Breslau, Schlesien

Mein Name ist Gisela Renate Edeltraut Langner, geborene Kühnel. Mein Vater heißt Wilhelm Friedrich Kühnel und meine Mutter heißt Gertrud Lidwina Martha geborene Karbstein. Wir sind alle in Breslau geboren. Ich bin am 22. März 1938 geboren. Durch meine Eltern bin ich in die Kirche gekommen. Sie sind beide Mitglieder.

Als ich ungefähr vier oder fünf Jahre alt war, sind wir nach Mariahöfchen gezogen, das ist eine kleine Vorstadt von Breslau. Dort haben wir nur eine kurze Zeit gelebt, weil mein Vater bei dem Breslauer Ausbesserungswerk der Reichsbahn gearbeitet hat. Diese Reichsbahn wurde nach Polen verlegt, weil der Krieg weiter fortschritt und die Front immer näher rückte und man damit verhindern wollte, dass das Werk zerstört würde. In Ostrowo, eine Stadt in Polen, bin ich mit sechs Jahren eingeschult worden.

Durch den Krieg wurden viele „Schwarzmeer-Deutsche“ aus Russland ausgetrieben. Und diese Menschen wurden in Schulen untergebracht. So war für mich die Schule beendet, bevor mein erstes Schuljahr vorüber war. Ich konnte noch nicht einmal das ganze ABC noch alle Zahlen, und da war die Schulzeit für mich zu Ende. Im Januar 1945, kam mein Vater an einem Spätnachmittag von dem Werk herüber, es war nur fünf Minuten von uns entfernt, und er sagte zu meiner Mutter: „Pack schnell das Wichtigste zusammen. Alle deutschen Familien werden evakuiert. Wir müssen heute Nachmittag noch mit einem Zug den Ort verlassen. Wir Männer müssen zurückbleiben, um das Werk zu verteidigen“! Also packte meine Mutter das Notwendigste zusammen. Sie hatte gerade erst große Wäsche gehabt. Und da man früher nicht soviel Wäsche besaß wie heute, und sie nur einmal wöchentlich wechselte, hing die Wäsche steif gefroren auf dem Boden zum Trocknen.

Mit einem Güterzug verließen wir an einem furchtbar kalten Tag Polen. Gegen die Kälte gab es einen „Kanonenofen“, um die Kälte abzuwehren. In Liegnitz auf dem Rangierbahnhof machte der Zug Halt, und wir mussten alle aussteigen. Dann wurden wir in eine riesengroße Kirche geführt. Dort gab es Strohschüttungen in langen Reihen, wo wir alle zusammen wie die Heringe Platz fanden. Wir hatten es gut. Wir blieben nur eine Nacht dort, und von dort kamen wir dann in ein Krankenhaus mit meinen Geschwistern. Mein Vater hatte noch Kinder aus der ersten Ehe. Nur die jüngste Tochter war noch bei uns, die Christa. Die Annelies war in Breslau. Sie hatte dort ihre Arbeit. Und der Heinz, der fünfzehn Jahre älter als ich war, der war bei der Kriegsmarine. Wir waren nur fünf Personen, mit meiner Mutter, als wir in Liegnitz ankamen. Wir kamen in ein Krankenhaus. Der Arzt, der das Krankenhaus leitete, war ein Jude. Noch bevor der Krieg zu Ende war, ist er erschossen worden. Dann mussten wir das Krankenhaus wieder verlassen.

Wir konnten aber nicht mit dem Zug weiterfahren. Es gab nur wenig Züge, die fuhren. So standen wir in dieser kalten Nacht in Liegnitz auf dem Bahnhof und warteten. Aber es kam kein Zug. Zum Glück wohnte in Liegnitz die Schwester meiner Großmutter mütterlicherseits. Sie hieß Lidwina. Und zu dieser Tante gingen wir in der Nacht, um dort zu übernachten. Wir trafen dort auch meine Oma und zwei Schwestern von meiner Mutter mit ihren Kindern. Die jüngste Schwester war nicht verheiratet, aber die älteste, und die hatte zwei Mädchen. Wir haben in der Küche ein paar Decken auf dem Fußboden ausgebreitet und schliefen auf dem Fußboden. Am nächsten Morgen mussten wir wieder auf den Bahnhof, um auf einen Zug zu warten, der uns weiterbringen konnte. Es gab dort eine riesige Menschenmenge, die alle auf einen Zug warteten. Das Gedränge war so groß, dass ich Angst hatte, ob wir überhaupt in den Zug steigen könnten. Aber wir schafften es doch. Im Zug war es eiskalt, weil nicht mehr geheizt werden konnte. Meinen Schwestern und mir erfroren die Hände und die Füße.

Wir kamen in Karlsbad in der Tschechei an. Und übernachteten in einer Notunterkunft auf Strohsäcken. Es ging dann weiter mit dem Zug und kamen nach Bäringen im Erzgebirge. Dort in Bäringen wurde unsere Familie aufgeteilt, weil es keine Möglichkeit gab, uns zusammen unterzubringen. Meine älteste Schwester kam in eine Lehrerfamilie, meine jüngste Schwester, die Sigrid, wurde in einer anderen Familie untergebracht mit meiner Schwester Christa zusammen, und meine Mutti und ich kamen zu einem unverheirateten Fräulein. Dort waren wir eine ganze Zeit. Dort ging ich auch in die Schule.

Der Winter war sehr hart, und alles war tief verschneit. Und eines Tages klopfte es an die Tür, und mein Vater stand davor. Er sagte: „Ich hole euch ab. Alle Eisenbahnerfamilien sind in Kirchmöser. Und so kamen wir nach Kirchmöser. Hier war schon der Frühling eingezogen. Der Schnee war geschmolzen, es war herrlich. Auch hier wurden wir wieder in einer Kirche untergebracht.

Es gab Doppelstockbetten, und dazwischen standen Tische, wo man als Familie zusammen sitzen konnte. Es gab dort sehr, sehr viele Menschen. Das Essen war knapp. Mein Vater versuchte verschiedene Blattarten, um herauszufinden, welche Blattsorten man essen konnte. Und die zarten jungen Blätter der Linde waren essbar. Er hat eine große Schüssen voll mit Blättern gewaschen, und hat einen Salat daraus bereitet. Und er schmeckte uns vorzüglich.

In Kirchmöser bin ich sieben Jahre alt geworden. Eines Tages, als ich im Sand spielte und kurz aufblickte, sah ich meine Schwester kommen, die Annelies, die in Breslau als Industrieschneiderin tätig war. Ich freute mich sehr, sie zu sehen, und sie erzählte uns dann, dass sie uns von überall nachgereist war. Das war nur möglich, weil man unseren Fluchtweg überall aufgeschrieben hatte. Und so kam sie auch nach Kirchmöser. In Kirchmöser haben wir dann das Ende des Krieges erlebt. Zuvor mussten wir aber, von einer kleinen Anhöhe aus, sehen, wie Potsdam niederbrennte. Aber sonst wurden wir nicht weiter vom Krieg betroffen, außer ein paar Tieffliegern, die uns beschossen haben. Wir Kinder haben das Ganze als nicht so schrecklich empfunden. Für uns war es mehr spannend.

Als dann die Russen einmarschierten, standen die Deutschen alle am Straßenrand und sahen zu, wie unsere Besieger einmarschierten. Allerdings kam dann auch die Angst, denn in den Nächten kamen die betrunkenen Sieger, brachen in die Häuser ein und vergewaltigten die Frauen. Ich wusste damals nicht, was das bedeutete, aber ganz schreckliche Angst hatte ich auch. Immer, wenn der Lärm an der Kirche begann, dann stieg ich ganz schnell in das obere Bett zu meiner Schwester Annelies.

Wir waren nicht sehr lange in Kirchmöser. Mein Vater sagte, dass wir unbedingt wieder nach Breslau zurück müssten. „Wir müssen sehen, wie es den Geschwistern dort geht“, sagte mein Vater. Wir nahmen an, dass mein Vater als Gemeindepräsident von Breslau noch nicht entlassen war und dass es ihm um die Kirche ging. So entschlossen sich meine Eltern, wieder nach Breslau zurück zu kehren.

Ein Arbeitskollege und seine Familie kehrten auch mit uns zurück. Zuerst gingen wir zu Fuß. Unsere Habe befand sich auf einem kleinen Handkarren, den mein Vater selbst gebaut hatte. Als wir zu Fuß unterwegs waren, stellte meine Mutti zwei Ziegelsteine zusammen, und auf die stellte sie einen Topf.
Wir suchten dann Melde und gruben ein paar Kartoffeln aus, die wir in einer Furche entdeckten. Und so kochte sie uns eine kleine Suppe.

In Brandenburg konnten wir dann einen Zug besteigen. Das „Reisen“ war nicht mehr so wie früher. Wir wurden in einem Kohlenwagen untergebracht. Die Züge fuhren nur tagsüber, in der Nacht wurde angehalten. Als wir mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wurden, stellten wir fest, dass Polen in den Zug gestiegen waren, um uns Deutschen noch die letzten paar Habseligkeiten wegzunehmen. Sie hatten schon sehr viele Koffer aus dem Zug geworfen, als mein Vater meinte, dass man dieses nicht so hinnehmen müsse. Und er hielt den letzten Koffer fest. Aber der Pole zog ein Messer und stach ihn in den Arm, aber den Koffer hatte er ihm gelassen. Und dann verschwanden sie, wie sie gekommen waren. Nun hatten wir Kinder nichts mehr zum Anziehen. Der Koffer, der gerettet worden war, gehörte meiner ältesten Schwester, der Annelies.

Unterwegs hielt der Zug einmal auf einem Güterbahnhof an. Hier erfuhren wir, dass es nicht weit vom Zug entfernt „Kartoffelwalzmehl“ geben würde. Da es sich um ein Nahrungsmittel handelte, ging meine Mutter an den Ort, um etwas zu kaufen. Und als sie zurückkam fuhr der Zug gerade los. Wir hatten große Angst, dass sie nicht mitkommen würde. Später mussten wir in einen Pferdewagen umsteigen. Auf Stroh und Pferdemist gebettet erreichten wir Breslau. Als wir durch Breslau fuhren, um die älteste Schwester meines Vaters, Klara Ender zu finden, von der mein Vater wusste, dass sie noch lebte, erkannte uns ein Bruder aus der Breslauer Gemeinde. Er rief: „Wilhelm, Wilhelm, bei uns hier unten ist noch eine Wohnung frei, in der ihr wohnen könnt.“ Aber wir gingen erst einmal weiter zu unserer Tante Klara. Wir waren inzwischen sieben Personen, und sie hatte nur eine ganz kleine Wohnung.

Und so entschlossen wir uns, in die Wohnung zu ziehen, die der Bruder Karl Rippin uns angeboten hatte, wo er der Hausmeister war. In dieser Wohnung gab es keine Fensterscheiben mehr. Sie waren bei den Angriffen entzwei gegangen. Grosse Bretter wurden in die Doppelfenster gestellt, so dass in der Nacht niemand einsteigen konnte. Mein Vater ging dann in eine Filmfabrik und nahm die beschichteten Filme mit, um sie zu Hause mit Seifenlauge zu waschen, bis sie klar und hell wurden. Diese Filme wurden dann geflochten und in die Fensterrahmen gespannt, so dass man tagsüber etwas Licht hatte in der Wohnung. Wir spielten im Schmutz und in den Trümmern und holten uns dabei die Krätze. Das war nicht schön. Wir wurden dann eine Woche mit einer Salbe behandelt und anschließend gebadet. Unsere Sachen wurden hoch erhitzt, so dass sie keimfrei wurden, und so sind wir diese Krankheit wieder losgeworden.

Die Erwachsenen mussten sich morgens an den Straßenrand stellten, wo man sie auf einen Wagen lud, um sie an einen Ort zu bringen, wo ihre Arbeitskraft gerade benötigt wurde. Sie bekamen kein Geld für ihre Arbeit. Es war Zwangsarbeit, die von den Polen angeordnet war. Und obwohl es untersagt war, stiegen die Polen in die Wohnungen der Deutschen, um zu rauben und zu plündern. Die Deutschen wehrten sich, in dem sie Lärm mit den Töpfen machten, um die Miliz zu alarmieren, damit diese die Polen wieder vertreiben würden. Die Polen ahmten dieses nach. Und dadurch wurde die Miliz sehr oft umsonst gerufen und kam letzten Endes nicht mehr, wenn mit den Töpfen Lärm gemacht wurde. Und so verloren wir diesen Schutz vor den Polen. Die Polen waren sehr dreist. Sie hatten Waffen und kamen tagsüber und bedrohten uns damit. Ein Pole setzte meinem Vater die Pistole auf die Brust und sagte, dass er die Wohnung räumen solle. Wir mussten das tun. Und das, was ihnen gefiel, haben sie aus dem Fenster geworfen, wo ein Wagen stand, auf den alles geladen wurde. Und danach konnten wir wieder in die Wohnung

Mein Vater war verantwortlich für die Gemeinde „Breslau Zentrum“, das einzige Gemeindeheim, welches noch stand. Alle anderen Gemeinderäume waren abgebrannt. Mein Vater nahm den Bruder Rippin, und sie suchten das alte Gemeindehaus in der Sternstraße auf. Vorher hatte man die Versammlungen im Heim des Bruder Debschütz abgehalten. Im Gemeindeheim in der Sternstraße befand sich ein großes Loch, welches mein Vater und der Bruder Rippin reparierten. Sie bereiteten auch alles Weitere so vor, dass dort wieder die Versammlungen stattfinden konnten. Das war so um die Zeit 1945/1946.

Von uns allen wurde die politische Vergangenheit überprüft. Wir hatten alle keiner Partei angehört. Aber meine Mutter war in einer Frauenvereinigung, in der sie Handarbeiten für die Soldaten erledigte, z.B. Strümpfe stopfen. Das war wohl auch der Grund, warum man uns aus Breslau Zwangs evakuieren wollte. Da mein Vater die Verantwortung für die Gemeinde hatte, war die Möglichkeit gegeben, dass wir dort für einige Tage und Nächte versteckt leben konnten. Dann kehrten wir zurück in unsere Wohnung, und es hat sich dann niemand mehr gemeldet.

Dann klopfte es wieder an unserer Tür. Und eine Stimme, die nicht deutsch klang, sagte: „Wilhelm Kühnel“! Da mein Vater sich diesen Morgen nicht an den Straßenrand gestellt hatte, um zur Arbeit abgeholt zu werden, fürchtete er, dass es ein Pole sein könnte, denn er sprach mit einem Akzent. Er schickte diesen Mann nach oben zu Bruder Rippin und sagte, dass er der Hausmeister sei. Bruder Rippin kam dann und sagte: „Bruder Kühnel, machen Sie auf. Es ist Bruder Benson aus Amerika“! Bruder Rippin und Bruder Benson betraten dann unsere Wohnung. Bruder Benson wurde von einem großen, jungen Mann in Uniform begleitet.

Bruder Benson bat darum, dass alle Mitglieder informiert werden sollten, dass am Nachmittag eine Sonderversammlung stattfinden sollte in unserem Gemeindeheim. Meiner Mutter gab er etwas Geld, damit sie etwas zum Essen kaufen konnte; denn wir lebten sehr bescheiden. Und dazu gehörte, dass es manchmal auch etwas aus Vogelfutter Zubereitetes gab. Wir Kinder gingen einkaufen. Und es gab Kartoffeln und auch ein Stück Fleisch. Und dann saßen wir alle zusammen mit dem Bruder Benson und den Geschwistern Rippin am Tisch in Breslau. Und nachmittags war dann die Versammlung mit Bruder Benson. Bruder Benson gab uns den Rat, Breslau nicht zu verlassen. Denn es sei zurzeit leichter, die Kirche hier am Ort zu halten, als wieder eine neue Gemeinde zu gründen und aufzubauen.

Aber die meisten Geschwister wollten hinaus aus Breslau, weil die Behandlung sehr schlecht war. Meine Schwester Annelies z.B. musste ein Schiff mit einem Eimer leer schöpfen und stand dabei die ganze Zeit bis zur Brust in kaltem Wasser. Und das war nicht das Schlimmste. Wir hörten noch viel Schlimmeres von anderen Leuten. Und alle wollten nur fort aus Breslau. Wir bekamen dann die schriftliche Genehmigung, dass wir Breslau verlassen dürfen. Bruder Benson hat auch für uns erwirkt, dass wir unter amerikanischem Schutz standen. Es hat nicht sehr viel genützt. Aber er hat alles unternommen, damit wir es leichter hatten.

Viele meiner Verwandten lebten in Breslau, und wir haben viel Leid gesehen und miterlebt. Große Teile von Breslau waren zerbombt. In der Gegend, in der wir lebten, waren nur einige Häuser kaputt. Eine große Hilfe war es, dass in unserer Nähe eine große Bäckerei war. Meine Schwestern mussten dann die schmutzige Wäsche der Russen, die die Bäckerei betrieben, holen und waschen. Und weil sie sich so große Mühe gaben und die Wäsche sauber war, bekamen sie dann und wann ein Brot geschenkt. Und das hat uns sehr geholfen. Und weil meine Schwester Annelies so jung war, wollten die Russen sich gerne mit ihr unterhalten. Sie versprachen ihr dann dafür ein Brot extra. Und so hatten wir Brot zum Essen. Und wir waren sehr dankbar.

Und dann kam der Tag unseres Wegzugs von Breslau. Mein Vater hatte wieder Karren gebaut, auf die wir unsere Sachen gepackt hatten. Am Freiburger Bahnhof in Breslau mussten wir uns an eine lange Schlange auf der Straße anstellen, um kontrolliert zu werden. Und das dauerte ziemlich lange. Meine Mutter hatte ihre Tasche über die Deichsel eines der Karren gehängt und sagte uns, dass wir auf die Tasche aufpassen sollten. Und für einen Augenblick müssen wir nicht aufgepasst haben, denn die Tasche war plötzlich verschwunden. In der Tasche waren unsere Geburtsurkunden und noch etwas Geld. Aber ein Bruder aus Breslau, der eine Fleischerei besaß, hatte uns einen Teil seines Geldes anvertraut. Und das war auch in der Tasche. Der Bruder Ribben hatte uns eine riesengroße, sehr schöne Bilderbibel mitgegeben. Wir hatten sie oben auf das ganze Gepäck gelegt. Und als wir kontrolliert wurden, da hat man uns nur die Bibel weggenommen. Die Polen dachten wohl, dass wir zwischen den Seiten Geld versteckt hätten.

Wir fuhren in Güterwagen. Das Gepäck wurde rechts und links abgestellt, und oben auf dem Gepäck ließen wir uns nieder. Dort schliefen wir auch. Am nächsten Tag hielt der Zug auf offener Strecke. Es muss in der Nähe von Forst gewesen sein. Und wir standen dort etwa zwölf Tage, auf offener Strecke. In der Nähe gab es einen Bauernhof. Und von der Pumpe dort konnten wir uns frisches Wasser holen. Aber das war auch alles. Aber in der Nähe war ein Wald, und dort wuchsen wunderschöne große Pilze. Die wurden zu unserem Hauptnahrungsmittel. Eines Tages kam dann die Lokomotive zurück, die man abgekoppelt hatte, und dann ging es endlich weiter. Meine beiden großen Schwestern, die beim Pilze suchen gewesen waren, versäumten den Zug und mussten auf den Schienen folgen. Aber der Zug fuhr nicht sehr weit.

In Teplitz hielt der Zug an, und wir wurden aufgefordert, unseren Waggon zu verlassen. Wir mussten dann eine Bestäubung gegen Läuse und anderes Ungeziefer über uns ergehen lassen. Als wir zu unserem Gepäck zurückkehrten, fanden wir auch dieses dick bestäubt. Dann ging es weiter nach Niederoderwitz. Dort gab es eine große Fabrik, in der wir einquartiert wurden. Wir schliefen in Doppelstockbetten und wurden notdürftig mit Essen versorgt. Dort wurden wir auch wieder entlaust. Wir blieben dort zehn Tage in Quarantäne. Dann ging es weiter nach Bischofswerda. An einem wunderschönen Septembertag kamen wir dort an. Wir wurden auf den Markt gebracht, um bei Leuten Obdach zu finden. Und niemand wollte uns haben. Da es schon von vornherein klar war, dass nicht alle hier unterkommen würden, kamen mein Vater und einige andere Geschwister nach Rammenau. Dort haben wir auf einem Bauernhof genächtigt, in einem Raum, den ein Bauer mit Stroh ausgelegt hatte. Wir waren dort nicht allein, mehrere Familien fanden dort Unterkunft. Dann fand man eine Wohnung für uns. Diese Wohnung befand sich auf einem Rittergut in Rammenau. Und dort wurde ich wieder eingeschult. Ich kam in die zweite Klasse. Das war 1946. Hier verbrachten wir dann auch das Weihnachtsfest. Die Kinder wurden am ersten Weihnachtstag zu Bauern vermittelt, um dort beköstigt zu werden. Ich kam zu einem alten Ehepaar, das einen erwachsenen Sohn hatte, der im Begriff war zu heiraten. Und da ich sehr schüchtern war, war es für mich keine Freude, dort zu sein. Ich habe mich weder getraut zu fragen, wo die Toilette ist noch habe ich es gewagt, mir selber etwas auf den Teller zu tun. Nach dem Essen war ich froh, dass ich wieder heimgehen konnte. Das Neue Jahr haben wir zusammen mit Geschwister in gemeinsamer Runde begrüßt.

Aber in dieser Wohnung konnten wir nicht bleiben, weil in Folge der Umstrukturierung vieles verändert wurde. Für unsere siebenköpfige Familie wurden uns zwei Zimmer zugewiesen. Meiner Mutter ging es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gut. Die Geburten hatten Schäden hinterlassen, die man zu der Zeit nur operativ hätte beseitigen können. Und vor Operationen bestand eine große Angst. Als wir dann endlich etwas zur Ruhe gekommen waren und meine Mutter einen Arzt aufsuchte, stellte man fest, das sie Unterleibskrebs hatte. Sie lag dann ein ganzes Jahr auf dem Krankenbett zu Hause. Und im März 1948 ist sie dann gestorben.

Meine eine Schwester Christa hatte in Bischofswerda in der Porzellanmanufaktur als Porzellanmalerin gearbeitet. Sie wurde von meinem Vater angewiesen zu Hause zu bleiben, um uns zu betreuen. So blieb sie bei uns. Damals wussten wir nicht, dass sie sich bei dieser Arbeit vergiftet hatte. Man arbeitete mit Bleifarben. Da ihr ihre Glieder nicht mehr gehorchten, kam sie in ein Krankenhaus, Da man dort aber auch nicht die Ursache der Krankheit herausfand, litte sie große Schmerzen. Da sie oft vor Schmerzen schrie, beschwerten sich die anderen Patienten, und daher wurde sie mit Geisteskranken zusammengelegt. Das war schrecklich für sie. Bis zum Hals war sie gelähmt. Sie konnte nicht einmal mehr alleine essen. Und als wir sie einmal besuchten, hatte man ihr Bett auf den Flur geschoben, damit wir sie sehen konnten. Wir hatten ihr etwas zum Essen mitgebracht. Sie bat uns, es ihr gleich zu geben, denn sonst würde es ihr weggenommen werden. Wir sahen auch, wie schrecklich man mit manchen Behinderten umging. Es war schrecklich, mitanzusehen. Meine Schwester wurde dann mit Bädern behandelt. Und man bemerkte, dass die Bäder wirksam waren. Aber einmal vergaß man sie in dem Badewasser. Und da sie sich nicht bewegen konnte, holte sie sich dadurch eine Lungenentzündung und verstarb. Dann kam meine andere Schwester Annelies, die in einem Krankenhaus arbeitete, zu uns nach Rammenau, um uns zu versorgen.

Zu Beginn in Rammenau waren wir in einem Zweig organisiert. Unsere Versammlungen fanden in dem Schulgebäude von Rammenau statt. Später sind wir sonntags immer nach Bischofswerda gelaufen. Meine Schwester Annelies, die damals etwa zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt war, hatte den Wunsch, sich etwas zum Anziehen zu kaufen, denn wir hatten ja alles verloren. Auch hatte sie sicher den Gedanken, sich einmal zu verheiraten, und daher hatte sie den Wunsch, dass mein Vater bald eine Frau finden möge, damit sie wieder ihrer Arbeit nachgehen könnte. Eine Schwester erklärte sich dann bereit, meinen Vater zu heiraten. Den Namen möchte ich nicht erwähnen, denn diese Ehe hat nicht lange gedauert. Es war eine schlimme Zeit, denn es gab kaum etwas zum Essen. Und diese Schwester war bis zu ihrem vierzigsten Lebensjahr unverheiratet geblieben. Sie war es also nicht gewohnt, dass sie ihren Willen auch manchmal unterordnen musste. Dann hatte sie noch einen unehelichen Sohn. Und all diese Umstände führten dazu, dass diese Ehe aufgegeben wurde. Außerdem waren die wohnlichen Verhältnisse sehr beengt. Und es dauerte sehr sehr lange, bis wir dann endlich eine andere Wohnung bekamen. Wir sind dann in die Karl Liebknecht Straße in ein Hinterhaus gezogen. Dort hatten wir zwei Zimmer und eine kleine Küche im Parterre.

Durch die Ehe, die mein Vater eingegangen ist, sind wir nach Bischofswerda gekommen. Und das war gut für uns. Dort konnten wir auch die Versammlungen besuchen, die in der Woche stattfanden. Mit zwölf Jahren besuchte ich schon die Frauenhilfsvereinigung und habe mich unter den Schwestern sehr wohl gefühlt. Mein Mann Wolfgang war damals Organist in der Gemeinde. Und er war mein Sonntagsschullehrer. Er war fünfzehn Jahre als und ich war erst elf Jahre alt, und er hatte es nicht leicht mit den Jungen und Mädchen. Aber dann arbeitete ich mit ihm zusammen in der GFV, als seine Ratgeberin, bis er auf Mission berufen wurde. Er gefiel mir damals schon sehr gut. Aber er hatte immer Abstand gewahrt. Und auch ich, wenn ich ihn sah, verschwand um die nächste Ecke, um ihm nicht zu begegnen, aus lauter Schüchternheit. Er ging dann auf Mission, und ich wurde zur Leiterin der Jungen Damen in der GFV berufen zusammen mit dem Bruder Günter Schulze.

Als ich achtzehn Jahre alt war, besuchte ich einmal meine Tante Friedel in Zwickau. Und als ich wiederkam, war der Wolfgang Langner schon von seiner Mission zurückgekehrt. Und er hat gar nicht lange gezögert und meinen Vater gefragt, ob er mit mir gehen darf. Er hat sich also die Erlaubnis von meinem Vater eingeholt.

Eigentlich wollten wir im Sommer heiraten. Aber da wir beide keinen Pfennig besaßen und ich das Kostgeld auch nicht abgeben wollte und es mit der Stiefmutter auch nicht so gut lief, haben wir uns entschlossen, schon im Januar zu heiraten. Wir brauchten das Geld, denn mein Mann war auf Mission gewesen und besaß nichts. Zu Beginn unserer Ehe arbeitete ich noch mit. Wir haben uns sehr Kinder gewünscht. Unser erstes Kind konnte ich nur bis zum sechsten Monat austragen. Das nächste Kind verlor ich auch, ebenfalls eine Fehlgeburt. Dann suchte ich einen Arzt auf. Dazu möchte ich sagen, dass ich als Industrieschneiderin in einem Betrieb mit einigen hundert Maschinen beschäftigt gewesen bin. Dieser Arzt meinte, dass das Vibrieren der Maschinen mir und dem Kind schaden würden, und das dieses Grund für die Fehlgeburten sei. Ich habe dann diese Arbeit aufgegeben. Und dann bekamen wir nach einem Jahr einen Sohn, unseren Bernd. Zusammen haben wir fünf lebende Kinder.

Wir fühlen uns sehr glücklich und vom Vater im Himmel sehr gesegnet.