Stettin, Pommern

mormon deutsch elisabeth rognerMein Name ist Elisabeth Rögner, geborene Raatz. Mein Vater hieß Max Erich August Raatz, in Stettin geboren und meine Mutter hieß Ella Raatz, geborene Polzin. Ich wurde auch in Stettin geboren. Wir waren sechs Geschwister, von denen ein Mädchen, namens Eveline jung gestorben war. Rudi war mein ältester Bruder, Ruth-Marianne war zwei Jahre jünger als er, Erika war drei Jahre jünger als Ruth-Marianne. Dann kam ich, ein Jahr jünger als Erika. Egon, der jüngste wurde ein Jahr nach mir geboren. Alle Geschwister wurden als Kinder getauft, da Eltern und Großeltern auf beiden Seiten auch schon Mitglieder der Kirche waren. Der erste der Familie, der sich der Kirche anschloss, wurde 1904 getauft. Das war mein Großvater Alexander Polzin. Als ich ein Jahr alt war, starb mein Vater, der nur 30 Jahre alt wurde. Er war ein großer Genealoge und Forscher, der oft in Polen unterwegs war und sich so Geld verdiente. Von einer Reise (1927) kam er mit Lungenentzündung zurück. Als dann auch noch Kopfgrippe hinzukam, starb er und hinterließ seine 26 jährige Frau und fünf kleine Kinder. Leider bin ich die einzige von uns Geschwistern, die bis heute aktiv in der Kirche geblieben ist. Ich wurde 1935 mit neun Jahren im Stettiner Hallenbad Rossmarkt von einem Missionaren, Bruder Matz getauft. Meine Geschwister wurden im Martinsee oder Glambecksee getauft.

In der Generation meiner Eltern war es ähnlich: Meine Mutter und ihr Bruder Hans Polzin waren die einzigen von fünf Geschwistern, und bei meinem Vater war er der einzige von fünf Geschwistern, die bis zum Tod treue Mitglieder waren.

1941 fielen die ersten Bomben auf Stettin – unser Stadtviertel war das erste, das bombardiert wurde. Kurz darauf wurde auch unser Gemeindeheim zerstört, sodass wir darauf angewiesen waren, woanders unsere Versammlungen abzuhalten. Die Methodisten haben uns gestattet, ihre Räumlichkeiten mitzubenutzen. Als ich 14 Jahre alt war, bekam ich meine erste Berufung als Lehrerin der Primarklasse. Die Kinder waren zehn Jahre alt, und die Klasse wurde sonntags während der Sonntagschule abgehalten.

Helmuth Plath war ein besonderes Mitglied unserer Gemeinde. Er musste immer in Polizeiuniform zur Kirche kommen, weil er immer dienstbereit sein musste. Wir kleinen Kinder bewunderten besonders den großen Helm, den Tschako auf seinem Kopf, den er nicht abnehmen durfte. Er bewies großen Mut, dass er ihn aber trotzdem während des Abendmahls abnahm. Die ganze Gemeinde war froh, dass er da war, weil er für alle Mitglieder Sicherheit ausstrahlte. Da er bei der Polizei arbeitete, konnte er die Gemeinde rechtzeitig vor den nächsten Angriffen warnen. Die meisten anderen Männer waren im Krieg. Helmuth Plath war auch sehr stark im Evangelium und hat sehr gute Ansprachen gegeben.

Mein erstes Zeugnis von der Wahrheit des Evangeliums erhielt ich von meiner Mutter, als ich vier Jahre alt war. Sie erzählte mir, dass ich ein paar Tage nach meiner Geburt Keuchhusten bekam und ins Krankenhaus musste. Da ich nur schwer Luft bekam, war mein ganzer Körper blau, und die Ärzte sagten meiner Mutter, dass ich nicht mehr lange zu leben hätte. Meine Mutter rief die Ältesten, damit sie mir einen Segen geben konnten. Kurz darauf wurde ich gesund. Ich hatte meine Mutter wegen ihres Glaubens sehr bewundert. Ihr Zeugnis hat mir als kleinem Sonntagschulmädchen die Grundlage zu späteren Zeugnissen gegeben.

Die Bombardierung auf Stettin ging immer weiter. Jede Nacht kamen die Flieger, bis alle Häuser zerstört waren. Als unser Keller kein Schutz mehr war für uns, mussten wir zum nächsten Betonbunker laufen und dort die Nacht mit mehreren hundert Leuten verbringen. Meine Mutter hatte schon schwer Krebs und musste von uns mitgeschleift werden. Das war auch die Zeit, wo sehr viele Leute Läuse und Krätze hatten, weil es kein Wasser gab. Wasserwerk und Leitungen waren zerstört und wir konnten nur von einer Wasserpumpe in unserem Stadtviertel Wasser bekommen.

Stettin wurde Festungsstadt, d.h. die russischen Soldaten hatten die Stadt erobert, nachdem alle Deutschen geflohen waren. Ich war auch geflohen. Wir durften nicht als Familien die Stadt verlassen, sondern mussten mit unseren Arbeitsstellen fliehen, damit auch unterwegs die Arbeit weitergehen konnte. Ich war bei der Wetternachrichtenzentrale angestellt, die sich auf dem Fliegerhorst (Soldaten) befand und habe die großen Wetterkarten gezeichnet, die den Piloten der Flugzeuge anzeigten, wie viele Wolken es gab und wie hoch sie waren. Alles, was mit dem Wetter zu tun hatte, war sehr wichtig. Die Apparate und wir Angestellte wurden auf einen LKW geladen und fuhren immer nach Westen, um vom Russen weg und hin zum „Tommy“ (Engländer) zu kommen. Als wir dann endlich in der Nähe von Lübeck ankamen, trafen wir die ersten englischen Soldaten. Sie waren sehr nett zu uns und teilten ihren Proviant mit uns. Nach einer Woche mussten sie aber weiter, um in Japan zukämpfen. Sie machten uns klar, dass für uns der Krieg zu Ende war. Es war Anfang Mai 1945. Wir waren aber trotzdem noch in Gefangenschaft bei den restlichen Engländern, die Nord­deutschland besetzt hatten. Alle Mädchen, die bei den deutschen Soldaten beschäftigt waren (also auch ich) sollten nach Hause zu ihren Eltern gehen. Ich hatte aber kein Heim mehr. Außerdem wurde niemand zurück zum Russen geschickt. Das Arbeitsamt vermittelte uns Arbeit in Haushalten, Fabriken oder auf Bauernhöfen. Ich entschied mich für den Bauernhof, weil es dort genug zu essen gab.

Nach einem halben Jahr hatte ich so große Sehnsucht nach meiner Mutter, dass ich von der Bauernfamilie, die sehr nett gewesen war, Abschied nahm und über die „grüne Grenze“ (Klingeldrähte im Wald) nach Weimar in Thüringen zu fuß gereist bin. Diese Reise wurde zu einem großen Zeugnis für mich: Ich traf auf eine Gruppe anderer Leute, ungefähr zehn, die auch über die Grenze wollten. Da wir uns alle in Gefahr befanden, von den Russen geschnappt zu werden, betete ich zum Himmlischen Vater um Schutz. Er gab mir das Gefühl, ich sollte mich nicht der Gruppe anschließen sondern weiter zurück­bleiben. Nach kurzer Zeit kamen auch wirklich russische Soldaten, die diese Gruppe gefangen nahmen. Mich hatte niemand bemerkt, und ich kam ungehindert über die Grenze.

Nachdem ich sie von Dorf zu Dorf gesucht hatte, fand ich sie und meine beiden Schwestern in Rattelsdorf in Thüringen. Ruth und Erika hatten Arbeit bei einem Bauern gefunden und hatten dadurch für sich und die Mutter zu essen. Sie bewohnten ein kleines Zimmer. Um für uns Mädchen wieder Arbeit zu finden, suchten wir in der nächsten Stadt ein Zimmer. In Stadtrodach arbeitete ich in der Krankenhausküche. Nach einem Jahr wollten wir in eine Stadt mit unserer Kirche ziehen. Das war Gera. Das Wohnungsamt vermittelte uns eine Wohnung, die wir aber leider nach ein paar Wochen schon wieder verlassen mussten, weil die Russen sie übernahmen. Wir mussten uns dann in einer anderen Wohnung einquartieren, deren Besitzerin sie mit uns teilen musste. In Gera war es uns möglich, an allen Versammlungen teilzunehmen.

Meine Mutter war uns ein großes Vorbild auch im Zehntenbezahlen. Sie bekam zu dieser Zeit nur 90 Mark Rente. Obwohl das Essen sehr, sehr teuer war, bezahlte sie doch jeden Monat erst ihren vollen Zehnten. Die große Segnung für uns alle war, dass wir nie Hunger litten. Für mich ist es bis zum heutigen Tag noch ein starkes Zeugnis.

Ein weiteres Zeugnis wurde mir zuteil, als wir in Bremen wohnten und dort aktiv am Leben einer großen Gemeinde teilnehmen konnten. Mein Mann verlor seine Arbeit und fand eine neue Arbeitsstelle in Siegen, Nordrhein-Westfalen. Ich wollte aber nicht mitziehen, weil es dort keine Gemeinde gab und ich den Kindern das Gemeindeleben nicht entziehen wollte. Ich wusste, dass der Himmlische Vater mir zur rechten Zeit sagen würde, dass wir gehen sollten. Nach zweieinhalb Jahren war es dann soweit. Ich hatte das starke Gefühl, dass wir als Familie zusammenleben sollten. Also zogen wir um in eine schöne große Wohnung. Schon nach zwei Tagen standen plötzlich zwei Missionare und ein neugetauftes Mitglied vor unserer Tür. Also war es auch ein Segen für diese Schwester, die dort wohnte, dass sie nun gleich mehrere Mitglieder in der Nähe hatte. Sie hatte auch uns viel bei Schulsuche usw. helfen können. Der Missionspräsident genehmigte es, dass zwei Missionare in unsere Stadt versetzt wurden und mit uns Heimsonntagschule abhalten durften. Bald danach wurden drei weitere Schwestern getauft. Mein Mann wurde als Gemeindepräsident berufen und so begann die Geschichte der Gemeinde Siegen 1991, die es jetzt immer noch gibt.

Mein Mann und ich konnten unser Zeugnis weiterhin stärken, als wir eine Mission im Tempel in Friedrichsdorf erfüllten. Wir dienten dort 18 Monate unter Enzio Busche als Tempelpräsident und haben viele wunderbare Erlebnisse dort gehabt, wo wir uns dem Herrn sehr nahe fühlten.

Abschließend möchte ich sagen, dass ich ein sehr starkes Zeugnis über die Genealogie habe. Mein Großvater und mein Vater haben einmal in einem einfachen Schreibheft angefangen, Namen niederzu­schreiben. Dieses Heft habe ich mit auf die Flucht genommen und begeistert weitergeführt. Auf der Suche nach unseren Ahnen haben wir viele wunderbare Erlebnisse gehabt. Für die meisten konnten wir die Arbeit im Tempel selber machen und sind sehr dankbar, diese Arbeit noch weiterzuführen.