Kaunus, Litauen

mormon deutsch elmar schnellMein Name ist Elmar Schnell. Ich bin im Ausland geboren und zwar in Litauen in Kaunus am 24.Juli 1938. Mein Vater ist Emil Schnell, ebenfalls in Litauen geboren. Meine Mutter Martha Schnell, geborene Isokeit, ist auch in Litauen geboren. Obwohl wir im Ausland waren, sind wir immer Deutsche geblieben. Kurz nachdem ich geboren war, hat Adolf Hitler mit Russland beschlossen, dass die Deutschen aus den baltischen Staaten, wozu auch Litauen gehörte, nach Deutschland umgesiedelt werden sollten und zwar unter dem Begriff „Heim ins Reich“. Unter diesem Motto wurden die Ausländer wieder angesiedelt.

Als ich etwa eineinhalb Jahre alt war, wurden wir in einem Lager in Ostpreußen zusammengefasst. Zur Gruppe meiner Familie gehörten: meine Mutter, meine Großmutter, drei Tanten und mein Onkel. Mein Großvater ist 1940 an einem Asthmaanfall gestorben. Das war der Vater meiner Mutter. Mein Vater hatte sich freiwillig zur deutschen Wehrmacht gemeldet, weil er wusste, dass er sowieso eingezogen werden würde. Er wurde als Dolmetscher an der Ostfront eingesetzt, weil er russisch, polnisch, litauisch und die anderen baltischen Sprachen beherrschte.

Nach einer gewissen Zeit war in dem Lager, in dem wir waren, eine schlimme Kinderkrankheit (Diphtherie) ausgebrochen, und eine meiner Schwestern und ich waren erkrankt. Alle an Diphtherie erkrankten Kinder wurden isoliert. Viele der Kinder sind gestorben, meine Schwester auch. Auch ich wurde eigentlich aufgegeben. Ich hatte aber noch eine Erinnerung an ein Erlebnis, welches ich damals nicht verstanden hatte. Später habe ich dann meine Mutter gefragt: „Du, wie war das eigentlich, als ich krank war“? Sie sagte, dass es wirklich so war, dass sie uns nicht besuchen durften, weil wir so krank waren. Sie sagte: „Wir waren in großer Sorge, dass du auch stirbst“. Das Erlebnis, an welches ich mich noch erinnerte, war folgendes: Ich war etwa drei Jahre alt, und ich wurde von zwei jungen Männern in weißer Kleidung besucht. Ich dachte, das wären Krankenpfleger; aber zu der Zeit waren alle jungen Männer in dem Alter zur deutschen Wehrmacht eingezogen. Meine Mutter sagte auch, dass es zu der Zeit dort nur Krankenschwestern gegeben habe. Später, als ich dann weiter forschte, habe ich mich gefragt, was ist da eigentlich passiert? Meine Mutter sagte mir: „ Du warst kurz davor zu sterben. Ich bin von jemandem besucht worden, und derjenige hat mir gesagt, dass ich dir Möhrensaft zu trinken geben soll.“. Ich habe dieses Erlebnis erst sehr viel später verstanden und was es bedeutete, erst als ich Mitglied der Kirche wurde. Mit der mir durch die Mitgliedschaft in der Kirche zuteil gewordenen Erkenntnis habe ich das ganze noch einmal überdacht. Es war so: Diese zwei Männer besuchten mich, und der eine sagt zum anderen: „Sollen wir ihn mit nehmen“? Worauf der andere antwortete: „Eigentlich nicht. Wir versuchen es und lassen ihn hier.“ Darauf sagte der Fragende: „Wenn wir ihn hier lassen, wird er aber ein schweres Leben haben.“ Sie wurden sich einig und ließen mich dort. Sie meinten aber, dass sie meiner Mutter sagen wollten, dass sie mir Möhrensaft geben sollte, damit ich am Leben bliebe.

Meine Mutter bestätigte alles und sagte, sie habe genau so gehandelt, und ich sei dadurch gesund geworden. Das war das Interessante, was ich aus meiner Kindheit behalten habe. Es ist nicht das ganze Gespräch und Erlebnis, sondern nur das, was für mich wichtig war. Für mich war hinterher klar, dass das zwei junge Männer aus der anderen Welt waren, die mich eigentlich heim holen sollten. Wenn ich auch gestorben wäre, hätte meine Mutter drei Kinder verloren. Das waren meine jüngere Schwester und mich. Schon vor meiner Geburt hatte sie eine Tochter verloren.

Kurz danach wurden wir nach Polen umgesiedelt. Der Ort hieß Ostralenka, zu Deutsch: Schafwiese. Die Nazis hatten die Juden aus diesem Ort verschleppt und haben stattdessen die Reichsdeutschen dort angesiedelt. Ich habe es selbst gesehen, wie Juden aus den Häusern hinaus getrieben wurden. Ich habe nicht verstanden, was es bedeutete, weil ich noch ein Kind war. Ein weiteres Erlebnis, welches ich noch im Gedächtnis habe ist dieses: Wir Reichsdeutschen hatten genügend Nahrung. Wir bekamen soviel, dass wir gar nicht alles in der Familie verwenden konnten. Aber es wurde uns verboten, den Polen und den Juden etwas davon abzugeben. Mein Onkel, Elmar Isokeit, war zu der Zeit etwa sechzehn Jahre alt und sehr mutig. Er hätte eigentlich zur Hitlerjugend gehen müssen, aber er hat es abgelehnt mit der Begründung, er wolle mit den Nazis nichts zu tun haben. Er hat sich auch dem Verbot widersetzt, den Polen und Juden Nahrung abzugeben und hat danach gehandelt. „Ich werde dem Hungernden Brot bringen.“ Seine Mutter, meine Mutter und die Tanten hatten große Angst, dass auch wir verschleppt werden würden.

Wir bekamen dann eine Villa zugewiesen. Wir wussten nicht, wer vorher darin gewohnt hatte, ein sehr schönes Haus mit großem Garten, in dem wir etwa zwei Jahre gelebt haben. In der ersten Zeit wurde ich von den Polenkindern als ungeliebter Deutscher angesehen und mit Steinen von ihnen beworfen. Ich sollte dann in einen deutschen Kindergarten gehen. Aber mein Onkel sagte: „Gehe nicht in den Kindergarten sondern lerne polnisch.“ Ich hatte mich mit den polnischen Kindern angefreundet, und schon innerhalb einer kurzen Zeit konnte ich fließend polnisch sprechen und wurde dann auch anerkannt.

Nach knapp einem Jahr gab es einen Aufstand gegen die deutschen Besatzungskräfte. Es gab hier nur wenige, da alle an die Ostfront abkommandiert waren. Die Polen, die Juden und andere Ausländer hatten sich zusammengeschlossen und wollten uns Deutsche aus dem Ort vertreiben. Unser Haus wurde nicht angegriffen, und wir wurden auch nicht vertrieben. Mir ist natürlich klar, dass das mit unserer Handlungsweise gegenüber den Polen und Juden zusammen hing. Natürlich ist die deutsche Wehrmacht nach einiger Zeit eingerückt und hat den Aufstand nieder geschlagen. Meine Mutter hatte auch mit den Polen Handel getrieben und damit ihren Lebensunterhalt verdient. Sie hat ihnen Streichhölzer verkauft, die uns reichlich zur Verfügung standen. Meine Tante hatte einen Frisiersalon, der auch dazu beitrug, dass es uns nicht so arg schlecht ging.

Meine Mutter ist öfters in die Stadt gefahren, um dort die Streichhölzer zu holen, und ich bin oft mit gefahren oder hinter dem Bus her gelaufen. Eines Tages war es auch so: Sie war gefahren, und ich wollte sie einholen, in dem ich dem Bus nachlief. Da sah ich einen Kutscher, der mit seinem Wagen in die gleiche Richtung fuhr. Ich bin hinten aufgesprungen. Es ging über sehr holpriges Kopfsteinpflaster. Der Leiterwagen fuhr immer schneller und sprang immer höher. Ich merkte, dass der Pole völlig betrunken war. Mit meinen fünf Jahren war ich nicht mehr in der Lage, mich fest zu halten, und ich schrie auf Polnisch: „ Halte an, halte an“! Doch er hörte mich nicht. Ich rutschte auf dem Leiterwagen immer dichter an das Hinterrad. Ich konnte mir nicht mehr helfen, und mir wurde klar, dass ich von dem Hinterrad überrollt werden würde, wenn ich los ließe. Ich hatte aber keine Kraft mehr, mich weiter festzuhalten. Mir war völlig bewusst, dass ich jetzt zu Tode kommen würde. Als ich dann los lassen wollte, war da plötzlich eine Kraft, die hob mich vom Wagen und hat mich hinter den Wagen gesetzt. Ich habe niemanden gesehen aber ich wusste: da ist eine Kraft gewesen, die mich aus dieser tödlichen Situation befreit. Mir war damals schon klar, dass es Engel gewesen sein müssen, die mich aus dieser Gefahr befreit haben. Ich wäre zwischen Rad und Wagen gestürzt und dann überrollt worden. Danach war ich völlig verwirrt aber gerettet.

Nach diesem Erlebnis haben wir noch knapp ein Jahr in Polen gelebt. Die russische Front kam immer näher, und die Deutschen wurden zusammen gezogen, um zu fliehen. Einige meiner Tanten sind schon vor dieser Zeit geflohen noch bevor der russische Panzerkessel alles abgeriegelt hatte. Wir haben länger gewartet und sind dann Richtung Allenstein gezogen. Wir waren immer noch in Polen und hörten den Geschützdonner der russischen Panzer. Wir wurden an einem Ort zusammen gezogen, um gemeinsam mit den verwundeten Soldaten in Richtung Ostsee zu fliehen. Die deutsche Wehrmacht hatte einen Korridor in Richtung Ostsee zur Flucht offen gehalten. Das war im Herbst/ Winter 1944. In der kleinen Ortschaft, in der wir zusammen gezogen worden waren, wurde ich krank und hatte einundvierzig – zweiundvierzig Grad hohes Fieber. Der Bürgermeister des Ortes sagte zu meiner Mutter: „Mit diesem Jungen können sie nicht fliehen, der wird es nicht überstehen, den müssen Sie hier lassen.“ Meine Mutter sagte aber: „Ich lasse den Jungen nicht hier“. In der Zeit davor waren auch meine beiden Schwestern geboren. Die Last, die sie zu tragen hatte, war also sehr groß. Viele der Flüchtlinge waren schon abgezogen. Wir waren so ziemlich die Letzten, die noch am Ort waren. Doch das war auch unser Glück; denn wir sind dann von den verletzten deutschen Soldaten aufgenommen worden. Und plötzlich war eine russische Ärztin aufgetaucht, die mir eine Spritze gab. Das Fieber sank daraufhin auf 39 Grad.

Die russische Front war nicht weit entfernt; aber trotzdem habe ich keine Erklärung dafür, wo diese russische Ärztin herkam. Der Bürgermeister hatte daraufhin seine Einwilligung gegeben, dass auch ich mitfahren könne. Die Flucht mit den verletzten Soldaten wurde mit Pferd und Wagen durchgeführt. In der ersten Zeit war es so, dass unser Transport von russischen Tieffliegern angegriffen wurde, die einfach in die Wagen hinein schossen. Aber man konnte es hören, wenn sie angriffen. Sie waren laut und nicht schnell. Die Soldaten forderten uns dann auf, in den Gräben Deckung zu suchen. Wir sprangen dann von den Wagen und haben in den Gräben Schutz gesucht. Wir waren aber sehr verwundert, dass die deutschen Soldaten sich selbst gar nicht darum kümmerten und weiter Karten spielten. Denen war das so egal ob man lebt oder stirbt. Es war ihnen völlig gleichgültig. Wir waren ja ziemlich am Ende der Flüchtlingstreck. Ich habe es erlebt, dass ganze Flüchtlingstrecks, die vor uns waren, von russischen Panzern überrollt wurden. Die Panzer sind immer wieder durch die deutsche Absicherung durchgebrochen und haben dann Pferd und Wagen mit den Menschen darauf einfach niedergewalzt. Sie sind zwar immer wieder von den Deutschen Soldaten zurück gedrängt worden, doch für uns war es grausam die toten Menschen und Tiere zu sehen. Aber durch die lange Zeit der Flucht und das immer wieder kehrende Gemetzel stumpfte man ab. Am Ende war man kaum noch betroffen. Für ein Kind erscheint das unverständlich. Aber irgendwie befand ich mich wohl in einem beschützten Zustand. Es war auch nicht so, wie man es teilweise in Filmen sieht, dass die Menschen schreien, wenn auf sie geschossen wird. Wenn Menschen lange genug unter traumatischen Verhältnissen leben, dann reagieren sie nicht mehr hektisch oder panisch, die sind einfach ruhig. Ich habe es selbst so erlebt. Es bleibt ein Trauma, das man nicht verarbeiten kann. Ein Soldat von unseren vier Wagen sagte: „Wir können den Flüchtlingen diese Attacken nicht weiter antun. Wir verstecken uns während des Tages.“ In den kleinen Wäldchen, die wir fanden, haben wir uns über Tag versteckt und sind dann nachts gefahren. Dadurch sind wir behütet worden. Und wenn wir später die zerstörten Trecks gesehen haben, dann wussten wir, dass es uns ebenso ergangen wäre, wenn wir am Tage gefahren wären.

Dann kamen wir an das zugefrorene Haff. Es waren dort aber viele große Löcher in dem Eis, hervorgerufen durch die vielen Luftangriffe der russischen Flugzeuge. Einer der Soldaten sagte: „Wir werden nachts fahren, um uns nicht den Luftangriffen tagsüber auszusetzen. Das war natürlich mit diesen großen Löchern im Eis ein Risiko. Als wir dann losfuhren, musste einer zu Fuß gehend das Pferd führen. Während wir so fuhren, hörten wir vor uns jemanden auf einer Gitarre spielen. Plötzlich war die Musik wie abgeschnitten, und der Soldat, der vorne das Pferd führte, wusste sofort, dass der Vordermann mit seinem Wagen in einem Eisloch versunken ist. Alle Flüchtlinge sind mit diesem Wagen untergegangen und ertrunken. Unser Soldat hatte wohl eine Laterne; aber was kann man schon mit einer Laterne sehen. Wir haben eine ganze Nacht gebraucht, um über das Eis zu kommen. Dabei war es gar nicht so weit, vielleicht zwei bis drei Kilometer. Nun waren wir auf der Nehrung. Dort lagen kleine Minensuchboote, die haben die ankommenden Flüchtlinge nach Danzig gebracht. Wir sind mit mehreren anderen Familien nach Danzig gekommen und dort in einem großen Haus einquartiert worden. Wir hörten aber den Geschützdonner schon unmittelbar hinter Danzig. Etwa zehn Kilometer vor Danzig war die russische Armee mit ihren Panzern. Einige der Familien, die bei uns waren, hatten sehr viel über die Rache der russischen Soldaten an den Deutschen gehört. Drei der Familien sagten, dass sie das ihren Familien nicht antun wollten und beschlossen, sich mit Gas selbst zu töten. Sie haben versucht, die Koksheizung in Betrieb zu nehmen. Sie wollten dann das entstehende Kohlenmonoxyd in die Schlafräume der Kinder leiten. Das hat aber nicht funktioniert. Mir ist das sehr bewusst gewesen, was die Erwachsenen mit uns vorhatten.

Von Danzig sind wir Richtung Zoppot geflohen. Wir kamen mittags in Zoppot an. Aber viele der großen Schiffe waren überbesetzt. Es war nur noch ein Schiff im Hafen, und wir standen als eine der letzten Familien am Kay. Das Schiff hieß Deutschland und konnte eigentlich nur tausend Personen aufnehmen; doch es waren bereits dreitausend an Bord. Der Kapitän sagte. Dass er einfach nicht mehr aufnehmen könne. Darauf sagte der Funker: „Kapitän, ich mache meine Funkkabine frei“. Diese Funkkabine war sehr klein, aber wir sind dadurch noch mitgenommen worden. Das Gepäck konnten wir natürlich nicht mehr mitnehmen und mussten auch das Letzte noch zurück lassen, was wir hatten. Nachts hat das Schiff abgelegt. Die Marinesoldaten wussten, dass russische U-Boote draußen auf See auf der Lauer lagen, um die Schiffe zu versenken. Sie haben uns aufgefordert, uns ganz ruhig zu verhalten, damit sie bei langsamer Fahrt jegliche Fremdgeräusche wahrnehmen konnten. Wir sind die ganze Nacht und auch noch den Tag hindurch gefahren. Dann sind wir auf der Insel Rügen gelandet. Und dort waren wir dann sicher. Von Rügen wurden wir auf Güterwagen verladen und wurden nach Oldenburg in Ostholstein gebracht. Diese Fahrt hat ungefähr zwei Tage gedauert. Nach unserer Ankunft wurden die verwundeten Soldaten und die Flüchtlinge überall hin verteilt, wo etwas frei war. Wir kamen dann zu einem Gut, welches Siggen hieß. Das war in der Nähe von Oldenburg in Ostholstein

Wenn ich jetzt auf meinen Vater zurückkomme, kann ich sagen, dass ich ihn in meiner Kindheit nur während seiner Urlaubszeit kennen gelernt habe. Später haben wir ihn dann durch das Deutsche Rote Kreuz wieder gefunden. Die Aufgabe meines Vaters als Soldat im Krieg war die eines Dolmetschers, weil er mehrere Sprachen beherrschte. Seine Aufgabe war es, zusammen mit einem deutschen Offizier russische oder polnische Partisanen zu verhören. In der Regel war es so, dass die Partisanen nach dem Verhör sofort erschossen wurden. Mein Vater hatte ein Erlebnis, welches ihm letztlich auch das Leben gerettet hat. Er hatte von einem jungen Offizier den Befehl erhalten, nach dem Verhör diese jungen Partisanen zu erschießen. Er hat gesagt, das tue er nicht, denn es wäre gegen seine Überzeugung und es verstoße außerdem gegen die Genfer Konvention, und er würde ihn nicht erschießen. Auf Grund dieser Geschichte wurde er strafversetzt an die Westfront. Etwas Besseres konnte ihm gar nicht passieren. Er war auch noch in der glücklichen Lage, sagen zu können, er habe während des ganzen Krieges nicht einen Schuss abgegeben. Er wurde in Südfrankreich eingesetzt und hatte dort einen Kameraden, der von Beruf ein Schneider war. Die Beiden waren des Krieges völlig überdrüssig und sind dann in Marseille desertiert, haben die Waffen weggeworfen und sich in einer Garage versteckt. Nach einer Zeit ist dann ein amerikanischer Farbiger in die Garage gekommen und hat zu ihnen gesagt: „Hands up“. Auf diese Weise sind sie in amerikanische Kriegsgefangenschaft gekommen, was auch ein Glück für sie war.

Meine Mutter hatte ihn zunächst erfolglos gesucht. Aber 1949 hat das Deutsche Rot Kreuz herausgefunden, dass er in Geseke in Nordrheinwestfalen als Dolmetscher von den Engländern eingesetzt worden war. Zur Erklärung: In diesem Ort waren englische Besatzer, die über eine deutsche Firma Fremdarbeiter aus Polen, Russland, Lettland und Litauen beschäftigten. Die Engländer hatten bei den Amerikanern angefragt, ob sie einen Dolmetscher hätten. Dadurch ist mein Vater gar nicht so lange in der Kriegsgefangenschaft gewesen, sondern dort als Dolmetscher eingesetzt worden. 1950, mit 12 Jahren, habe ich meinen Vater wieder gesehen.

Ich selbst hatte in den Jahren zuvor ein sehr tief greifendes Erlebnis. Wir sind in Ostholstein sehr spät eingeschult worden. Es war ein Jahr später und zwar 1946. Nach Ende des Krieges gab es nicht gleich wieder Schulen. In der Nachbarschaft, Fargemiel hieß dieser kleine Ort, wurde eine Schule gegründet, in der es aber nur einen großen Klassenraum gab. In dem Raum wurden vier Reihen gebildet. In diesen Reihen saßen die unterschiedlichen Jahrgänge der Kinder getrennt voneinander. Da waren also die erste bis vierte Klasse, und ich, der ich nun schon fast acht Jahre alt war, gehörte immer noch in dir erste Klasse in der ersten Reihe. Da wir sehr arm waren, hatten wir auch kein Papier, auf dem wir schreiben konnten. Wir haben dann alte Zuckerpapiertüten genommen, bei denen die inneren Lagen noch sauber waren. Da drauf haben wir geschrieben. Ich habe damals nicht verstanden, was es für einen Sinn haben sollte, Buchstaben auf dieses Papier zu kritzeln. Auf der einen Seite schlagen sich die Leute gegenseitig tot, und wir sitzen hier und kritzeln Buchstaben auf das Papier. Das war mir nicht verständlich. Und da bin ich eine ganze Woche lang einfach nicht in die Schule gegangen. Meine Mutter hat gearbeitet und von all dem nichts mitbekommen. Wir haben eine ganze Woche lang nur Karten gespielt. Das hatten wir ja im Krieg gelernt. Wir haben morgens unsere Schulsachen genommen und sind auf einen riesigen Dachboden auf dem Gut geklettert und haben dort Karten gespielt. Doch eines Tages fragte der Lehrer meine Mutter: „Wo ist ihr Sohn, der kommt überhaupt nicht mehr zur Schule“. Meine Mutter war sehr traurig darüber, dass ich nicht zur Schule gegangen bin, dass ich seitdem dem Kartenspiel abgeschworen habe. Es gab eine Zeit, wo der Prophet das Kartenspiel untersagt hatte, und ich konnte das sehr gut verstehen.

Ich bin dann wieder zur Schule gegangen, aber nur aus Gehorsam gegenüber meiner Mutter. Unser Lehrer hieß mit Namen Groß. Weil wir keine Schulbücher hatten hat er die Bibel aufgeschlagen und aus dem Neuen Testament vorgelesen. Ich bin überhaupt nicht religiös erzogen worden. Wann auch sollte das geschehen? Während des Krieges und der Flucht war es schier unmöglich. Er las aus den Gleichnissen von Jesus Christus wie er geheilt hat, wie er gut zu den Menschen war, wie er überhaupt zu den Menschen war. Bei diesem Vorlesen hatte ich ein ganz intensives Erlebnis, das ich zuerst überhaupt nicht verstand. Das war so intensiv, dass ich eine große körperliche Entlastung und Wärme empfand. Ich war körperlich immer sehr schwach und kränklich. Dieses Erlebnis war für mich so beeindruckend, dass ich mich den ganzen Tag im Wald versteckte und darüber nachgedacht habe, was da eigentlich passiert war. Dieses Erlebnis hat dann dazu beigetragen, dass ich sehr gerne in die Schule gegangen bin. Es war aber auch ein sehr guter Lehrer, der sehr sensibel war. Nach diesem Erlebnis fiel mir auf, dass ich von dem Zeitpunkt an keine Angst mehr hatte, wenn ich die Fluggeräusche von den englischen Flugzeugen hörte und auch nicht, wenn sie ihre Schießübungen über der Ostsee machten. Jetzt weiß ich, was da passiert war. Die ganzen traumatischen Erlebnisse des Krieges und der Flucht sind mir durch das Kennenlernen und Erleben von Jesus Christus genommen worden. Ich wurde von allem befreit und geheilt. Als Lehrer Groß dieses alles vorlas und sagte: „Das ist Gottes Sohn“, da wusste ich sofort: „Das ist alles wahr.“ Und ich war erst acht Jahre alt. Dieses Zeugnis hat mich mein ganzes Leben lang getragen. Auf Grund dieses Erlebnisses und des daraus resultierenden Zeugnisses habe ich meine Tanten, meine Onkel und meine Großmutter richtig genervt. Ich habe damals schon gesagt: „Jesus Christus ist der Sohn Gottes, auf den müsst ihr hören“. Das habe ich so oft gesagt, dass sie mir daraufhin antworteten: „Du musst später Pastor werden“. Mir ist heute klar, hätte ich dieses Erlebnis nicht gehabt, würde ich heute noch unter diesen traumatischen Erlebnissen aus meiner Kindheit in den Kriegsjahre leiden. Ich wäre wahrscheinlich unfähig gewesen, mein Leben zu meistern. Viele haben es auch so erlebt, und sie haben ihr Leben nicht in den Griff bekommen. Ich habe dadurch ein sehr großes Verständnis für Menschen, die abrutschen und aus der Bahn geraten, denen nicht die Segnung zuteil wurde, Jesus Christus kennen zu lernen und mit ihm zu leben.

Ich habe danach stets weiter in der Bibel geforscht, hatte auch eine eigene Bibel bekommen. Dann bin ich zur evangelischen Kirche gekommen und habe zwei Jahre lang begeistert am Konfirmandenunterricht teilgenommen. Wir haben vieles auswendig gelernt, Kirchenlieder und Psalmen. Doch mit fünfzehn Jahren habe ich mich völlig von der evangelischen Kirche abgewendet und habe mich überhaupt nicht mehr mit dem Evangelium befasst, auch nicht mehr in der Bibel gelesen. Der nächste Einschnitt war, dass ich zur Bundeswehr eingezogen wurde. Ich fühlte eine Leere in meinem Leben. Eines Tages besuchten uns zwei Männer. Es gab bei der Bundeswehr den sogenannten Lebenskundlichen-Unterricht, wo Sozialkunde mit Religion vermischt vermittelt wurde. Wir wurden gefragt, wer am Unterricht teilnehmen wolle. Es wären heute zwei Gäste da, die einen Film vorführen würden. Diese zwei Männer, ich weiß gar nicht welcher Nationalität sie angehörten, zeigten uns den Film: „Das Wunder der Schöpfung“. Sie haben sich danach verabschiedet und eine kleine Taschenbibel im Format circa fünf mal fünf Zentimetern zurückgelassen. Sie enthielt das Johannesevangelium. Jedes mal im Manöver oder in den Pausen habe ich darin gelesen. Das Gelesene hat mich sehr beeindruckt. Nach der Bundeswehrzeit habe ich studiert und in alle Richtungen gesucht. Ich war ziemlich unzufrieden. Nachdem ich mein Examen als Bauingenieur gemacht habe, war ich zwei Jahre in diesem Beruf tätig und stellte für mich fest: „ Dass kann nicht dein Leben sein, das füllt dich nicht aus.“

Eines Abends wollte ich wissen, was für einen Sinn mein Leben hat und warum ich hier auf der Erde bin. Das war mir wichtig. Daraufhin habe ich folgendermaßen gebetet: „Ich möchte von Dir wissen, Herr, welchen Sinn hat mein Leben und wie soll es weiter gehen. Und wenn ich das nicht von Dir erfahre, will ich nichts mehr mit Dir zu tun haben, dann will ich das Leben leben, wie alle anderen es auch leben. Ich habe nach den mir bekannten Regeln gelebt, aber wenn ich keine Antwort von Dir erhalte, fühle ich mich nicht mehr daran gebunden“. Ich war ganz erschrocken, dass ich so etwas gesagt hatte. In der darauf folgenden Nacht, hatte ich einen ganz seltsamen Traum, den ich überhaupt nicht verstand. Ich sah mehrfach auf dunklem Hintergrund ein Wort in goldfarbenen Druckbuchstaben. Das Wort hieß Scheid, und das war alles. Ich denke: „Das ist aber komisch, so etwas hast du noch nie geträumt.“ Ich hatte diesen Traum schon fast vergessen. Da wurde ich krank und kam zur Ruhe, denn in meiner Freizeit war ich ständig unterwegs. Dann kamen zwei junge Männer an meine Tür und die stellten sich folgendermaßen vor: „Wir sind zwei amerikanische Studenten, dürfen wir eintreten“? Sie hatten eigentlich gegen die Missionsregeln verstoßen, aber für mich war die Art wie sie sich vorstellten genau die Richtige; denn meine Eltern hatten mich gelehrt, freundlich gegenüber Ausländern zu sein. So war meine Antwort: „ Kommen sie herein, wir unterhalten uns ein wenig.“ Hätten sie sich vorgestellt wie es die Missionsregeln vorgeben, nämlich: „Wir sind Repräsentanten der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage“, hätte ich sie nicht herein gebeten.

Als sie in der Wohnung waren, haben sie sich natürlich zuerkennen gegeben. Sie hatten zuvor ja nicht die Unwahrheit gesagt. Es traf ja zu, dass sie zwei amerikanische Studenten waren. Als sich herausstellte, wer sie wirklich waren, fragte ich sie nach Traktaten, um sie möglichst schnell wieder los zu werden. Der eine der Beiden, ein langer junger Mann, hieß Edward. Sie hatten feste Regeln, was ihre Kleidung anbetraf. Sie trugen Hut, Mantel, Handschuhe und Schal. Es ging lebhaft hin und her zwischen uns. Ziemlich zum Ende unseres Gesprächs merkte ich, dass mein Verhalten sie zu der Annahme geführt hatte, dass das Gespräch für sie nicht mehr lohneswert war. Aber dann erwähnten sie den Plan der Erlösung, und ich reagierte wie elektrisiert. „Das ist ja interessant, erzählen sie mir davon.“ Sie sagten: „Ja. Aber im Augenblick haben wir sehr wenig Zeit“. Ich erfuhr dann, das Elder Edwards viel in der Gemeinde tätig war. Er übte mehre Berufungen aus. Er hatte auch viel gefastet und sah halb verhungert aus. Ich fragte dann, wie ich die Missionare erreichen könnte. Sie antworteten: „Wir wohnen in Paderborn im Cafe Scheid.“ Ich dachte: „ Das hast du doch schon einmal gehört. Das kommt dir doch bekannt vor!“ Und dann erinnerte ich mich an das Gebet und an meinen Traum. Es war ein ganz bekanntes Cafe, und darüber wohnten die Missionare. Ich war jetzt angeregt, über das Ganze nach zu denken und nach zu sinnen. Ich hatte ganz klar und deutlich im Gebet gefragt: „Wo kann ich Sinn und Zweck meines Lebens erfahren, zeige es mir“. Und der Herr ist konsequent und verlässlich und beantwortet uns unsere Fragen, so wie wir sie gestellt haben. Das hatte ich überhaupt nicht erwartet. Und dann ging es sehr schnell aufwärts.

Wir haben zu einander Vertrauen gewonnen. Ich habe begriffen, wie groß und vielseitig und tief das Evangelium ist. Das hat mir sehr geholfen. Nach der alten Lehrmethode der Missionare hätte es bei mir nicht gefruchtet. Getauft wurde ich am achtzehnten Januar 1969 in Bielefeld.