Teterow, Mecklenburg

mormon deutsch marianne reimersMein Name ist Marianne Reimers, geborene Wulff. Am 25. September 1922 wurde ich in Teterow, einer Kleinstadt in Mecklenburg, geboren. Ich hatte eine behütete Kindheit. Meine Eltern kamen ebenfalls aus Mecklenburg. Mein Vater Friedrich Wulff genannt Fritz, war Zahnarzt. Seine Vorfahren stammten aus Schleswig Holstein. Meine Mutter war die Tochter eines Arztes und hieß Dannien. Es hieß immer, sie stammen von den Hugenotten ab, aber bei meiner Genealogischen Forschung konnte ich den Namen nicht finden.

Als ich 10 Jahre alt war, kam Adolf Hitler an die Macht und ich wurde ein Jungmädel. Wir wurden uniformiert, mussten marschieren und exerzieren und waren danach im Bund der Deutschen Mädchen (BDM).

In der Schule wurden wir mit Jungens zusammen Unterrichtet. Drei von ihnen hatten etwas Politisches an die Tafel geschrieben. Sie waren 16 Jahre alt, wurden von der Schule genommen und in ein Lager gesteckt. Der Sohn eines unseren Lehrers ist dann dort gestorben. 1941 machten wir unser Abitur. Die meisten Jungens wurden schon vorher von der Schule zum Militärdienst eingezogen. Das Abitur wurde ihnen dann später „nachgeschmissen“, oder sie mussten es nachholen.

Ich hatte eine Patentante, die in Manila, auf den Philippinen wohnte und einmal im Jahr mit einem Luxusdampfer nach Deutschland kam. Passagierflugzeuge gab es damals noch nicht. Diese Tante hatte mir versprochen, mich einmal mit nach Manila zu nehmen, wenn ich die Schule beendet hätte. Leider kam es nie dazu. Statt nach Manila musste ich in den Reichsarbeitsdienst (RAD) für ein halbes Jahr. Wir kamen in eine eingezäunte Baracke, in der vorher Männer untergebracht waren. Viel ungewohnte Arbeit hatten wir zu tun, vorwiegend beim Bauern auf den Feldern. Im Lager ging es streng Militärisch zu. Wir zählten die Tage bis zu unserer Entlassung. Dann kam ein schwerer Schock für uns alle! Die Dienstzeit wurde um ein weiteres halbes Jahr verlängert. Wir mussten in den Kriegshilfsdienst. Ich wurde in eine unterirdische Munitionsfabrik geschickt, konnte aber auf Grund in der Schule gelernter Kenntnisse in Steno (Kurzschrift) und Schreibmaschine in der Zahlmeisterei über der Erde arbeiten. Wir waren streng kaserniert mit Wachposten vor den Toren. Meine 3½ Jahre jüngere Schwester musste zur Flack Abwehr mit langem Soldatenmantel und Stahlhelm in den Schützengraben.

1942-1944 machte ich in München meine Ausbildung zur Krankengymnastin. Trotz vieler im Luftschutzkeller verbrachten Nächte habe ich mein Examen geschafft. Mit guten Freunden zusammen hatten wir auch oft viel Spaß bei gemeinsamen Unternehmungen, schließlich waren wir doch alle noch so jung.

Dann lernte ich einen Fronturlauber kennen, der mir als Norddeutsche seine Heimat zeigen wollte. Ich hatte noch nie die Berge kennen gelernt. Wir waren mit Fahrrädern unterwegs und das auch auf der Brennerstraße, was man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Wir überquerten Wildbäche und erlebten viel Abenteuerliches. Es war sehr schön! Kurz nach diesem Heimaturlaub ist dieser Soldat dann in Italien gefallen.

Ich hatte das große Glück, dass ich nach meiner Ausbildung gleich eine Anstellung an der Universitätsklinik in Jena bekam. Dort war ich dann von 1944 bis 1948. In Jena erlebte ich das Kriegsende und die ersten schlimmen Nachkriegsjahre. Da ging es oft um das einfache Überleben. Hunger und Kälte prägten diese Zeit. Auch in Jena gab es Bombenangriffe. Im Keller der Orthopädischen Klinik war ein großer Turnsaal, wo die Bombenopfer auf den Fußboden gelegt wurden, aufgrund mangelnder Betten.

Ich wurde einmal mit noch anderen im Luftschutzkeller der Klinik verschüttet. Durch das Einschlagen einer Mauer wurden wir aber wieder befreit. Danach erhielt ich ein Problem mit der Schilddrüse, dass sich als Platzangst auswirkte. Ich mochte nicht in geschlossenen Räumen sein, wenn sie keinen Fluchtweg hatten. So lief ich im höchsten Gebäude zu Fuß die Treppe hoch, weil ich nicht im Lift fahren wollte. Jahrzehnte bestieg ich auch kein Flugzeug. Dann aber überwand ich mich und sagte mir: „Stell dich nicht so an, du kannst es genau so gut wie die Anderen auch.“

Meine Kinder hatten mir zum 70. Geburtstag eine Flugreise nach Florida und Salt Lake City geschenkt. Ich habe es geschafft! In Salt Lake City wohnte ich bei einer Mitglieder Familie ganz in der Nähe von Präsident Packer.

Nun wieder zurück nach Jena. Nach der Kapitulation kamen zuerst die Amerikaner nach Thüringen und danach die Russen. Ich wohnte mit einer Studentin zusammen. Diese hatte einen Fotoapparat, den ein Amerikaner gern haben wollte. Dafür gab er ihr aus Heeresbeständen eine große Dose Würstchen. Wir stürzten uns auf diese Würstchen und verschlangen sie, bis uns schlecht wurde. Dann mussten wir alle übrigen wegwerfen, weil es Juli war und wir natürlich keinen Kühlschrank hatten.

Wer Zigaretten hatte, tauschte diese bei den Bauern gegen etwas Essbares ein. Wir hatten keinerlei Tauschobjekte, wir haben uns Rüben aus Feldern gezogen, die Erde etwas abgewischt und dann hinein gebissen. Nachts sind wir aus dem Fenster geklettert und haben uns Äpfel und Birnen von den Chausseebäumen zum Essen geholt und auf dem Güterbahnhof haben wir Kohlen „organisiert“ um etwas heizen zu können. Aus fast nichts haben wir immer wieder etwas kochen können.

Da wir nur „blaue“ Milch erhielten (stark entrahmte Milch) und uns auch Pudding kochten, so brannte diese Milch natürlich immer an. Das Angebrannte wurde dann vom Topfboden abgekratzt und unser Pudding damit verziert. Sehr oft gab es nur Kartoffeln mit Salz. Meine Eltern schickten mir manchen Winter aus Mecklenburg Kartoffeln und Äpfel aus ihrem Garten. Die Kartoffeln waren süß und die Äpfel matschig, weil sie gefroren waren. Aber der Magen wurde damit gefüllt.

Noch etwas zu der Zeit des Hungers. Ich hatte einen Onkel, der Studienrat an einer Schule gewesen war. Er war in jeder Beziehung ein sehr korrekter Mann, hatte sich aber total verändert. Er ging über die Dörfer und wo Biertische waren, trank er die halb geleerten Gläser aus. Nachts schlief er in Chausseegräben, er bestellte Ladungen mit Holz und dergleichen mehr. Für seine Frau war es eine schlimme Zeit. Dann gab er öffentlich seine politischen Meinungen bekannt, so dass man ihn zu seinem eigenen Schutz in eine Nervenklinik bringen musste. Auch das sind Auswirkungen des Hungers. Dieser Onkel ist später wieder ganz „normal“ geworden, nachdem er wieder normale Nahrung zu essen bekam.

Auch die kalten Winter machten uns zu schaffen. Die Zuteilungen von Heizmaterial wie Kohle oder Torf waren erbärmlich. Ich hatte einmal 14° unter Null in meinem Zimmer. Doch war es für mich und meine Kolleginnen ein großes Glück, dass wir uns selbst in der Klinik baden und unsere Wäsche waschen konnten. Die Abende verbrachten wir dann in der Volkshochschule, denn dort war geheizt. So belegten wir für jeden Abend Kurse: Astronomie, Astrologie, Graphologie, Künstlerischen Laientanz und Stepptanz – Steppeisen für die Schuhe gab es allerdings nicht. Den Grundschritt aber kann ich heute noch.

Ich wohnte zeitweise in einem Stadtteil jenseits der Saale, musste also über eine Brücke. Um den Feind aufzuhalten, hatte das Militär einige Brücken gesprengt, so dass man einen großen Umweg machen musste. Im Winter ging man über das Eis. Dabei bin ich einmal eingebrochen und ein Russe hat mich wieder raus gezogen.

Viele Verwundete kamen in unsere Klinik. Da haben wir viel Elend erlebt. Wir hatten diese Patienten meistens nur kurz für die Behandlung, da sie dann in andere Einrichtungen verlegt wurden. An einige erinnere ich mich noch. So war da ein großer, stämmiger Mann, der nach einem Kopfschuss immer Krämpfe bekam. Während der Behandlung bekam er so einen Anfall und riss mich mit zu Boden, sodass ich unter ihm zu liegen kam und mich nicht rühren konnte.

Dann hatten wir einen Pianisten, der nach einer Oberarmverletzung seine Hand nicht mehr heben konnte. Die Männer hatten ein Klavier in den Behandlungsraum gestellt und eine Vorrichtung konstruiert, die seine Hand hoch hob und er wieder spielen konnte.

Einem Verwundeten, der 18 Jahre alt war, hatte man ein Bein bis ganz oben abnehmen müssen, sodass er kaum einen Stumpf mehr hatte. In solchen Fällen brauchte man als Prothese einen Beckenkorb. Ich wurde ihm zu seiner Behandlung ins Haus geschickt. Dort bat er mich so inständig darum, ihm den Beweis zu geben, dass er überhaupt noch ein richtiger Mann sei und ich habe ihm seine Bitte erfüllt.

Aus Thüringen kam eine junge Frau zu uns in die Klinik. Sie war Anfang 20. Ihre Eltern hatten eine große Gastwirtschaft in einem Dorf mit einem großen Saal zum Feiern. Die Amerikaner hatten beim Einzug dieses Haus sofort beschlagnahmt und die Insassen mussten woanders unter kommen. Der Mann der jungen Frau war als Arzt im Feld. Einmal am Tag durfte sie in ihr Elternhaus kommen, um die Hühner zu füttern. Es war der Befehl ergangen, dass alle Schusswaffen im Dorf abzugeben sind. So kam ihr eines Morgens ein junger amerikanischer Soldat mit einer Großen Holzkiste im Arm entgegen, die gefüllt war mit allen im Dorf gefundenen Waffen und sagte zum Spaß zu ihr: „Alles hier bei Dir gefunden!“ Unter den Waffen war auch eine kleine, silberne Damenpistole, die die beiden sich dann ansahen. Aus Spaß zielte er auf sie und es löste sich ein Schuss der sie in die Brust traf. Sie fiel zu Boden und der junge Amerikaner warf die Kiste weg und lief im Schock davon. Die junge Frau war bei vollem Bewusstsein und von Stund an querschnittsgelähmt. Sie wurde auf einem Militärwagen über die holperigen Dorfstraßen ins nächste Lazarett gefahren, wo man die Kugel, die im Wirbelkanal steckte, heraus operierte. Danach kam sie zu uns in die Klinik. Sie wurde einige male operiert, blieb aber gelähmt.

Als dann ihr Mann aus Gefangenschaft entlassen wurde, fand er seine junge Frau so vor. Er arbeitete dann in seiner eigenen Praxis als Arzt und sie half ihm bei seinen Schreibarbeiten. Bald darauf starb er plötzlich an einem Herzleiden. Sie hat gesundheitlich noch viel Schweres durchmachen müssen, war unendlich tapfer, eine immer auf Gott vertrauende Frau und wurde über 80 Jahre alt.

Die Schuster reparierten Schuhe nur dann, wenn man ihnen Zigaretten oder etwas zu essen brachte. Ich hatte beides nicht. Manchmal gingen wir barfuss, um unsere Schuhsohlen zu schonen. Ich hatte Gelegenheit, ein paar holländische große Holzkloben zu erstehen, in die ich mit meinen kaputten Schuhen hineinpasste. Wenn Russen hinter mir waren, musste ich sie aber ausziehen, denn laufen konnte man damit nicht.

Nach Kriegsende gab es keinerlei Kontakte mehr mit den Lieben daheim. Man hörte von schlimmen Sachen, die beim Einzug der Russen passiert sind. So machten meine Freundin und ich uns auf die abenteuerliche Reise in den Norden. Dazu brauchten wir vier Tage. Meine Freundin musste noch weiter, denn sie kam aus Pilau, an der Frischen Nehrung im Nordosten. Fahrpläne gab es nicht. Wenn ein Zug kam, stürzten die Menschen sich darauf, wo auch viele Soldaten dabei waren. Die Züge waren restlos überfüllt. Abteile und Gänge voll von Menschen und Gepäck. Man konnte im Stehen schlafen, denn umfallen konnte man nicht mehr, aber man hatte ja auch menschliche Bedürfnisse. Die Männer hatten es einfach, die hielten einfach aus dem Fenster. Wir Frauen wurden über die Köpfe weiter gereicht bis zum WC. Das war aber auch gefüllt mit Menschen und Gepäck. Das alles war einem ganz egal. Nach der Erleichterung ging es dann über die Köpfe wieder zurück auf den vorherigen Stehplatz.

In Berlin mussten wir dann mit einem anderen Zug weiter fahren. Der war noch voller. Die Menschen hingen draußen an den Waggons, standen auf den Puffern oder saßen auf dem Dach. Dort fanden auch wir noch einen Platz. Die Dächer waren rund und glitschig, denn es regnete. Wenn eine Brücke kam, mussten wir uns hinlegen. Die Lokomotive stieß Funken aus, so dass unsere Kleidung voller Brandlöcher war.

Wie die Zustände beim Russeneinmarsch waren, ist sicher allgemein bekannt, darüber will ich nichts schreiben. Meine Eltern mussten innerhalb einer halben Stunde das Haus verlassen haben, die russische Kommandantur hatte sich dann dort einquartiert. Ganze Familien hatten sich während des Einmarsches das Leben genommen. Einer meiner Lehrer hatte seine Frau und seine Tochter erschossen. Für sich und seinen Sohn hatte er keine Kraft mehr.

Nach Abzug der Besatzungstruppen konnten wir wieder in unser Haus, das in einem nicht zu beschreibenden Zustand war. So lag die Kellertreppe voll blutigem Verbandszeug, Möbel waren zerstört oder abtransportiert. Unser Klavier fanden wir auf einer Wiese wieder. Alle die etwas mit den Nazis zu tun gehabt hatten, wurden zu Strafarbeiten herangezogen. Meine Mutter, die in der Frauenschaft gewesen war, musste zum Beispiel morgens um sieben zum Straßen fegen antreten. Sie war im ersten Weltkrieg Diakones Schwester in einem Lazarett gewesen und hatte sich dort eine schwere Diphtherie mit Herzschaden zugezogen. Der Arzt, der ihr ein Attest dazu geschrieben hatte, wurde später noch schwer misshandelt, weil er auch Parteigenosse gewesen war.

Mein Bruder war eineinhalb Jahre älter als ich. Er wollte in die Autobranche und begann dort auch schon vor dem Krieg seine Lehre. Kurz darauf wurde er aber zu Kriegsbeginn eingezogen und hatte so den ganzen Krieg mitgemacht. Er wurde verwundet, bekam Malaria und eine schwere Diphtherie mit Lähmungserscheinungen. Zuletzt lag er in Frankreich in einem Lazarett. Nach Kriegsende hatte er, wie so viele andere auch, keinerlei Ausbildung. Aber er hatte künstlerische Neigungen und landete in der Unterhaltungsbranche. Das förderten die Amerikaner sehr und sie bezahlten ihn mit Zigaretten. Obwohl er selber Raucher geworden war, sparte er seine Verdienste eisern und kaufte sich davon für seine Auftritte einen weißen Frack.

Wie ich zur Kirche kam. Zuerst waren die Zeugen Jehovas zu mir gekommen. Die hatten mich dazu gebracht, wieder in der Bibel zu lesen. Ich hatte mich aber wieder von ihnen getrennt. Dann kamen 1974 das erste Mal zwei Missionare zu mir. Es hat dann noch zwei Jahre gedauert, bis ich soweit war, mich taufen zu lassen. Dann habe ich mir gesagt: „Wenn du dich der Kirche anschließt, dann aber auch hundert prozentig.“ — und so ist es auch gekommen. Von meiner Familie ist keiner dabei. Sie haben aber von Anfang an meine Entscheidung toleriert, auch meine Verwandten und Freunde. Ich hatte nie Schwierigkeiten.

Ich weiß, dass andere Geschwister es nicht so gut und problemlos haben. Ich versuch immer meinen Lieben und anderen Menschen ein gutes Vorbild zu sein. Da es mir mit meinen 86 Jahren noch so gut geht, kann ich mich noch überall nützlich machen und habe noch einen vollen Terminkalender. Jeden Tag bin ich dem himmlischen Vater dankbar dafür, dass ich noch so viel schaffen kann und dass er mich noch braucht. Ich bin ein zufriedener und glücklicher Mensch. In meinen Patriarchalischen Segen steht, dass mein Mann und meine Kinder einmal das Evangelium annehmen werden.