Bad Bramstedt, Segeberg, Schleswig Holstein
Mein Name ist Luise Rathe, geboren Lüthje am 22 August 1930 in Bad Bramstedt, Kreis Segeberg, Schleswig-Holstein. Mein Vater ist August, Friedrich Lüthje, geboren 17 Sep1906 in Wiemersdorf, verheiratet 7 April 1924 in Wiemersdorf, Kreis Segeberg, Schleswig-Holstein mit Mutter Erna, Charlotte Amalie Püschel, geboren 1906 in Köthen, Kreis Bitterfeld, Sachsen-Anhalt Die Ehe wurde wieder geschieden und ich wuchs auf bei den Großeltern in Wiemersdorf.
Ich heiratete am 9. Juli 1950 in Neumünster den bei der Deutschen Bundesbahn Angestellten Sekretär Egon Rathge, geboren am 12 Juni 1928 in Neumünster. Er verstarb am 7. Juni 2005 in Hamburg (3 Tage vor seinem 77ten Geburtstag.) Kinder aus dieser Ehe sind: Evelin August 1950, verheiratete Heitmann Marion 19. August 1951 (geschieden) Frank Thomas 15 Oktober 1952, verheiratet mit Christa Neumann
Am Ende des Krieges war ich wohnhaft in Wiemersdorf, Kreis Segeberg, Schleswig-Holstein. Es muss etwa März oder April gewesen sein, jedenfalls ganz kurz vor dem Ende des Krieges. Ich ging noch zur Schule, wir hatten aber bereits frei bekommen und uns mit unseren Schulkameraden an der Chaussee getroffen. Es war die B4, die lange Durchgangsstraße des Dorfes die von Hamburg nach Kiel führt und da haben wir dann herum getobt, wo wir alle doch ganz fröhliche „Backfische“ waren. (Teenager). Bei einer Schulkameradin haben wir dann auf dem Gartenzaun gesessen und uns über die Schule unterhalten, oder eben, was uns so als junge Leute einfiel. Da plötzlich kam ein Kradfahrer an und hielt bei uns. Von welcher Truppe der Wehrmacht er war, konnte ich nicht sagen. – ich kenne mich mit Militär nicht aus – jedenfalls wollte er uns von dem Haus fortjagen. Wir sollten weggehen, weil da gleich etwas vorbei käme, was wir nicht sehen sollten. Wir sind aber dort geblieben, weil wir ja nun gerade erst recht neugierig gemacht worden waren. Dann kamen zwei Kübelwagen oder Jeeps (Militärfahrzeuge). Die Soldaten scheuchten uns auch wieder weg. Dann sind wir eben hinter einer Mauer in Deckung gegangen, so dass sie uns nicht sehen konnten. Und haben dann von da aus die Kolonne von rund 300 bis 500 Menschen gesehen, die da in Viererreihe auf Holzpantinen angeschlurrt kamen (gebeugter schlurfender Gang).
Wir haben uns sehr erschrocken und verwundert, da wir ja nicht wussten, was das für Leute waren. Ausgemergelte Gestalten in gestreiften Schlafanzügen. Die gleich gemusterte Kappe auf dem Kopf und ihre Holzlatschen an den Füßen und da wir auf der Chaussee Basaltpflaster hatten, schlurften die Holzpantoffeln sehr geräuschvoll hinterher und machten ziemlichen Lärm. Da wir eine ganze Clique von Kinder waren, hat sich auch ab und zu mal jemand getraut den Kopf zu heben, sich das Elend dieser halbverhungerten menschlichen Gestalten anzusehen. Aber wir haben uns alle die Hand vor den Mund gehalten, um nicht los zu schreien, weil wir Angst vor ihnen hatten, denn wir wussten ja nicht was das für welche waren. Und wie sie dann vorbei waren, sind wir über die Straße rein in die Felder und immer hinterm „Knick“ (Hecke) entlang und haben sie noch begleitet bis zum Dorfausgang. Da ging es ein bisschen bergauf, die Straße teilte sich in die Hauptstraße und in einen breiteren Feldweg für die Bauern, und da wurden die Sträflinge in diesen Feldweg geführt.
Ein Bauer war gerade dabei und machte seine Rübenmiete auf, für sein Vieh (ein auf dem Feld befindliches mit Stroh abgedecktes Rüben Reservoir), und als die Sträflinge ankamen, stürzten sie sich auf die Rüben, wurden aber sofort mit vorgehaltenem Bajonett zurück getrieben, während die Soldaten schrien: „Nicht dabei gehen! – oder wir schießen“! Da tauchte auf einmal der Bauer auf und noch ein junger Mann mit einer großen Mistgabel in der Hand und bedrohten die Soldaten. Wir dachten, jetzt geht die Schießerei los, aber die Soldaten zogen sich zurück und die armen Menschen konnten sich bei den Rüben bedienen und sind dann auch weiter marschiert Richtung Neumünster.
Wir sind natürlich entsetzt gewesen über das, was wir sahen. Wir kannten so etwas ja nicht und wir hatten weit und breit kein Gefängnis in der Nähe. Die müssen wirklich von Hamburg auf dem Weg nach Kiel gewesen sein und sind hier bei uns auf der B 4 vorbei gekommen.
Wir sind dann alle nach Hause und haben das unseren Eltern erzählt. Ich auch meinen Großeltern. Meine Großmutter hat mich dafür der Lüge bezichtigt. Das wäre nur in unserer Phantasie passiert und ich habe ihr dann aufgezählt wer alles von den Freundinnen mit dabei war, die sie hat fragen können. Eine ganze Zeit später, kam eine Bekannte aus Neumünster und erzählte uns von dem „Marsch der Sträflinge“ und da habe ich ganz triumphierend zu meiner Großmutter gesagt: „Siehst du, habe ich doch recht gehabt”!
Dann aber – viele Jahre später – und das ist jetzt erst gewesen, seitdem ich hier in Hamburg wohne, da war im Fernsehen ein Stück über die Verschleppung der Juden. Da erzählte ein alter Mann er sei zehn Jahre alt gewesen, wie er diesen Trupp gesehen hatte. Die sind am Strand in Kiel zwischen Kiel und Strande erschossen wurden. Er habe das beobachten können. Er ist noch einiges mehr gefragt worden, was ich aber nicht mehr erinnere und dann sagte er noch: „Ich habe auch lange Jahre darüber nachgedacht was das für Leute waren und ich denke, dass sie aus dem KZ- Neuengamme kamen und vernichtet werden sollten. Ich kann mich daran erinnern, dass wir während des Krieges im Dorf bei den Bauern auch Zwangs-Arbeiter hatten. Unser direkter Nachbar hatte drei Söhne im Krieg und hatte einen Polen als Knecht zugeteilt bekommen.
Wir waren gerade auf dem Feld, da kam ein Tiefflieger-Angriff auf unser Dorf. Wir hatten uns auf diesem Nachbargrundstück, auf dem Feld hinterm Haus, einen Bunker gebaut und sind dann da schnell rein gelaufen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass Tante Grete rumjammerte, dass Stanislaus noch nicht da war. Er war mit den Pferden auf dem Feld und nun kamen die Tiefflieger und dem würde doch was passieren! Sie hatte solche Angst um den Stanislaus gehabt und dann tauchte er plötzlich doch noch im Bunker auf und hatte die ganzen Hände voller Blasen. Die Pferde waren ihm durchgegangen und er war in ein Brennesselfeld gestürzt. Sie hätten das sehen müssen, wie sie diesen Mann verarztet hat. Als wenn er ihr eigenes Kind gewesen wäre.
Und nach dem Krieg hatten die Polen auf einmal Waffen. Dann haben sie die Nazis gejagt! Der Meierist war Nazi – der Ortsbauernführer – der fuhr gerade mit seiner Frau zum Melken aufs Feld, da hat sich seine Frau mit der Mistforke vor ihn gestellt und hat gesagt: „Wenn Ihr meinem Mann was tut, dann stech ich zu”. Er ist davon gekommen und konnte fliehen, aber unser Bürgermeister, den haben sie erschlagen und der war wirklich kein Nazi. Der hat alles getan was er konnte um Not zu lindern. Wir hatten ja selber nichts die letzten Kriegsjahre.
Folgendes habe ich auch selbst gesehen. Der Bürgermeister ist mit seinem Großknecht aufs Feld gefahren, sie wollten Weiden umzäunen, und da hat der Großknecht vorher schon immer gesagt: „Bleib lieber hier, da ist was in der Luft! Es ist so unruhig”! Denn die Polenknechte haben zu der Zeit ja schon nicht mehr gearbeitet. Er wollte dann aber doch wenigstens mitgehen, um ihn eventuell zu beschützen. Ich hatte noch etwas auf dem Bürgermeisteramt zu tun für meine Großmutter und auf einmal hörte ich, dass der Wagen angerumpelt kam rein in die Diele. Das Dielentor wurde geschlossen und der Bürgermeister wankte in sein Büro! Da hatten sie ihn schon verprügelt! Der Großknecht hat schnell alles verbarrikadiert, aber sie sind doch rein gekommen und haben ihn dann in seinem Büro erschlagen. Das habe ich gesehen und jedes mal wenn mir ein Pole auf der Straße begegnete, habe ich eine Kehrtwendung gemacht und bin weggelaufen vor lauter Angst, dass sie mir auch was antun könnten.
Die Bauern hatten auch die polnischen Dienstmädchen zu sich genommen, um mit ihnen zu schlafen. Einige wurden schwanger und konnten dann natürlich nicht mehr arbeiten. Wohin also mit ihnen? Neben der Meierei war ein früherer Schweinestall gewesen, den hatte der Bürgermeister noch herrichten lassen, damit die jungen Frauen mit ihren Babys wenigstens da wohnen konnten, sonst wären sie auf der Straße gewesen.
Ein Bomber war abgeschossen worden in Beberloh – das war ein Moorgebiet. Der Pilot hatte noch versucht sich mit dem Fallschirm zu retten. Das hat aber nicht so ganz geklappt und er fiel in einen Baum. Da hing er nun in den Zweigen. Das haben wir gesehen — mein Großvater und ich – als wir gerade Torf stechen wollten. Mit einemmal sah ich ihn da im Baum hängen und sagte: „Sieh mal Opa, was ist das denn da“? Er guckte und sagte: „Oh nein! das ist ein Tommy”! (Ein Engländer) und wir mussten dann die Polizei informieren. Was mit ihm dann geschehen ist, weiß ich nicht.
Ich bin operiert worden in Bad Bramstedt, im Kurhaus — das war damals ein Lazarett — und wie ich aus der Narkose aufwache, liege ich in so einer Kabine und in der Nebenkabine muss ein junger Mann wohl von der Front gelegen sein. Jedenfalls hat der immer gejammert: „Die Panzer kommen! Die Panzer kommen”! Und da habe ich gemacht, dass ich raus kam, denn das wollte ich nicht hören. Ich wollte mit der AKN (Altona-Kaltenkirchener-Nordbahn) nach Hause fahren, bin aber auf dem Bahnsteig nicht mitgekommen. Die Menschen hingen wie die Trauben an den Türen, Fenstern und Trittbrettern. Sie wollten alle zum Hamstern aufs Land, sich bei den Bauern wieder Nahrungsmittel für die nächsten Tage zu besorgen.
Meine Tante Tilly konnte ihre „Klappe“ nicht halten. Sie wohnte in Hamburg und wurde dreimal ausgebombt. Jetzt wusste sie nicht mehr wo sie hin sollte. Kam dann aber mit ihrer Familie zu uns aufs Dorf und hatte dabei Glück gehabt, dass sie mit ihrer Freundin zusammen von einem Lkw der Wehrmacht mitgenommen worden war. Ich saß gerade bei uns am Küchen Fenster und konnte so zur Chaussee raus sehen und mit einemmal rief ich meine Großmutter und fragte: „Oma, guck mal, was sind das für Leute, die da kommen”? „Ach, das sind Zigeuner”. Ich sagte: „Es gibt hier doch keine Zigeuner mehr”. Die Leute kamen dann immer näher – sie hatten sich ein Kopftuch umgebunden und hatten ihr Bettzeug auf dem Rücken – und dann mit einemmal erkannte ich die Gesellschaft und rief aus: „Das ist Tante Tilly”! Meine Großmutter wurde ganz nervös, weil sie Angst hatte, dass etwas passiert war.
Dann war Tante Tilly ja auch eine ganze Zeit lang bei uns. Und eines Tages war sie gerade im Schlafzimmer und das Fenster ging zur Straße raus. Unten stand unser Nachbar, Onkel Emil, und unterhält sich mit jemanden der ein ziemlich lautes Organ hatte, so dass sie alles mit anhören konnte. Wahrscheinlich ging die Unterhaltung über Nahrungsmittel und die Menschen, die jetzt auf die Bauernhöfe kamen, und dann grölte sie (ganz lautes Rufen) aus dem Fenster: „Den Bauern ist es noch nie so gut gegangen wie jetzt! Ihr habt den Leuten, (den Flüchtlingen und Ausgebombten) die zu euch kamen, alles abgenommen, was sie noch hatten retten können”! Ich höre es in meinem Herzen heute noch, wie sie den Nachsatz noch rief: „Es fehlt euch nur noch der Teppich für den Kuhstall”! Und es stimmte ja auch, die Leute hatten ja nichts mehr und was sie noch hatten, haben sie dann auch noch den Bauern hergeben müssen, für ein Stückchen Brot.
Dieses habe ich alles selbst gesehen und erlebt. Und je älter ich werde, umso mehr erinnere ich mich ganz deutlich an diese Dinge. Und wenn ich das meinen Kindern erzähle, dann bekomme ich zur Antwort: „Jaa — jaa — das war einmal”! Aber wenn ich mir jetzt die Weltgeschichte ansehe, dann ist es immer noch so! Es sind ganz, ganz schlimme Zustände auf der Welt.
Ich musste erst 38 Jahre alt werden, um das Evangelium kennen zu lernen und geholfen hat dabei meine älteste Tochter. Sie bestellte ohne mein Wissen die Missionare abends zu einem Termin bei uns – (Elder Miller und Elder Johnson). Ich war natürlich sehr verblüfft, aber wir haben uns dann sehr nett unterhalten. Sie kamen einige Male, obwohl ich mich noch dagegen wehrte. Wir diskutierten und fast könnte man sagen wir stritten uns um das Wort Gottes, das ich nicht annehmen wollte. Dann gaben sie mir ein Buch Mormon, welches ich aber beiseite legte, denn ich hatte keine Zeit es zu lesen. Trotzdem wirbelte es immer in meinem Kopf herum und ich empfand ein schlechtes Gewissen den Missionaren gegenüber. Ja, ich brauchte eine lange Zeit, um zu verstehen, aber dann riss der Knoten auf und ich begann zu lesen. Je mehr ich las, umso größer wurde mein Wunsch getauft zu werden und als Einzige unserer Familie ging ich den Bund mit dem Herrn ein. Damals musste mein Mann noch seine Einwilligung zur Taufe geben, doch meine ganze Familie hat an meiner Taufe teilgenommen und ich kann sagen, dass ich glücklich bin, diesen Schritt getan zu haben. Es folgten nun einige schöne Jahre das Evangelium, sowie die lieben Geschwister der Gemeinde kennen zu lernen. Ich hatte verstanden, dass der Herr uns alle liebt, dass wir Seine Kinder und Er unser Vater im Himmel ist, zu dem wir zurückkehren wollen.
Das Schönste aber war, dass wir verheirateten Schwestern, die allein in der Kirche waren, ab 1991 auch in den Tempel durften. Am 29. August 1987 hatte ich in Friedrichsdorf bei Frankfurt den neuen Tempelbau zu seiner Einweihung mit besucht und jetzt war es uns möglich geworden diese Segnung ebenfalls zu empfangen. Frohen Herzens einen ganzen Tag mit den anderen Schwestern dort im Tempel zu verbringen und Bündnisse mit dem Herrn zu schließen ist etwas ganz Besonderes und machte mich sehr glücklich.
Jetzt bin ich alleinstehend. Mein Mann ist ohne Taufe, aber in Kenntnis des Evangeliums gestorben. Ich habe bereits alles vorbereitet ihn noch stellvertretend taufen und die Ehesiegelung machen zu lassen. Ich weiß, dass das Evangelium wahr ist und dass es mich glücklich macht es zu leben.