Stettin, Pommern
Mein Name ist Dieter Hermann Erich Berndt, verheiratet mit Gisela Berndt, geborene Voigt, wir leben jetzt hier in Berlin. Ich bin am 6. Juni 1938 in Stettin, Pommern geboren. Mein Vater ist Erich Berndt, meine Mutter Erika Berndt, geborene Boldt. Mein Vater ist bei einem Bombenangriff der Amerikaner, die Luftminen geworfen haben, was eigentlich verboten und gegen die Genfer Konvention war. Dabei wurden meinem Vater in einem Bunker durch den Luftdruck die Lungen zerrissen. Das war Ostermontag 1944.
Wir waren evakuiert. Mein Vater hatte uns, wegen der Bombenangriffe, auf ein Dorf in Hinterpommern geschickt. Meine Mutter ist in den letzten Kriegsmonaten, mit mir und meiner Schwester Silvia, aus Hinterpommern über Stettin geflüchtet. Wir sind aber von den Russen überholt und zurück verschleppt worden in polnische Gebiete. Eineinhalb Jahre später sind wir ausgewiesen worden und dann in die Nähe von Hamburg nach Ahrensburg gekommen.
Wir sind aus einer alten Mormonenfamilie. Mein Urgroßvater ist die erste Generation, mein Großvater die zweite, meine Mutter die dritte und ich bin die vierte Generation. Stettin war eine große, starke Gemeinde seinerzeit wie Berlin. Mein Großvater väterlicherseits war dort schon Gemeindevorsteher, das war ungewöhnlich zu der Zeit. Mein Vater war auf Mission gegangen und ist nach seiner Rückkehr dann Distriktspräsident gewesen. Er ist Ostern 1944 umgekommen. Ich glaube dann gab es keine weitere Distriktsleitung mehr in Stettin. Ich bin aber nicht sicher. Mein Vater war zu seiner Zeit einer der wenigen deutschen Missionare. Er hat im Dresdner Gebiet gedient. Dort gab es Geschwister und Brüder, die mich, als ich dort Regionalrepräsentant war, angesprochen und gesagt haben:“ Ich kenne einen Erich Berndt, offensichtlich Ihren Vater?“ Ein alter Bruder aus Plauen, Bruder Schmidt, hatte ein Bild, das er immer bei sich trug. Darauf war er und noch ein Bruder mit zwei Missionaren zu sehen, einer davon war mein Vater, und er sagte: “Das war mein Freund, er war Vollzeitmissionar!“
Wie schon gesagt, war mein Opa Gemeindepräsident in Stettin. Wir waren offensichtlich eine tätige Familie. Ein Großteil der Familie ist um 1900 ausgewandert. Die Mutter von meinem Vater ging nach Utah, weil ihre Tochter dorthin geheiratet hatte, sie hatte einen Missionar aus Price kennengelernt. Als meine Oma dort war, schrieb sie einen Brief und sagte:“ Bleibt bloß in Deutschland, das ist hier ja schlimmer als in Polen!“ Und Polen war für Deutschland schlimm. Dann hat sie ihr Geld gespart und ist nach drei Jahren wieder nach Deutschland zurückgekommen.
Bevor mein Vater auf Mission ging, ist da eine große Auswanderungswelle gewesen, genau wie später nach dem zweiten Weltkrieg. Damals sind viele Familien aus Stettin ausgewandert, so auch sein Freund Karl Ebert. Er selbst hatte auch alle Papiere fertig, um auszuwandern, aber er ist auf Mission berufen worden. Dadurch ist er in Deutschland hängen geblieben. Sein Freund Karl Ebert, hat als Deutscher die Kredit-Union gegründet und war ihr erster Präsident, weil man sich so gegenseitig mit Geld helfen wollte in Salt Lake. Er hat noch bis vor kurzem gelebt.
Zur Zeit unserer Flucht war man als Kind sehr stark auf sich selbst angewiesen. So wurden wir verschleppt, wir flüchteten mit den deutschen Truppen und haben es dann bis Neubrandenburg geschafft. Da haben uns die Russen überholt. Dann wurden unsere Pässe kontrolliert und wir wurden auf die Eisenbahn verfrachtet in offenen Viehwaggons verfrachtet, dann wieder zurück auf polnisches Gebiet gebracht. Meine Mutter und mein Opa wurden verschleppt. Sie mussten die kaputten Schienen wieder neu verlegen und wir waren mit unserer Oma allein. Als Frau war das für sie alles nicht so leicht. Und im Grunde genommen habe ich meine Schwester und meine Oma als Achtjähriger durchgebracht. Ich bin in die zerbombten Häuser, in die Keller hineingekrochen. Da wussten wir, da gab es Eingemachtes in Gläsern. Es gab kein Geld, keine Arbeit, es gab nichts zu kaufen. Man war so auf sich angewiesen. Man lebte in kaputten Kellern. Dann kamen die ersten Polen. Die haben uns ausgeraubt und aus den Kellern vertrieben, weil da noch ein bisschen war. Dann standen wir wieder auf der Straße und haben eine Unterkunft und Essen gesucht. Oft wusste meine Mutter nicht wo wir waren. Es war schon schlimm. Ich habe oft erlebt, wie sie wieder vergewaltigt wurde. Das hat man ja als Kind alles mitgekriegt. Da war ich eigentlich noch sehr klein. Nachher habe ich mich entwickelt, als ich plötzlich merkte, dass ich für alle sorgen musste. Da ist man mit acht Jahren plötzlich wie ein Zwölfjähriger gewesen.
Wir lebten ja dort als Deutsche und Kriegsvertriebene in einem polnischen Gebiet, in einem absolut rechtsfreiem Raum. Da waren die Russen und die Polen mit Rachegefühlen und dem entsprechenden Hass. Die haben natürlich zuerst einmal gemacht, was sie wollten. Aber dann endlich sind wir herausgekommen, ausgewiesen und sind dann nach Ahrensburg, Holstein gekommen, das ist bei Hamburg.
Bruder Monson hat kürzlich eine Geschichte von mir erzählt, als er an der Uni gesprochen hat. Wir hatten ja eigentlich alles verloren. Auf der Flucht hatte ich immer nur einen kleinen Rucksack. Meine kleine Schwester einen noch kleineren und meine Mutter einen großen Rucksack. Das war alles, was wir an Kleidung auf dem Leib trugen. Das Wenige hat man uns herausgestohlen. So waren wir beinahe zwei Jahre unterwegs. Wir hatten ein paar Fotos. Als ich Regionalrepräsentant war, kam einmal ein Bericht in der Church News über meine Familie, es war ein längerer Bericht. Das las ein Bruder Cannon, der ging zu Bruder Monson und sagte: „ Ich kannte einen Berndt, als Missionar in Stettin (das war mein Vater), wenn Sie den einmal treffen, zeigen sie ihm diese Bilder, er gab zwei alte Dias mit, und fragen sie ihn, ob das seine Eltern sind.“ Bruder Monson nahm die mit. Ich hatte geschäftlich in der Schweiz zu tun und stieg in Zürich in das Flugzeug und wer stieg auch ein, Bruder Monson, der auch von Zürich nach Berlin wollte. „Dieter, ich habe hier zwei Bilder von Berndt aus Stettin!“ Da bin ich als Baby zu sehen, mit meinem Vater und meiner Mutter, eines der wenigen Bilder von mir in diesem Alter.
Nachdem meine Mutter ihren Mann verloren hatte und als der Krieg zu Ende ging, ist meine Mutter mit uns mit den deutschen Truppen mitgezogen. Die Truppen haben im Wesentlichen versucht, Häfen und Straßen frei zu halten, damit die Flüchtlingsströme nach Westen kommen konnten. Immer wieder waren Luftangriffe. Da kamen Bomber und wir sind in den Graben gesprungen und haben versucht uns zu schützen. Dann kamen wir wieder heraus und die Toten lagen neben uns, aber wir haben nie etwas abgekriegt. Neben uns wurde direkt einer von einer Granate zerrissen. Aber wir drei sind nicht einmalverletzt worden. Wir sind dann über Stettin, da haben wir meinen Opa und meine Oma mitgenommen und weiterhin nach Mecklenburg, sind dann wieder zurück nach Stettin, das war die furchtbare Zeit dort. Und dann nach Ahrensburg, da konnte man mit der U-Bahn nach Hamburg fahren. Meine Mutter hatte immer den Wunsch, dass sie wohin kommt, wo auch eine Gemeinde ist. Die Flüchtlinge kamen überall hin, wurden auf die Dörfer verteilt, da waren nämlich keine Gemeinden oder aber auch nicht erreichbar. Aber in Ahrensburg war das anders. Damals gab es nur eine Gemeinde in Hamburg Altona, in einer zerbombten Schule und dahin konnten wir dann mit der U-Bahn fahren. Dann wurden die Gemeinden aufgebaut, Uferstraße kam dazu, was heute Wartenau ist und da bin ich eigentlich groß geworden.
Ich weiß nur, dass in Stettin eine große Gemeinde war, dass wir auf einem Hinterhof waren, da war ein alter Stall. Die Gemeinde war immer voll. Wir hatten einen tollen Chor, den hat Bruder Kühne geleitet. Ich war sehr jung, da wurde ich Distrikts- und später Missions-GFV-Leiter. Damals war ich GFV-Leiter in der Ostdeutschen Mission. Damals war die DDR zusammen mit den Distrikten Hannover, Hamburg, Schleswig Holstein und Bremen. Der erste Ratgeber zum Leiter kam immer aus dem Osten. Ich war GFV-Junge Männer Leiter und meine Frau wurde nach ihrer Mission, GFV-Leiterin im Osten, das war organisatorisch die Ratgeberin zur Leiterin im Westen, nur Formalismus. So hatten wir eine gemeinsame Jugendtagung, Ostern 1961, hier in Berlin.
Da hatten wir, weil wir beide in der Leitung waren, viel gemeinsam zu tun. So haben wir uns kennengelernt und angefreundet. Wir haben uns sehr schnell entschlossen zu heiraten. Wir haben uns hier in Berlin getroffen, sie ist schwarz über die Grenze gekommen. Das ging, es war kein Problem. So hatten wir uns einmal verabredet, dass sie meine Mutter und meine Schwester in Ahrensburg kennenlernen sollte. Wir hatten uns an einem Dienstag verabredet. Am Sonntag davor, hörte ich Radio, bevor wir in die Gemeinde gingen und da meldete man, dass die DDR eine Mauer in Ost-Berlin gebaut hat. Für mich war klar, dass meine zukünftige Frau jetzt nicht mehr herüber kommen konnte. Jetzt war es vorbei. Ich wollte nach Berlin und wollte die Flucht für meine Freundin organisieren. Meine Mutter hat mich erst einmal zur Vernunftgebracht. „Gehen wir erst einmal in die Versammlung, dann wollen wir sehen, was ist“, meinte sie. Wir kamen zurück und dalag ein Telegramm von Gisela aus West-Berlin: „Du brauchst keine Sorge zu haben, ich bin wohlbehalten im Westen“.
Wie war das gekommen? Sie sollte am Dienstag, jetzt nach dem Mauerbau nach West-Berlin fahren, dort hatte ich ein Flugticket hinterlegt, dann sollte sie schwarz von Berlin nach Hamburg fliegen. Am Sonnabend davor, als die Mauer gebaut wurde, hatte sie auch Geburtstag und es war ihr erster Geburtstag nach einer siebenundzwanzigmonatigen Mission. Aber am Morgen kam ihr Vater und sagte: „Ich habe das Gefühl, du solltest eigentlich schon heute nach West-Berlin fahren!“ Da haben die Frauen, sie und ihre Mutter gesagt: „Mein erster Geburtstag, Kuchen und Feier und warum schon abreisen. Warum soll sie jetzt schon fahren? Sie muss bei jemandem schlafen.“ Da ist der Vater zum Bahnhof gegangen, hat ein Ticket gekauft für seine Frau und für Gisela und hat gesagt: „Um die und die Zeit ist euer Zug, fahrt nach Berlin und ihr werdet sehen, wie es dann weiter geht!“
Sie waren gehorsam und sind gegen Mittag von Cottbus nach Berlin gefahren. Da war schon Gefahr! Die Polizei hat kontrolliert, hat die Jugendlichen aus den Zügen herausgeholt und nicht durchgelassen. Aber da ihre Mutter dabei war und sie auch ihren Bruder in Ost-Berlin hatte, haben sie belegen können, dass sie einen Besuch planen. Da haben die Polizisten sie durchgelassen bis Königswüsterhausen, da ist dann die S-Bahn, da kann man umsteigen, da ist Stadtverkehr, da mischt sich so wie so alles. Dann sind sie rüber gefahren in den Westen zu Seehagens, mit denen wir befreundet sind und haben gesagt: „Wir wollen nur sagen, dass wir da sind, wir holen uns die Flugkarte für Dienstag, aber jetzt gehen wir wieder nach Ost-Berlin, denn da ist der Bruder und da schlafen wir!“ Und da hat Rudi Seehagen gesagt: “Ach, bleibt hier, schlaft hier!“ So sind sie im Westen geblieben. In der Nacht wurde die Mauer gebaut.
Die Mutter ist später zurückgegangen. Meine Frau durfte dann fünf Jahre nicht hinüber und ihre Eltern sehen. Sie wäre verfolgt und eingesperrt worden. Es war eine inspirierte Sache ihres Vaters. Als ihre Eltern ins Rentenalter kamen, sind sie herüber gekommen. Ihr Vater war in Cottbus Gemeindevorsteher, dann hier in Berlin Patriarch, Bruder Monson hat ihn eingesetzt. Er wusste nicht, als er mich am gleichen Tag zum Pfahlpräsidenten berief, dass Bruder Voigt mein Schwiegervater ist. Erst später hat er festgestellt, dass wir eine Familie sind.
Ich habe Ingenieurwissenschaften studiert und bin nach zwei Jahren in der Industrie mit meiner Frau nach Ghana, Afrika gegangen. Da habe ich eine der größten Baustellen zu dieser Zeit in Afrika geleitet. Dort habe ich ein großes Lebensmittelwerk aufgebaut, eine Ölmühle, Weizenmühle, Schokoladenfabrik, Dosenfabrik, Margarinefabrik, Fischfabrik, ein Tiefkühlhaus. Dann sind wir wieder nach Deutschland gegangen. Dann bin ich zu Bosch gegangen, war in der Führung und bin an die Hochschule berufen worden. Später habe ich mich beruflich spezialisiert auf Verpackungstechnik. Man sagt, ich sei einer der führenden Männer in Europa für diese Sache und bin Präsident des Europäischen Verpackungsinstituts gewesen, das ich auch gegründet habe, auch Präsident des Deutschen Verpackungsinstituts. Meine Bücher sind Standartwerke dieser Branche geworden.
Bischof war ich in Eppendorf. Ich bin als Bischof von Hamburg weggegangen, bin hierher nach Berlin gekommen. Ich war gerade hier und bin in den Hohen Rat berufen worden. Ein halbes Jahr später wurde ich Ratgeber in der Pfahlpräsidentschaft und später noch 6 ein halb Jahren Pfahlpräsident. Nach neuneinhalb Jahren wurde ich als Regionalrepräsentant berufen und war zuständig zuerst für Österreich und die DDR und später für die Schweiz und die DDR. Ich war im Amt, als der Tempel in Freiberg geweiht wurde, als die ersten Missionare in die DDR kamen und als die Gemeindebauten erstellt wurden Das war eine interessante und außergewöhnliche Aufgabe. Man musste sehr stark in Materielle Dinge, in Politik und Handel einsteigen, es waren nicht nur Priestertumsaufgaben. Die entscheidenden Dinge hat natürlich die Gebietspräsidentschaft entschieden, Elder Ringger war hier direkt zuständig. Ich war eben vor Ort. Das war eine interessante Umbruchzeit, es hat sich einiges getan.
Ich habe diese Zeit, als der Tempel gebaut wurde, doch ein bisschen anders gesehen. Viele sahen das in der Kirche doch sehr verklärt und sagten: „Das war nun wirklich nur des Herrn Führung.“ Natürlich war es des Herrn Führung. Aber der DDR stand auch das Wasser bis zum Hals und sie mussten West-Geld haben. Da hätten sie alles getan. Wir wollten einen Tempel und Gemeindehäuser haben, da hat die DDR zugegriffen, das war der Schlüssel. Da soll man sich nichts vormachen. Für uns aber war das natürlich ein Segen. Es war mir auch immer klar, dass die Leute mit denen ich verhandelte STASI Leute waren. Herr Seidel war ja ein General der STASI, was später auch bekannt wurde.
Später habe ich auch meine STASI Akte eingesehen. Ich hatte eine umfangreiche Akte. Es hat mich sehr, sehr enttäuscht, als ich einiges lesen musste. Ich bin von Geschwistern, von Brüdern in hoher Position bespitzelt worden, die haben Berichte über mich und andere Kirchenführer geschrieben. Man sagt da lieber die Namen nicht und spricht nicht darüber. Aber es ist nicht alles so goldig gewesen, das muss man sagen. Jene, die gespitzelt und Berichte geschrieben haben, hätten dieses nicht tun müssen. Ich denke jene wissen nicht, dass ich es weiß.