Breslau, Schlesien

mormon deutsch marianne irmgard ortliebIch heiße Marianne Irmgard Ortlieb, geborene Zwirner. Geboren bin ich in Breslau in Schlesien. Mein Vater heißt Erwin Walter Zwirner und meine Mutter Magda Irmgard Zwirner, geborene Barth. Meine Kindheit verlebte ich in Breslau und es war eine sehr goldene Kindheit. Geboren bin ich direkt in Breslau, mein Vater war nicht in der Kirche, als meine Mutti ihn kennengelernt hat. Aber sie wollte ihn erst heiraten, wenn er getauft ist. Und so ließ er sich vor der Eheschließung taufen.

Meine Mutti ist in der Kirche geboren. Meine Oma, die Mutter von Mutti, war katholisch, als eine Schwester von ihr geboren wurde und gleich starb, konnte sie keine Nottaufe mehr erhalten und so sagte man, sie müsste ins Fegefeuer und meine Oma war dreizehn, vierzehn Jahre, sie sagte: “Wenn meine Schwester ins Fegefeuer kommt, dann will ich auch dorthin“. Und sie war von da an, ein schwarzes Schaf in der katholischen Kirche. Sie wollte von Kirche nichts mehr wissen. Als junge Frau in Breslau kamen amerikanische Missionare an ihre Tür. Sie begannen mit der Ahnenforschung von der Genealogie zu sprechen und sagten, dass die Verstorbenen getauft werden können. Meine Oma ließ sie sofort herein und sagte, das ist richtig und hat sich gleich, nach zwei, drei Wochen taufen lassen. Sie wusste, sie ist jetzt in der wahren Kirche und sie war der Kirche immer treu geblieben, bis ihr Lebensende.

Meine Mutti wurde nach der Hochzeit inaktiv. Ich habe einen sehr lieben Vater, aber er kam mit so manchen Dingen der Lehre nicht zurecht. Es wurde in Breslau gelehrt, dass man nur als Eheleute zusammen sein soll, wenn man ein Kind haben will. Das konnte mein Vater nicht verstehen und es gab auch noch so einiges, anderes.

Mein Vater und meine Mutti bauten ein Haus in Breslau Mochbern, das haben wir 1938 bezogen. Es begann für mich eine goldene Kindheit. Mein Vater arbeitet in der Woche in Beuthen als Autovertreter und Wochenende war er immer da, er hat mit uns gespielt, ich hatte noch einen Bruder, er hat die tollsten Sachen mit uns gemacht. Das war sehr, sehr schön. Meine Mutti war meine beste Freundin. Wenn ich irgendwelche Probleme hatte, oder mit irgendetwas nicht klar war, ich hab sie immer in der Nacht geweckt und meine Mutti war mir deshalb nie böse, sie kam immer ganz lieb an mein Bett und erklärte mir alles, oder tröstete mich. Dann war alles gut und ich konnte gut einschlafen. Als Kind hab ich so manches Mal auf der Wiese gelegen, habe die Wolken betrachtet und wusste, dass es einen Vater im Himmel gibt, dass es Jesus Christus gibt.

Weihnachten 1944 war für mich eine traurige Zeit, weil mein Vater und meine Mutter so bedrückt fühlten. Sonst war das Weihnachtsfest immer das schönste Fest des ganzen Jahres. Sie haben es uns Kindern immer sehr, sehr schön weihnachtlich gemacht. Ich habe sogar ein Fahrrad bekommen, Weihnachten 1944, obwohl schon lange Krieg war und es eigentlich nichts mehr gab, aber mein Vater, wurde in den Krieg eingezogen, aber er blieb in Breslau bei der Flak und konnte mir eins besorgen. Er erzählte mir, viel später, dass die Soldaten in der Runde standen und es wurde gefragt, ob jemand Schreibmaschine schreiben kann, Stenografie, also sich in der Buchhaltung auskannte. Das konnte mein Vater. Er hatte das ja gelernt und da haben sie ihn genommen und ihm gesagt: “Sie bleiben in Breslau“. Die anderen sind nach Afrika gekommen.

Jede freie Minute kam er nach Hause. Und wenn es nur zwei Stunden waren. Man hatte ihn schon gehänselt, dort bei den Soldaten. Und meine Mutti fühlte sich manchmal gar nicht so richtig wohl, denn die Männer aller Frauen im Krieg waren und sie wussten oftmals gar nicht, wo und mein Vater kam, immer nach Hause, so er konnte.

Wenn Fliegeralarm war, sollten wir da in diesen kleinen Bunker gehen und nicht mehr in den Keller. Wir mussten auch ein Loch zu unseren Nachbarn in den Zaun schneiden, damit wir noch einen Ausweg zu unseren Nachbarn hatten. Im Januar, es war der 18 oder 19. Januar 1945 hörten wir durch den Lautsprecher her, dass alle Frauen und Kinder, die Stadt sofort zu verlassen haben. Ich kann nicht beschreiben, was das in mir ausgelöst hat. Ich bekam solche Angst, dass ich ganz schnell weg wollte. Der Vorgesetzte der Flak versorgte für alle Soldaten, die ihre Angehörigen in Breslau hatten, einen Lastwagen, womit die Mütter mit ihrem Kindern wegfahren konnten. Drei Tage habe ich zu Hause am Fenster gesessen und aufgepasst, ob nicht mein Vater kommt, dass er uns wegholt. Ich hatte Angst, ich wollte nur weg, obwohl ich das zu Hause so sehr geliebt habe und ich später davon träumte, von meinen schönen Büchern, von meinen Puppen, vom Garten, dass ich alle zwei Tage Monatserdbeeren sammeln musste, was ich nicht immer so gern gemacht habe, von meinen kleinen Hausaufgaben. Wie gern hätte ich nun alles getan.

Zu der Zeit wollte ich nur weg. Mein Vater kam dann und wir fuhren alle mit dem Fahrrad. Ich das erste Mal, welches ich mir so sehr gewünscht hatte, auf Glatteis fuhren wir zu dem Stellplatz, wo der Lastwagen stand. Mein Bruder, der war ja noch klein, fünf, sechs Jahre, ich war zehn. Mein Vater hatte ein Fahrrad mit einem Anhänger und dort saß er drin und ein Koffer. Es war sehr kalt — 26 Grad minus und spiegelglatt. Wir sind gut dorthin gekommen zum Stellplatz angekommen. Meine Mutti hat ein Federbett mitgenommen, das war für sie das Wichtigste, damit sie uns ein bisschen warm einpacken konnte, wenn es unterwegs nötig war.

Wir fuhren los, wir hörten hinter uns, dass die Brücken gesprengt wurden. Wir hörten auch schon die Front, Schüsse fielen. In der Nacht hatten wir eine Autopanne. Zwei Stunden mussten wir warten, bis sie behoben wurde. Dann ging es weiter nach Greifenberg, das ist auch in Schlesien. Wir hatten ja gehofft, dass wir bald wieder zurück in unser Haus konnten. Dort kamen wir in ein Lager, in dem ein Tag vorher Zwangsarbeiter hausten. Es war dort sehr, sehr schmutzig. Es gab Doppelstockbetten und war voll verwanzt. Ich habe das erste Mal Wanzen gesehen in Scharen. In der Nacht liefen sie über unsere Körper. Die Mütter mussten alle zu einer Besprechung und wir Kinder waren alleine in dem Lager. Wir sind auf Wanzenjagd gegangen. Irgendjemand hatte Streichhölzer und Stecknadeln. Wir haben sie aufgespießt und verbrannt. Ein Junge suchte einen Kofferschlüssel und ging mit offenem Licht unter das Bett, worauf ein Strohsack lag. Aber es ist nichts passiert. Wir wurden dann bald aufgeteilt in Wohnungen. Wir kamen auch in ein kleines Einfamilienhaus, zu einer Familie, sie waren sehr nett. Sie teilten mit uns. Mein Vater war ein sehr großer Organisator. Ich weiß, er hat uns durch die Armee ein halbes Schwein geschickt. Das hat meine Mutti mit den Wirtsleuten eingeweckt.

Aber es dauerte nicht lange, nach zwei drei Wochen, mussten wir alle aus Greifenberg weg. Wir ließen dort alles zurück. Wir hatten nun so gut wie nichts. Wir gingen auf den Bahnhof. Es waren dort viele, viele Menschen. Und es wurden auf einmal weniger Menschen. Ein Zug war abgefahren, wovon meine Mutter nicht wusste. Meine Mutti erfuhr, dass dieser Zug nach Sudetendeutschland fuhr und dort ging es den Leuten sehr, sehr schlecht. Wir fuhren dann mit einem andern Zug, der wieder kam; ich kann nicht mehr sagen, wie wir nach Wehlen gekommen sind. Wir wussten ja überhaupt nicht, wohin wir fahren sollten. Mein Vater hatte einen Kriegskameraden bei der Flak und dieser hatte eine Schwester, die lebte in Wehlen und zu ihr sind wir einfach hingefahren, weil wir überhaupt keine Verwandten in Deutschland so hatten. Es hieß, wir müssen weiter ins Reich hinein. Wir haben dann dort ein kleines Zimmer bekommen direkt an der Elbe, in der sächsischen Schweiz. Die Leute waren sehr resigniert. Sie haben uns aber weiter nichts in den Weg gelegt. Ich habe viel an der Elbe gespielt.

Es dauert nicht lange, dass diese Schwester des Kriegskameraden dort wegging, ich weiß ich nicht warum? Wahrscheinlich war ihr das dort auch zu brenzlig zu bleiben. Sie ist nach Geithain gezogen. Wir sind auch nach Geithain gezogen. Was meine Mutter dazu bewegt hat, dorthin zu gehen, das weiß ich nicht. Die Züge fuhren sehr unregelmäßig, sodass wir schon abends auf den Wehlener Bahnhof gegangen sind. Wir waren nicht allein, andere wollten auch weg. Ein Junge hatte Keuchhusten und meine Mutti hatte Angst, dass wir uns ansteckten.

Da haben wir den schlimmsten Angriff auf Dresden von weitem miterlebt. Die Wände an dem Bahnhof wackelten. Der Himmel wurde blutrot. Das war ein schrecklicher Anblick. Wir wussten gar nicht, was los war. Es kam natürlich kein Zug. Wir mussten wieder zurück. Als dann wieder Züge fuhren, sind wir über Dresden gefahren. Und das Bild könnte ich jetzt noch malen. Es rauchte alles, es schwelte alles. Wir sind an einem ganz kaputten Einfamilienhäuschen vorbeigekommen, da drin saß auf den Trümmern ein altes Mütterchen, das sah so traurig aus. Es drehte mir fast als Kind das Herz um. Wären wir einen Tag vor dem Angriff nach Dresden gefahren, wären wir sicher nicht weiter gekommen, denn der ganze Bahnhof und um den Bahnhof, war alles voller Flüchtlinge gewesen, wir wären genau in den Angriff hineingekommen. Meine Mutter wusste, der Vater im Himmel hatte uns beschützt.

Jedenfalls, wir sind in Leipzig gelandet, das weiß ich noch. Als der Zug aus Leipzig fuhr, war plötzlich Tieffliegeralarm. Der Zugführer hielt in einer Mulde, sodass die Tiefflieger uns nichts so anhaben konnten. Der Zug war sehr voll. Eine Mutter, deren Baby schrie, legte es an ihre Brust. Ich Dachte; „Ach, wie gut hat es doch, das kleine Baby, es kann von ihrer Mutti gestillt werden“ aber, ob die Mutter Milch hatte? Auch ich erlebte nicht alles, so schrecklich, weil meine Mutti immer um mich war. Ich war nicht alleine gewesen. Eine Krankenschwester erzählte in dem Zug ganz große Schauergeschichten, die sie erlebt hat. Wo die Tiefflieger kamen, und der Bauch aufgeschlitzt wurde. Da fingen wir Kinder an zu schreien, bis die Erwachsenen alle gesagt haben, sie soll doch endlich einmal ihren Mund halten.

Wir kamen dann nach Geithain. Uns wurde eine Dachkammer zugewiesen. Das war ein Grünwarenhändler. Die Dachkammer war so klein, dass nur ein Bett drin Platz hatte und ein Kanonenofen. Aber wir hatten das große Glück, dass wir nicht froren. Wir konnten dort alles verbrennen, während die andere alle, die in Schulen untergebracht wurden, sehr froren, weil es sehr, sehr kalt war. Ich muss auch noch etwas einwerfen; als wir mit dem Lastwagen nach Greifenberg fuhren, haben sich alle etwas erfroren, oder sie waren sehr erkältet. Wir hatten nicht einmal einen Schnupfen, gar nichts. Wir waren kerngesund.

In Geithain wurden wir nicht so nett aufgenommen, es war ein ganz kleines Städtchen. Die Einwohner haben uns gesagt, wir sollen wieder dort hingehen, woher wir hergekommen sind. Deutsche unter Deutschen. Das war ganz schlimm gewesen. Wenn Schrebergärtner Gemüse verkauft haben und wir uns auch anstellten, haben wir nie etwas bekommen. Einmal wurde ein Schuhladen ausgeräumt und ich hätte so nötig ein paar Schuhe gebraucht, ich habe mich mit angestellt, als ich dran war, bekam ich keine Schuhe. Das war sehr schlimm für uns, denn wir wären viel zu gerne zu Hause geblieben. Meine Mutti hatte Schmuck, den hatte sie beim Fleischer getauscht, dafür hat sie dann immer jede Woche so ein Päckchen mit Wurst bekommen. Einmal war auch Speck drin, der wurde uns aber gestohlen aus der Dachkammer. In dieser Zeit war ich gerade in der Entwicklung. Wir hatten einen so großen Hunger. Wir hatten so gut wie nichts zu essen, sodass dass ich auf der Straße umfiel und ich mir in der Schule nichts mehr merken konnte. Daran habe ich erkannt, wie wichtig die Ernährung auch zum Denken ist. Ich konnte nicht mehr die einfachsten Aufgaben lösen, obwohl ich keine schlechte Schülerin war. Der Lehrer hat sich mit meiner Mutti zusammengesetzt und wussten nicht mehr, was sie machen sollen.

Mein Onkel, Muttis Schwager, ist aus der Gefangenschaft gekommen, der war aber kommunistisch und in Hartenstein (Erzgebirge) in einem FDJ-Schulungsheim tätig. Mutti hat meinen Onkel angesprochen, ob er nicht mich nehmen könnte, weil ich verhungere. Er war mein Lieblingsonkel, ich hab ihn sehr geliebt. Er hat mich aufgenommen, auch meinen Bruder und uns aufgepäppelt, mit seiner Frau. Meine Tante war auch sehr, sehr lieb. Die haben uns dort solch schönes Essen gegeben. Sie hatten natürlich viel mehr. Die FDJ-Schule hat viel bekommen. Ich bin dort in die Dorfschule gegangen. Ich war bald die Dorfschulenbeste. Das Gedächtnis, alles kam wieder und mir ging es gut. Als wir wieder nach Hause kamen, erhielten wir großen Segen von Amerika, von Präsident [Ezra Taft] Benson.

Meine Mutti wurde nach dem Flüchten wieder ganz aktiv in der Kirche. Sie wurde ein ganz standhaftes Mitglied und in Geithain machte sie Heimsonntagsschule, weil dort keine Gemeinde war. Von Leipzig, wir gehörten zu Leipzig, kamen immer Missionare nach Geithain. Meine Mutti missionierte dort sehr viel, auch einen Pfarrer. Er war sehr nett, aber er war schon älter, er wusste, dass das Buch Mormon wahr ist, aber er sagte: “Was soll ich jetzt machen, ich werde bald pensioniert, ich hab dann kein Geld“. Es war ja sein Beruf. Das war eigentlich sehr traurig, denn er wusste, dass die Kirche wahr ist.

Wir bekamen Spenden [aus Salt Lake] über Leipzig. Wir mussten immer nach Leipzig fahren. Wir hatten wir einen großen Sack, dort wurde alles hineingesteckt. Wir haben auch Sachen bekommen. Ein sehr schönes Kleid erhielt ich und Schuhe mit so kleinen Absätzen. Da bin ich gelaufen, wie eine Prinzessin in Geithain. Und obwohl wir wirklich nichts hatten, die Menschen waren auf uns neidisch. Das war eigenartig. Wahrscheinlich, weil wir plötzlich hübsch angezogen waren. Wir hatten wirklich schöne Sachen bekommen. Das war so ein großer Segen für uns. Wenn ich jetzt Mais esse, den es nun gibt, denke ich immer an diese Zeit und die Pfirsiche oder die Weizengrütze und die Tomaten. Ein Erlebnis hatte ich. Wir waren wieder in Leipzig, hatten schöne Dinge geholt, wir setzen uns in den Zug, es war sehr spät abends. Meine Mutti war sehr müde, dass sie einschlief und plötzlich sagte ich: “Wir sind in Geithain“. Meine Mutti war so erschrocken. Wir sind schnell ausgestiegen. Da waren wir aber in Bad Lausig. Das ist zwischen Leipzig und Geithain. Jetzt standen wir am Bahnhof, mit dem Sack voller Schätze. Das waren große Schätze zu der Zeit. Wir haben irgendwo geklingelt. Wir sind untergekommen und konnten dort schlafen. Wir gingen zeitig auf den Bahnhof, der Zug war so voll, dass sie auch auf den Trittbrettern standen, auf dem Dach oben, auf den Puffern. Wir konnten überhaupt nicht hinein. Meine Mutti hat den Sack irgendwie auf den Puffern festgebunden. Ich stand auf den Trittbrettern, auch meine Mutti. Es war sehr kalt, ich weiß nicht, ob es schon Winter war, und wir mussten noch ziemlich lange fahren, um nach Geithain zu kommen. Ich weiß noch, wie gebetet habe: „Vater im Himmel hilf mir, dass nicht die Hände aufgehen, dass ich nicht runterfalle“, das war so schlimm, das war so furchtbar. Wahrscheinlich waren da Engel; sie haben uns geholfen. Als wir in Geithain ankamen, war ich wie erstarrt, aber ich hatte das Gefühl, ich wieder neu geboren bin. Wir hatten’s geschafft. Zuhause gab mir meine Mutti eine Schnitte, mit etwas Zucker drauf und Wasser. Ich bin in die Schule gegangen. Ich bin halb geflogen, so dankbar, dass wir am Leben waren, dass alles gut gegangen ist.

Mein Vater hat die ganze Festung in Breslau durchgemacht. Meine Oma blieb bis 1946 in Breslau. Mein Vater, meiner Oma gesagt der hat wahrscheinlich all dieses Unglück erlebt hat, hat zu meiner Oma gesagt, wen ich hier aus der Festung Breslau herauskomme, werde ich ein gutes Mitglied der Kirche. Das wurde leider nicht so. Er kam in russische Gefangenschaft und hat mir später erzählt, wie furchtbar alles war. Sie waren im Viehwagen ganz aneinander gepresst, die hatten nichts zu essen, nichts zu trinken, wenn sie die Hand durch einen Spalt schieben, wenn es einmal regnete, da wurde geschossen. Er wusste nicht, wo wir waren, er wusste, dass unser Haus bombardiert wurde und auch noch ausgebrannt. Es war nichts mehr da, gar nichts.

Er hat nur immer englische Vokabeln gelernt und immer wieder wiederholt, um den Verstand nicht zu verlieren. Er kam in russische Gefangenschaft, dort standen sie im Kreis und dort haben sie einen Leiter gesucht, der das Gefangenenlager führen sollte. Da haben sie ihn ausgesucht. „Warum haben sie mich genommen, ich war gar nicht so groß?“ Er kam in eine marxistische Schule. Es darf nie wieder Krieg geben. Das war für ihn so wichtig. Darum ist er Marxist geworden.

Als er aus der Gefangenschaft kam, war es kurz vor Weihnachten 1948. Zerlumpt kam er an, wie so ein Häufel Unglück. Mein Vater und meine Mutter, sie sind jetzt getrennte Wege gegangen. Er war Marxist geworden. Er wollte mit all seiner Kraft gegen den Krieg kämpfen und er sagte, das kann er nicht in der Kirche. Meine Mutti war in der Kirche standhaft. So ließen sie sich 1951 scheiden. Das war sehr traurig, weil ich als Kind nie wusste, wen ich lieber habe, meinen Vater oder meine Mutter, ich liebte sie beide gleich.

In Geithain zogen erst die Amerikaner ein. Ich kann mich besinnen, mit großen Panzern kamen sie, Afrikaner oben. Sie waren sehr kinderlieb, sie warfen Bonbons runter, das kannten wir ja gar nicht. Ich habe zwar nicht viel bekommen, die anderen Kinder waren immer schneller als ich. Diese Herzlichkeit, die tat mir sehr wohl, die kannten wir gar nicht. Und später kamen die Russen, und da hatten wir große Angst. Wir hatten uns alle verbarrikadiert. Uns hat der Vater im Himmel immer beschützt. Es ist ja so viel Schlimmes passiert, so viele Vergewaltigungen. Uns ist gar nichts passiert.

Letzen Endes ging es uns eigentlich, trotz all der Trauer und in all dem Schlimmen immer recht gut, denn uns ist nichts passiert. Als wir dann von Amerika das Essen bekamen, hatten wir auch nicht mehr so grossen Hunger. Es war für uns wirklich ein ganz großes Glück.