber die Bibel kannte er sehr gut. Die Zeugen Jehovas kamen nicht so recht mit. Sie entschuldigten sich auch nicht, weil sie es nicht wussten, sondern waren sehr unfreundlich. Die ältere Dame sagte dann zu Herrn Porozynski: „Dann komm um in deiner Schlauheit.“ Für uns war damit der Abend zu Ende. Und wir wussten nun, wo wir hingehörten, zu den Mormonen. Wir haben festgestellt, dass der Herr uns Mittel und Wege zeigt, um das wahre Evangelium zu finden. Und dafür sind wir sehr dankbar.
Im Juli 1955 fuhr ich mit meinem Sohn Reinhard zur Taufe nach Selbongen. Wir waren 12 Stunden mit der Bahn von Stolp bis Nikolaiken unterwegs. Als wir in Nikolaiken ankamen, standen ein paar Schwestern auf dem Bahnsteig und sagen: „Kommt, Heilige kommt!“ Diesen Empfang werde ich nie vergessen und bin sehr dankbar dafür. Wir haben uns ja gar nicht gekannt. Ich bin auch dankbar für alle Segnungen, die der Vater im Himmel mir bis heute gegeben hat. Und dankbar für den Propheten.
Bei Schwester Meusich wurde ich mit meinem Sohn einquartiert. Am Konferenzsonntag brachen wir früh um sechs Uhr mit einigen Mitgliedern auf und gingen ein paar Kilometer durch Wälder zu einem kleinen See. Dort wurden wir getauft, mein Sohn und ich. Mein Mann ist einen Monat später mit Bruder Porozynski zur Taufe nach Selbongen gefahren. Denn einer musste wegen der Haustiere zu Hause bleiben. In Rathsdamnitz hielten wir nach den Taufen bei Porozynskis heimlich Kirchenversammlungen ab. Manchmal waren wir bis zu zehn Personen in der Sonntagsschule.
Die Zeugen Jehovas wurden von der polnischen Polizei beobachtet. Von den Mormonen wusste man nicht viel. Heimliche Zusammenkünfte waren im sozialistischen Regime unerwünscht. Von einer alten Schwester in Stolp erhielten wir ein Buch Mormon. Dieses Buch Mormon und die Bibel haben wir bei Geschwister Porozynski zu Hause gemeinsam gelesen. Später besuchten uns Bruder Erich Konietz und der Bruder Helmut Mordas. Sie übertrugen Bruder Porozynski und meinem Mann das Priestertum. Ab dann konnten wir in unseren sonntäglichen Versammlungen auch das Abendmahl nehmen.
Wir wollten nach Deutschland aussiedeln. Aber weil mein Mann ein ausgebildeter Müller war, also ein Spezialist, verweigerten die Polen lange Zeit die Ausreise. Bevorzugt wurden Eltern und Kinder zusammengeführt. Doch unsere Eltern waren auch in Polen, weshalb die Aussiedlung erschwert wurde. Wir haben viel gebetet. Viele Leute haben jahrelang gewartet. Doch was unmöglich schien, geschah. Mein Mann hatte eine Tante in Herdecke an der Ruhr, die uns entsprechende Unterlagen für die Ausreise schickte. Schon drei Monaten, nachdem die Papiere eingereicht wurden, kam der Bescheid, dass wir ausreisen durften. Dem Postboten, der uns die Nachricht brachte, bin ich vor Freude um den Hals gefallen.
Im März 1958 haben wir uns in Wischhafen (an der Elbe) angemeldet. Die Wohnung war im Neulander Moor, vier Kilometer von Wischhafen entfernt – wo Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagen. Dort gab es kein Leitungswasser, sondern nur eine Zisterne. Jeden Sonntag sind wir nach Glückstadt zur Kirche gefahren. Erst mit dem Fahrrad zum Hafen und anschließen mit der Fähre über die Elbe. Später zogen wir nach Glückstadt um. Seit 1982 wohne ich in Nidderau bei Frankfurt am Main, wo mein Mann 1993 starb. Jeden Sonntag besuche ich die Gemeinde in Hanau.
Liebe Herausgeber der Webseite,
auf der Seite mit der Geschichte meiner Mutter befindet sich gleich im ersten Satz ein eklatanter Fehler:
mormonengeschichte.de/420/agatha-staubach
Dort steht geschrieben:
„Ich, Agatha Staubach, bin die Tochter von Joseph Staubach und Theresia Marquardt. Meine Mutter ist auch eine geborene Marquardt…“
Der zweite Satz macht keinen Sinn, weil Joseph nicht Staubach, sondern Marquardt hieß. Richtig muss es also lauten:
„Ich, Agatha Staubach, bin die Tochter von Joseph Marquardt und Theresia Marquardt. Meine Mutter ist auch eine geborene Marquardt…“
Bitte korrigieren Sie diesen Fehler auf der Webseite. Meine Mutter kann nicht selbst um die Korrektur bitten, weil sie vor einem Jahr verstorben ist.
Vielen Dank für Ihre umfangreiche Arbeit, durch die viele Lebensgeschichten erfasst wurden und erhalten bleiben.
Liebe Grüße
Reinhard Staubach
Sehr geehrter Herr Staubach,
ich möchte mich dafür entschuldigen, dass Sie so lange auf eine Antwort warten mussten. Leider wurde für einen (anscheinend) längeren Zeitraum keine Aktualisierungen für diese Seite vorgenommen. Nun, da ich damit beauftragt wurde dies zu tun, habe ich Ihrem Wunsch entsprochen und die Veränderungen vorgenommen. Ich bitte nochmals um Entschuldigung, dass es erst jetzt geschehen ist.
Mit lieben Grüßen,
Bruder Dröge
PS: Das lag mir besonders am Herzen, da ich, besonders aber meine Eltern, ihre Mutter kannte(n). Ich bin in der Gemeinde Hanau aufgewachsen und habe Ihre Mutter mit absolut positiven Gedanken in Erinnerung.
Znałem Porożyńskich z Dębnicy Kaszubskiej. (Rathsdamnitz)
Zamieszkałem tu w 1966 roku. Porożyńscy mieszkali na ul. Fabrycznej. W 1968 roku wyjechali do Niemiec. Nie znam ich adresu. Wiem tylko, że Porożyński zmarł kilka lat temu. Mieli 4 dzieci, dwóch chłopców i dwie dziewczynki.
Przeczytałem Pani wspomnienia i serdecznie Pani współczuję. Znam te wszystkie miejscowości jak
Stolp, Starnitz, Kriewan.
Jeżeli w Starnicach jest jeszcze Niemiecki cmentarz to zawiozę tam kwiaty i położę za Panią, dla Pani Ojca. Pomnika na pewno nie ma bo nie mieliście czasu go postawić ale kwiaty zawiozę, obiecuję.
Był bym bardzo wdzięczny gdyby zechciała Pani napisać kilka słów od siebie.
List może być w języku Niemieckim. Mam znajomą która mi przetłumaczy.
Mój adres: Tadeusz Głowacki
76-248 Dębnica Kaszubska
ul. Fabryczna 4
Z poważaniem. Tadeusz Głowacki.