Schneidemühl, Westpreußen

mormon deutsch esther van der heidenMein Name ist Esther van der Heiden, née Beyer. Ich bin am 14. Juli 1923 in Schneidemühl geboren. Mein Vater ist Karl Bayer und meine Mutter Dora, geborene Weller. Mit meiner Mutter und meinen Geschwistern, außer meiner Schwester Eva, waren wir dann 1945, am 27. Januar, auf der Flucht, weil mein Vater es nicht mehr verantworten konnte, uns dort zu lassen, weil wir schon die Geschützdonner von den Russen hörten.

Wir sind ganz bequem eigentlich mit einem Zug gefahren, obwohl es ein bisschen länger gedauert hat. Aber wir sind nach Berlin gekommen und haben dann gewartet, bis mein Vater kam. Meine Mutter war eigentlich fast nicht ansprechbar, weil mein Vater nicht bei uns war.

Er war viele Jahre Zweigpräsident, in der kleinen Gemeinde Schönlanke. Er konnte nun die letzte Zeit auch nicht dort hin, weil die Züge einfach, man Scheine haben musste, um Zug zu fahren, und das war kein Grund, eine Gemeinde zu belehren. Jetzt war er nun allein in Schneidemühl. Wir waren fort und er wollte unbedingt zu uns kommen.

Er lud einen Schlitten, voller Dinge, die er einfach in der Wohnung fand, und ging los. Es waren 25 Grad Kälte und viel Schnee. Er wollte aus der Stadt Schneidemühl raus. Er kam an die Stadtgrenze, er traf dort einen Kollegen, der auch mit seinem Vater raus wollte. Die beide zogen mit ihren Schlitten an die Stadtgrenze und da standen Männer in SS Uniformen und haben gesagt, das geht nicht, alle Männer müssten zurück und alle Männer müssten in der Stadt bleiben, um die Stadt zu verteidigen.

Ich weiß nicht, was mein Vater gemacht hat, aber ich kann es mir denken. Er ist mit diesem jungen Mann, der sehr schwer kriegsbeschädigt war, ein Stückchen zurückgegangen, und hat gesagt, wir versuchen es einfach an einer anderen Stelle. Und dann ist er mit ihm an eine andere Stelle gefahren. Aber da ist wieder jemand von der uniformierten Truppe gestanden. Und als sie näher kamen, rief er: “Mensch Karl, wo willst denn du hin?“ sagte er zu meinem Vater. Es war ein Kollege, der zur SS eingezogen worden ist, die Schneidemühl zu bewachen. Dann hat mein Vater gesagt: “Ich muss zu meiner Familie nach Berlin“. „Ich habe nichts gesehen, macht, dass ihr fortkommt.“ Und dann sind die beiden weitergezogen mit ihren Schlitten.

Dann sind sie tatsächlich in die Nähe von Schönlanke gekommen, wo mein Vater viele Jahre Zweigpräsident war. Und dort haben sie einen Güterzug erreicht. Und da sind sie hineingestiegen. Und dieser Güterzug fuhr tagelang mit ihnen durch Westpreußen, durch Hinterpommern, bis sie er irgendwo in einer Stadt ausstieg und gesagt hat, ich glaube von hier aus komme ich am besten nach Berlin. Und tatsächlich, er mit seinem Schlitten, inzwischen gab es keinen Schnee mehr. Und er war immer noch mit seinem Schlitten unterwegs und den vielen Paketen drauf. Und wenn er auf dem Bahnsteig stand, und musste auf einen anderen Zug, hat er gesagt, bitte passen Sie auf meine Sachen auf, ich komme gleich wieder und hol die Nächsten. Da hat er immer die Sachen so rumgeschleppt. Dann kam er endlich in Berlin an.

Ich hab das nicht miterlebt. Ich war gerade bei anderen Freunden und da wurde ich da angerufen: „der Vater ist gekommen!“ Und da bin ich natürlich schnell zu meiner Tante gefahren. Und da hab ich meinen Vater gesehen. Er war fast verhungert, ganz mager, und er war krank; seine Fußzehen waren erfroren, die waren schwarz. Und in dem Zug ist es ja eisig kalt. Es gab ja nichts. Leute, die da drin saßen, es war ein Zug, der Tiere transportierte, nur so eine kleine Lucke. Die Leute, die da drin waren, die haben sich nie gesehen. Und dann haben sie immer nur gerufen: „Herr Beyer, kommen Sie einmal in unsere Ecke unter unser Bett, damit sie sich hier aufwärmen“.

Und da hab ich viel später eine Kollegin gefunden, irgendwo und da hat sie erzählt, dass sie in dem gleichen Wagen war, und dass mein Vater sie alle immer aufgemuntert hat. Er war ja immer sehr lustig und hat dann immer die Leute ein bisschen aufgebaut, die alles verlassen hatten.

Unter andern war eine Bäckersfrau aus unserer Nähe in der Heimatstadt, deren Mann war noch einen Tag zuvor, durch eine Rakete getötet worden. Und da mein Vater seine Schuhe nicht mehr anziehen konnte, hat sie Rieseschuhe gehabt und die bekam dann mein Vater. Er kam dann mit so Riesenschuhen an. Alle halfen sich gegenseitig. Er hat dafür gesorgt, dass sie nicht alle ganz so traurig waren über diese Dinge, die da geschehen sind.

Er hatte ja seine Geschwister wohnen in der Nähe von Halle an der Saale, in der Lutherstadt Eisleben. Und dann haben wir telegrafiert, „dürfen wir kommen, weil es in Berlin schon gefährlich wurde mit den Luftangriffen? Und dann haben die zurücktelegrafiert, wir können kommen. Dann haben wir uns im Februar aufgemacht und sind dann nach Halle an der Saale und nach Eisleben, wo wir gelandet sind. Und da ging dann der Krieg zu Ende. Dann kamen die Amerikaner, die die Gegend übernommen hatten. Und leider haben die Amerikaner noch 1945, ich glaube im Sommer oder etwas später, Sachsen und Sachsen Anhalt, den Russen abgegeben. Und dann hatten wir die Russen, vor denen wir eigentlich geflohen waren, doch wieder da.

Wie gesagt, von Berlin aus, sind wir nun in Halle an der Saale, in Eisleben gelandet, bei Verwandten meines Vaters. Jetzt war der Krieg zu Ende und es ging gar nichts mehr. Wir wussten nicht, wo wir eine Gemeinde finden konnten. In Eisleben gab es keine Gemeinde. Und das konnte mein Vater nicht haben.

Ehe wir von Schneidemühl weggingen, hat er zu uns gesagt: „Ich habe hier eine Aktentasche, sie ist voller Zehntengelder aus meiner Gemeinde Schönlanke. Und ich konnte die letzten Monate das Geld nicht mehr wegschicken. Und zu meiner Mutter und mir sagte er: „Ihr beide seid mir für diese Tasche verantwortlich“. Und wir haben auch sehr gut aufgepasst. Aber, nun in Eisleben gab es keine Gemeinde.

Wo ist eine? In Halle? Wir konnten nicht hin. Es gab keine Züge; die liefen. Erst im Herbst. Dann sind wir eines Tages gefahren; ein Zug fuhr nachts um drei. Eigentlich zum Lachen. Mein Vater und ich machten uns auf und sind nach Halle gefahren. Wir haben gefragt bei der Polizei, wir haben Leute gefragt: „Wo ist die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage?“ Keiner konnte es uns sagen. Jetzt standen wir auf der Straße und warteten auf die Straßenbahn, die uns zum Bahnhof wieder zurückbringen sollte. Da war ein älterer Mann, der das Pflaster auf der Straße ausbesserte. Er klopfte auf die Steinchen und legte ein Steinchen an das andere, und wir mussten eine Weile zuschauen, bis die nächste Straßenbahn kam. Dann fragte mein Vater: „Sind sie Hallenser?“ Er sagte: “Ja, ja, ich bin hier geboren, ich gehöre hier her.“ „Ja, kennen Sie vielleicht die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, man sagt auch Mormonen?“ „Ja, klar, in der Rathaus Straße“.

Da fiel uns ein Stein vom Herzen. Wir gingen natürlich nicht zum Bahnhof, sondern wir haben die Rathausstraße besucht, denn die war schnell zu finden, denn das ist eine Straße, die vom Marktplatz aus geht. Wir sind in das Haus. Die Gemeinde hatte dort eine größere Wohnung gemietet. Ja in der Woche war da niemand. Da haben wir Nachbarn in dem Haus gefragt. Da hat eine Dame gesagt, ja wir kennen den Herrn, der die Gemeinde leitet, der wohnt da und da. Und dann sind wir dahingefahren und haben den Gemeindepräsidenten von der Gemeinde Halle gefunden. Und ich erinnere mich, seine Frau bot uns Brötchen an mit Fleischsalat, und ich esse heute noch an den Brötchen mit Fleischsalat. Noch nie wieder so was gegessen, bis dahin. Jedenfalls war das phantastisch. Und wir konnten hin.

Aber wie gesagt, nachts um drei, sind mein Vater und ich nachts losgezogen und haben in der Bahnhofshalle gewartet, bis es neun Uhr war und die Kirche anfing. Wir haben so viel menschliches Strandgut in diesen Nächten erlebt, wann wir immer gefahren sind. Es war manchmal furchtbar. Aber es war auch, dass uns viele Menschen furchtbar leid taten, die dort gelandet waren und nicht wussten wohin. Und wir wussten und gingen dann dahin zur Kirche.

Der 1. Januar 1946 war ein Sonntag. Und in dieser Gemeinde war ein älterer Bruder mit seiner Frau. Sie war Jüdin und war vom Konzentrationslager in Theresienstadt entronnen. Sie wohnten nun in Halle. Er sagte zu mir. „Wissen sie, ich fange am 2. Januar bei der Regierung an, und die haben zu mir gesagt, da können Sie aber gleich die Sekretärin mitbringen. Da ich gehört habe, dass Sie so etwas gemacht haben früher, wir hatten uns schon öfter unterhalten, wollen Sie nicht mitkommen?“.

Und bei ihnen übernachtete ich. Seine Frau und er nahmen mich mit nach Hause. Und am Montag sind wir dann zur Regierung gegangen, zur Landesregierung Sachsen Anhalt in Halle und haben unsere Stellung angetreten dort. Er seine und ich meine. Nach einer Woche wollte ich endlich mal nach Hause, ich hatte ja keine Sachen mit. Ich hatte ja nur das Kleid, das ich sonntags zur Kirche an hatte. Aber der obere Chef wollte mich nicht gehen lassen. Mein Chef hat gesagt: „Wenn ich was zu sagen hätte, dann dürften Sie nicht nach Hause fahren.“ Aber endlich bin ich nach Hause gefahren und habe mich wieder eingekleidet.

Ich war dann bis April 1951 bei der Landesregierung Sachen Anhalt beschäftigt. Aber es war auch nicht sehr schön. Alles, was gemacht wurde; alles, was getan wurde, wurde mit den Russen gemacht. Mich haben sie zwei Jahre lang, nachts immer aus meiner Wohnung geholt, in die Gegend, wo die Russen die Häuser belegt hatten, wurde ich hingefahren und wurde da verhört von russischen Offizieren. Da war ein Offizier, ein bildschöner junger Mann, der hatte mich das erste Mal verhört mit einem Übersetzer. Und dann, das nächste Mal, sprach er deutsch mit mir. Da war immer so eine Woche zwischen, dass sie mich wieder abgeholt hatten. Deutsche Polizei stand vor der Tür holte mich, um die Ecke wartete der Wagen mit den Russen und dann fuhren wir weg dorthin. Ach dann fragte er viel Zeug und viele Jahre habe ich gewusst, was sie mich gefragt haben, jetzt habe ich es nicht vergessen.

Dann kam ich dahinter – Leute im Haus sollte ich bespitzeln, den Chef und alle und dann haben sie scheinbar es gemerkt, dass sich zur Kirche gehe. Und eines Tages sagte er zu mir: “Wird in ihrer Kirche Politik gepredigt?“ Ich antwortete: “Seit wann wird in einer Kirche Politik gepredigt?“ „Na ja, es kann ja sein“. Sagte ich: „Kommen Sie doch mal hin und horchen sich das an.“ „Das kann ich leider nicht, ich habe kein Zivil“. Das nächste Mal hat er mich in Zivil verhört, also hat er mich da beschwindelt. Eines Tages sagte er zu mir: „Die deutsche Bibel ist falsch, erkennt die russische, das ist alles Blödsinn, was in der deutschen Bibel steht. Und Gott ist nicht allmächtig“. „So das beweisen Sie mir einmal“. „Wenn ich da einen großen Stein hinlege, und sag zu ihm, er soll ihn aufheben, das kann er nicht“. „Das muss er auch nicht machen“. Eines Tages, sagte er zu mir, ich sollte Namen bringen, in der nächsten Woche.

Ich wohnte nämlich bei einer alten Schwester in einer Wohnung, die hat die Zimmer, die sie nicht mehr brauchte, hat die vermietet. Da wohnte ich, da wohnte noch eine andere Schwester mit einem Kind und da wohnten vorher auch Missionare drin. Die Namen sollte ich bringen und wo die jetzt sind. Da bin ich losgegangen. Hab mich in einer Woche vor die Tür gestellt, hab geklopft und sagte, ich möchte zum Major, ich bin da hin bestellt. Und da hat der Soldat gesagt: „Nix Major, Major wek“.

Da war ich froh, dass ich nicht mehr dahin musste. Und unter anderem hat er zu mir gesagt, wenn ich jemals, ein Wort von dem, was hier gesprochen wurde, erzähle, dann komm ich nach Sibirien. Dann hab ich gesagt, Sibirien, ich nicht, ich hab hier meine Familie, ich geh doch nicht nach Sibirien. Oh, hat er gesagt, Sibirien ist schön“! „ So, waren Sie schon Da?“ „Ja, warum sind Sie nicht da geblieben, wenn es da so schön war“.

Und an dem Tag, da war es drei Uhr nachts, um 11, 12 Uhr nachts haben sie mich immer geholt und um drei Uhr nachts haben sie mich immer nach Haus gefahren, mit dem Soldaten. Aber es ist nie etwas passiert. Und das letzte Mal eben steht er von dem Tisch auf, wo wir saßen und geht in den Raum, es war ein Riesenzimmer, es standen keine Möbel, außer dem Tisch drin, wo sie die Leute verhörten und ganz in der Ecke stand eine Couch. Und er steht auf und legt sich da auf die Couch. Da bin ich aber auch aufgestanden und hab die Hände in die Hüften getan, und hab gesagt; „ was soll denn das jetzt werden?“ Dann hat er gesagt.“ Sie müssen keine Angst haben, Sie werden nicht vergewaltigt.“ Und er sprach so perfekt deutsch, wie ich Ihnen das jetzt sage. „ Ich hab dem Soldaten schon Bescheid gesagt, dass er Sie nach Hause fahrt “.

Dann sagte ich zu meinem Chef: „Nun bin ich fertig. Ich kündige. Ich gehe vielleicht zu meinen Eltern zurück nach Eisleben.“ Ich habe aber nicht gesagt, dass ich nach Düsseldorf gehen wollte. Ich habe von 1946 bis April 1951 bei der Landeregierung Sachsen Anhalt gearbeitet, aber es war mir nicht mehr möglich, denn ich wurde vielmals nachts von den Russen abgeholt und sollte Leute bespitzeln und dachte ich werde in den Westen gehen ich hatte meinen Bruder und eine Tante in Düsseldorf. Ich habe dann gekündigt.

Eines Tages hat mich ein Kollege mitgenommen, der an die Grenze fuhr. Und mein Kollege hat den Grenzbeamten angesprochen und hat gesagt, wie ist das, wenn man einmal über die Grenze geht. „Wollen Sie?“ Nein, es wollte eine junge Dame rüber. Ja, das geht schlecht. Meine Kollege, möchte daran verdienen, weil er so wenig bekommt. Und das geht nicht“. „Aber wir machen etwas. Wenn sie uns ganz weit mit dem Fahrrad wegfahren sieht, dann soll sie losgehen, aber gebückt, damit sie nicht gesehen wird von der russischen Seite. Dann bin ich eine halbe Stunde gelaufen am Bahndamm, bis ich dann Menschen traf, einen Bauern und Frauen, die für ihn gearbeitet haben und Kartoffeln gesteckt haben.

Und er fragte mich: “Wo kommen Sie denn her? Kommen Sie aus Russland?“ Habe ich gesagt, da bin ich froh, dass ich in England bin, weil ich unterdessen in die englische Zone gerutscht bin. Komischer Weise sagte der Bauer dann zu mir: “Was mach ich mit Ihnen, ich kann Sie nicht durch unsere Grenze schicken. Unsere Westdeutschen sind genau so hart, die schicken Sie gleich wieder zurück. Aber, das können wir anders machen.“ „Laufen Sie ganz dicht neben meinen Pferden her. Dann sehen Sie da hinten eine Allee. Wenn Sie diese Allee betreten, dann sind Sie schon frei. Weiter da hinten da ist eine Molkerei, da kommen jetzt um diese Zeit die Bauern, die bringen ihre Milch und da ist immer einer dabei, der ein Auto hat und der fährt Sie zu einem Bahnhof und dann kommen Sie schon weiter.“

Ich bin morgens losgegangen und am Abend war ich in Goslar bei einer Familie aus meiner Heimatgemeinde und war mit meinen Jugendfreunden dort zusammen. Und das war wunderbar, das war so ein Segen und immer wieder hab ich das Gefühl gehabt, es hilft jemand nach.