Königsberg, Ostpreußen

mormon deutsch gudrun maria weberIch bin Gudrun Maria Weber, geborene Hellwig. Am 29. Juli 1934 wurde ich als viertes Kind meiner Eltern in Königsberg/Ostpreußen, Große Sandgasse 24 geboren. Meine 14 Jahre ältere Schwester lebt noch. Meine beiden Brüder sind verstorben, der eine im Alter von 11 Jahren an Hirnhautentzündung, der andere ist mit 20 Jahren als Soldat im 2. Weltkrieg gefallen. Ich konnte als Einzige den Eltern im Alter beistehen und bis zu ihrem Tod begleiten. Meine Mutter litt im Alter zunehmend an Schwerhörigkeit und brauchte daher oft Hilfe.

Meine Großmutter Wilhelmine Johanna Hack, geborene Brosat wurde 1905 in Königsberg Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, zugleich mit ihren zwei älteren Töchtern. Die dritte Tochter wurde etwas später getauft. Meine Mutter, Margarete Helene geborene Hack, die jüngste Tochter, wurde 1911 mit 9 Jahren, getauft. Sie war also als Kind und Jugendliche in der Kirche. Sie heiratete im Alter von 17 Jahren den Karl August Hellwig. Aber ihr Mann hatte nicht die positive Einstellung zur Kirche, und so wurde der Kontakt zur Kirche abgebrochen. Ihre ersten drei Kinder wurden jedoch von der Großmutter zur Sonntagschule mitgenommen.

Meine Tante Marie hatte von ihrer Mutter die genealogischen Unterlagen und den Auftrag bekommen, später die Totentaufen und Siegelungen für die Familie vollziehen zu lassen. Die genealogischen Aufzeichnungen gingen jedoch durch einen Luftangriff auf Königsberg verloren. Nach dem Krieg kamen wir in Schwerin mit Bruder Franz Meyer zusammen, der schon in Königsberg die Genealogie bearbeitete. Mit seiner Hilfe konnten wir die nötigen Daten wieder erstellen und die Tempelarbeit für die Großeltern und weitere Vorfahren beantragen.

Es war der 26. oder 27. Januar 1945, da kam mein Vater von seiner Arbeit und sagte, wir müssen die Stadt verlassen! Er hatte gesehen, dass die verwundeten Soldaten aus den Lazaretts abtransportiert wurden. Der Beschuss von der Front war bereits zu hören, zeitweise heulten die Sirenen und dann war wieder Entwarnung. Aber es gab keinen Aufruf zum Verlassen der Stadt. Mein Vater ging zu seinen Eltern und seiner Schwägerin und fragte, ob sie mit uns gehen wollten. Aber sie wollten es nicht. So entschloss sich mein Vater mit Frau und Kind und gemeinsam mit einem Arbeitskollegen und dessen Familie noch am gleichen Tag die Stadt zu verlassen. Es sollte mit der Eisenbahn nach Pilau fahren. Es war sehr kalt, 18-20 Grad minus. Der Zug war voller Flüchtlinge aus dem Osten. Die Fahrt ging nur stockend voran. Mal hielt der Zug auf freier Strecke, und dann fuhr er wieder. Plötzlich kam Militärpolizei, man nannte sie die Kettenhunde, in den Zug. Sie holten alle Männer, ob jung oder alt, die ein Gewehr tragen konnten aus dem Zug. Dabei waren auch mein Vater und sein Kollege. Diese Männer sollten die Festung Königsberg verteidigen.

Dann kamen wir ohne meinen Vater, wohl morgens, in Pilau an. Wir sind dann zum Hafen gegangen. Meine Mutter hatte einen Rucksack auf dem Rücken und zog einen Koffer aus Sperrholz, den mein Vater gebaut hatte, hinter sich her. Ich hatte meinen Schulranzen auf dem Rücken mit ein paar Sachen drin. Im Hafen von Pilau waren Menschen über Menschen zu sehen, ganze Trecks mit Tieren. Da lagen tote Tiere, halbe Kühe, aufgeplatzte Koffer, jede Menge Müll. Alles Sachen, die die Leute liegen ließen, weil sie sie nicht mehr tragen konnten. Dann standen die großen Schiffe, da und viele Menschen drängten, um darauf zu kommen. Es wurden Schiffskarten ausgegeben, aber wir bekamen keine. Es wurde Abend und wir standen immer noch draußen in der Kälte am Kay, hungrig und durchgefroren. Marinesoldaten haben uns dann in ihre kleinen Schiffe zur Nacht aufgenommen und uns etwas zu essen gegeben. Am Morgen des nächsten Tages mussten wir das Schiff wieder verlassen. Dabei verloren wir auch den Kontakt zu der Familie, mit der wir aus Königsberg geflohen waren, und trafen sie auch nicht mehr. So waren meine Mutti und ich alleine.

Dieser zweite Tag begann wieder damit, auf ein Schiff zur Weiterfahrt zu gelangen. Aber wir schafften es wieder nicht. Am späten Nachmittag waren wir am verzweifeln. Meine Mutter hat zum Vater im Himmel gebetet um Führung und Hilfe. Plötzlich sahen wir Leute auf ein kleines Schiff zulaufen, das etwas entfernt angelegt hatte. Wir sind dann einfach auch dorthin gelaufen und wurden auch an Bord genommen. Der Kapitän sagte, dass die Fahrt aber nur bis Gotenhafen (heute Gdynia) ginge und dass wir dann wieder das Schiff verlassen müssten. Es war allen egal, bloß weg von Pilau. Die meisten wurden natürlich seekrank, wie auch ich. Das gute Essen, das uns die Matrosen gaben, ging an die Fische. Das Schiff war ein Hochseeschlepper, hatte auf dem hinteren Teil dicke Ketten und ein offenes Heck. Bei dem starken Wellengang und der tiefen Temperatur war das Deck bald vereist. Man musste sehr aufpassen, dass man nicht ins Rutschen kam. In der Nacht gegen 2 Uhr müssen wir in Gotenhafen angekommen sein. Wir wurden ausgeladen. Die wenigen Leute von dem Schiff hatten sich ganz schnell auf den Weg gemacht. Wir sahen niemand mehr und standen wieder alleine da in einem fremden Hafen. Es schneite leise vom Himmel, es stümte – sagte man in Ostpreußen – und es lag dichter Schnee. Es wundert mich heute noch, dass mir nicht die Hände oder Füße erfroren sind. Bis in die Morgenstunden haben wir gebraucht, um durch den Schnee bis zum Bahnhof der Stadt zu kommen. Aber hier fuhr auch kein Zug mehr ins Reich. Meine Mutter war müde und verzweifelt. Sie weinte und betete zum Herrn um Hilfe. Plötzlich stand ein Matrose neben uns. Er sagte, ich bringe sie zu anderen Flüchtlingen in eine Schule. Von dort gehen Transporte ab. Kaum waren wir dort angekommen, hatten uns ein wenig erholt und was Warmes zu trinken bekommen, da hieß es, dass ein Transport per Schiff abginge. Wer noch laufen könne, der möge zum Hafenbecken gehen. Sofort machte sich meine Mutter mit mir auf.

Dann standen wir vor dem Wilhelm Gustloff und hofften, dass wir es diesmal schafften, auf das Schiff zu kommen. Wir kamen auch irgendwie hinauf. Hatten einen Platz tief unten im Schiff bekommen. Da hieß es, dass ein Teil der Flüchtlinge auf ein anderes Schiff sollten, weil dieses Schiff überfüllt sei. Eine Unruhe befiel meine Mutter und sie sagte, wir müssen hier runter. Ich war am Ende, als Kind konnte ich es gar nicht verstehen, da wir doch einen ruhigen Platz gefunden hatten. Aber meine Mutter betete immer für sich, dass sie geführt wurde. Wir sind dann von dem Wilhelm Gustloff herunter und am 30. Januar 1945 von dem Dampfer „Hansa-Amerika-Linie“ aufgenommen und von Gotenhafen nach Kiel überführt worden.

Am 30. Januar 1945 um 21,16 Uhr trafen drei Torpedos von einem sowjetischen U-Boot die Wilhelm Gustloff. Das Schiff sank und riss Tausende Menschen in die Tiefe, darunter sollen mindestens 2000 Kinder gewesen sein. Wären wir da auf dem Schiff geblieben, wäre ich sicher eines der 2000 Kinder gewesen. Aber meine Mutter wurde durch ihre Gebete vom Heiligen Geist geführt und gedrängt, dieses Schiff vorzeitig zu verlassen. Es ist uns zu einem großen Zeugnis in unserer Familie geworden.

Am 2. Februar 1945 sind wir mit der „Hanse“ in Kiel angekommen. Von dort ging es mit dem Zug nach Bad Schwartau. Wir waren damals die ersten Flüchtlinge aus dem Osten auf holsteinischem Boden. Da wurden wir noch gut aufgenommen und versorgt. Wir durften wählen, ob wir auf dem Lande oder in der Stadt untergebracht werden wollten. Obwohl wir aus einer Stadt kamen, wählte meine Mutter durch den Geist geführt, auf dem Land untergebracht zu werden. Wir kamen nach Krumbeck bei Lübeck, zu einer Großbauernfamilie Stark. Wir hatten dort genug zu essen, und brauchten nicht am Ende des Krieges zu hungern, wie die Städter.

Am Kriegsende wussten wir nicht, wo mein Vater und meine ältere Schwester mit ihrem Kleinkind waren. Mutti hat darüber gebetet und hatte dann einen Traum, dass meine Schwester nach Krumbeck kommt zum Hof der Familie Stark, die Tür öffnet und vor meiner Mutter steht. Dann fragte Mutter sie: Wie bist du denn hierher gekommen? Sie antwortete: Mit einem Tommy-Auto. (So nannte man die Engländer, die damals Holstein besetzt hatten) Und so wie es meine Mutter geträumt hatte, genau so geschah es auch. Durch den Suchdienst hatte meine Schwester unsere Adresse bekommen. Dies war wieder ein Zeichen dafür, dass wir durch den Heiligen Geist getröstet und geführt werden.

Mein Vater war in russische Gefangenschaft gekommen. Seine Eltern, Schwester und Schwägerin sind in Königsberg verhungert und umgekommen. Zum Glück kam mein Vater nicht nach Sibirien, wie es seinem Kollegen erging. Nach mehreren Lagern wurde er schließlich in Frankfurt/Oder aus der Gefangenschaft entlassen und kam nach Schwerin. Durch Verbindung zu einer meiner Tanten bekam er unsere Adresse. Er bat meine Mutter nach Schwerin zu kommen, da er das Risiko über die Grenze in den Westen zu gehen nicht auf sich nehmen wollte. Er hatte schon zu viel in der Gefangenschaft bei den Russen mitgemacht. Da hat meine Mutter für uns die Ausreise nach Schwerin beantragt, und wir sind etwa im April 1946 in Schwerin angekommen.

In Schwerin war meine Mutter allerdings sehr enttäuscht, als sie die schlimmen Zustände hier sah. Das war besonders die Wohnmöglichkeit. Wir waren arm wie die Kirchenmäuse. Mein Vater hatte nichts als nur die alte Militärkleidung. Er arbeitete bei ansässigen Leuten, um dafür etwas Kleidung und lebensnotwendige Sachen zu bekommen. Er hat als Maler bei den Russen gearbeitet, die Krankenhäuser und andere Bauten für ihre Zwecke herrichten ließen. Da hat er sich Metallbettgestelle und anderes besorgt. Öl, das zum Verdünnen der Farben gebraucht wurde, hat er teilweise zum Braten abgezweigt. Brot, das auf den Tischen der Russen-Kantine liegen blieb, oder Essen im Kochgeschirr brachte er mit nach Hause. Das Kochgeschirr vom Militär konnten wir nur im Ofen aufwärmen. Um etwas Korn zu bekommen, das man in Mehl umtauschen konnte, sind Vater und Mutter zu Fuß bis nach Friedrichsthal, einem Vorort von Schwerin, gelaufen und haben auf einer Neubauernstelle mit Hand Getreide gemäht und gebunden. Meine Mutter hat alte Decken aufgeräufelt, um daraus etwas Kleidung zu stricken. Ebenso hat sie Matrazenstoff abgetrennt und als Kleiderstoff verwendet. Holzpantoffel mit Riemchen wurden mit Farbe bemalt, um etwas unter den Füßen zu haben.

Meine Mutter fand die Kirche in Schwerin am Schweinemarkt 1. Sie musste an einer Kohlenhandlung wegen Kohlen anstehen, und die Warteschlange war so lang, dass sie bis zu einem der nächsten Häuser reichte. In einem Fenster sah sie ein Schild: „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ darunter waren die Versammlungszeiten angegeben. Als sie dann nach Hause kam erzählte sie mir freudig davon und sagte: Da gehen wir am Sonntag hin! So besuchten wir an diesem Sonntagnachmittag erstmals in Schwerin die Versammlung der Kirche. Es war ein Fastensonntag, und am Nachmittag hatte die Primarvereinigung ihr Programm. Ich war 12 Jahre alt, und war sofort begeistert von der Darbietung, fühlte mich sofort wohl und dazugehörig. Es gefiel mir so gut, dass ich meinem Vater alles erzählte und wünschte, in Muttis Kirche zu gehen. Er wollte jedoch, dass ich Religions- und Konfirmandenunterricht der Evangelischen Landeskirche besuchte. Das tat ich auch eine Weile, wollte dann aber nicht in der Evangelischen Kirche konfirmiert werden, denn ich besuchte auch regelmäßig Muttis Kirche. Ich sagte meinem Vater: Ich will in Muttis Kirche getauft werden. Er akzeptierte meinen Wunsch und sagte: Wenn du davon so überzeugt bist, dann musst du schon alleine zum Pastor gehen und dich von der Konfirmation abmelden. Ich war 14 Jahre alt und habe um diese Möglichkeit gebetet. Es sollten mal entgegen der Regel die Jungen zuerst den Raum verlassen und danach die Mädchen, dann wollte ich dem Pastor mein Anliegen vortragen. Der Vater im Himmel erhörte mein Gebet. Es geschah so, es war wie ein Wunder für mich. Der Pastor war sehr überrascht von meinem Anliegen, aber nach vielen Fragen sagte er: „Wenn du meinst, dass das das Richtige für dich ist, dann lass‘ ich dich gehen und werde für dich beten.“ Den Satz habe ich bis heute nicht vergessen.

So wurde ich am 17. September 1948 getauft und Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Wie schon erwähnt hatten wir mit Hilfe des Bruders Franz Meyer die Genealogie für die Tempelarbeit für meine Großmutter Johanna Hack und andere eingereicht. Meine Mutter hatte da einen Traum, in dem sie von ihrer Mutter und ihrer Großmutter besucht wurde, die sich hinknieten und beteten, und dann sagte meine Großmutter: Wir freuen uns, dass wir jetzt alle zusammen sind. Meine Mutter wusste zuerst nicht, was dieser Traum für sie bedeuten sollte. Als wir später einen Brief aus Salt Lake City mit der Tempelbenachrichtigung und den Siegelungsdaten erhielten, wussten meine Mutter und ich, was der Traum bedeutete. Als Erbe meiner Großmutter hatte ich die Tempelverordnungen für sie beantragt und sie wurden angenommen. Auch dies ist uns zum Zeugnis geworden von der Liebe unseres Vaters im Himmel.

Am 8. Oktober 1949 wurde auch mein Vater Karl Hellwig getauft und 1958 von Henry Burkhardt zum Ältesten ordiniert.