Murau, Obersteiermark, Österreich
Ich heiße Hannelore Bernier, wurde 1939 in Murau, Steiermark / Österreich geboren und wohne jetzt wieder in meinem Geburtsort. Mein Vater Martin Kabinger und meine Mutter Maria Slawik wurden durch den Krieg getrennt; mein Vater fiel 1944. Er war Österreicher und meine Mutter kam aus Schlesien. Der Tod meines Vaters hatte nicht nur große Trauer, sondern auch finanzielle Probleme zur Folge. Meine Mutter bekam vom österreichischen Staat kein Geld, da sie ja ursprünglich aus Deutschland kam. Weil sie aber in Österreich lebte, bekam sie auch aus Deutschland keine Unterstützung.
Zu dieser Zeit waren mein Bruder und ich gerade einmal zwei bzw. vier Jahre alt. In Murau wohnte zu der Zeit auch die Schwester meiner Mutter mit ihren drei Kindern, Horst, Gudrun und Gerd. Sie arbeitete als Schneiderin, während ihr Mann aus politischen Gründen inhaftiert war. Durch ihre Arbeit als Schneiderin trug sie zum Lebensunterhalt der beiden Mütter mit den insgesamt fünf Kindern bei. Ihr Mann konnte Häftling schließlich nicht zum Lebensunterhalt beitragen. So waren wir sehr arm und wuchsen entsprechend auf. Nach dem Ende des Krieges kam meine Großmutter mütterlicherseits zu uns nach Murau und lebte mit uns zusammen bis zu ihrem Lebensende. Sie hatte aus Schlesien fliehen müssen und konnte nicht mehr dorthin zurückkehren. Insgesamt waren wir also 8 Personen, die von dem wenigen Geld leben mussten, das meine Tante als Schneiderin verdiente. Zeitweise schaffte es auch meine Mutter, Geld zu verdienen: Sie arbeitete dann als Übersetzerin und erledigte Schreibarbeiten. Die Übersetzungsarbeiten wurden meist von Engländern abgenommen, die sich im Rahmen der Kriegs- und Nachkriegswirren in Murau und der Umgebung aufhielten. In der Zeit, in welcher meine Mutter und meine Tante arbeiteten, wurden wir von meiner Großmutter erzogen.
Ich kann mich noch daran erinnern, dass sie sehr streng und eigentlich mit der Erziehung der fünf Kinder überfordert war. Obwohl sie so streng war, lehrte sie uns das Gebet. Leider verstarb sie an Krebs, etwa fünf Jahre nach Kriegsende. Die Anwesenheit meiner Großmutter in unseren jungen Jahren half uns, mit der Situation der Armut und den Nachkriegswehen zurecht zu kommen. Als sie starb, war ich etwa zehn Jahre alt. Sie muss ihren nahenden Tod voraus geahnt haben, denn sie verabschiedete sich von uns allen, bevor sie zum letzten Mal ins Krankenhaus in Graz gebracht wurde, wo sie nach etwa 2 Wochen verstarb.
Nach dem Tod meiner Großmutter war ich sehr traurig, wurde aber durch einen Traum getröstet, in dem ich sie bequem auf einem Stuhl auf einer Wolke sitzen saß. Sie war gesund und winkte mir fröhlich zu. Das war schon damals für mich ein deutlicher Hinweis darauf, dass mit dem Tod eines Menschen seine Existenz nicht endet, sondern nur in einer anderen Form weitergeführt wird. Dies erweckte in mir schon zu Zeiten meiner Kindheit eine Art Gewissheit der ewigen Natur des Menschen, dass sein Sein eben nicht erst mit der Geburt beginnt und gewiss nicht mit dem Tod endet.
Während dieser Zeit wechselten sich Russen, Engländer und Amerikaner ab, die zeitweise in Murau und Umgebung stationiert waren. Nach den Russen kamen die Engländer, und zu den Engländern gesellten sich später auch Amerikaner. Um genug zu essen zu haben, tauschte meine Mutter viele Habseligkeiten bei Bauern gegen Milch, Butter und andere Lebensmittel. Die Armut und die schlechte Versorgung mit Lebensmitteln begünstigte viele Krankheiten. Als ich etwa fünf oder sechs Jahre alt war, bekam ich Tuberkulose. Ich war sehr geschwächt, und viele dachten, ich würde sterben. Als Katholikin bekam ich ein Sakrament, die sogenannte letzte Ölung – etwas, was im katholischen Glauben Menschen gewährt wird, von denen man weiß, dass sie bald sterben werden.
Trotz des Glaubens, dass ich bald sterben würde, kamen einige Klosterschwestern, die in dem Krankenhaus arbeiteten, in das ich mit meiner Tuberkulose eingeliefert wurde, zusammen und beteten für mich. Nach dem Gebet der Klosterschwestern ging es mir – wie durch ein Wunder – bald besser. Amerikaner brachten uns Penicillin. Das Gebet der Klosterschwestern zusammen mit der Verabreichung des Penicillins haben vermutlich mein Leben gerettet. Meine eigentliche Genesung dauerte aber recht lange. Da ich sehr schwach war, konnte ich nach dem Krankenhausaufenthalt noch nicht wieder zur Schule gehen. Ich wurde für sechs Wochen zur Erholung zur Burg Strechau geschickt. Die Burg Strechau diente lange Zeit als Erholungsheim in der Steiermark. Dort bekam ich gutes Essen, so dass ich mich vom Schlimmsten erholen konnte. Dennoch musste ich danach noch für etwa ein Jahr zuhause bleiben: Ich konnte nicht zur Schule gehen, weil ich noch zu sehr geschwächt war.
Etwa zu der Zeit, als ich wieder zur Schule gehen konnte, erkrankte mein Bruder an Diphterie / Krupp. Viele Menschen starben damals an Diphterie. Mein Bruder bekam fast keine Luft mehr zum Atmen und wurde, zusammen mit meiner Mutter ins Krankenhaus gebracht. Er wollte auch in ein Krankenhaus kommen, weil ich ja vorher im Krankenhaus gewesen war. Im Krankenhaus wurde mein Bruder geheilt. Zu der Zeit wurde meiner Mutter ein anderes Kind anvertraut, um das sie sich während des Krankenhausaufenthaltes meines Bruders kümmern sollte. Es verstarb in den Armen meiner Mutter. Meine Mutter, die sehr viel Verständnis und Mitgefühl hatte, war sehr erschüttert. Sie war uns immer ein gutes Vorbild mit ihrer Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und ihrem Fleiß. Vielen Murauern brachte sie das Schreibmaschineschreiben bei und war deshalb geachtet und beliebt.
Nach meiner Kindheit heiratete ich einen deutschen Mann und zog mit ihm nach Norddeutschland, wo ich einige Jahre lebte. Wir wohnten in der Nähe von Hamburg, als mein Sohn Roland Falke im Alter von 16 Jahren die Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage kennen lernte. Mein Mann stand der Kirche skeptisch gegenüber. Roland sollte von Missionaren besucht werden, aber mein damaliger Mann ließ sie nicht ins Haus kommen. Seine heftige Reaktion führte dazu, dass die Missionare nicht wieder kamen. Roland ließ sich davon nicht beeindrucken und fuhr ihnen mit dem Fahrrad hinterher, um mit ihnen zu sprechen. Er fand heraus, wo die Missionare wohnten und besuchte sie öfters, um sich mit ihnen über Religion zu unterhalten. Nachdem Roland für etwa ein dreiviertel Jahr sich intensiv mit der Lehre der Kirche beschäftigt hatte, schloss er sich 1980 der Kirche an. Er hatte damals aber nicht nur die Lehre der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage untersucht, sondern auch die Lehren verschiedener anderer Kirchen. Er unterhielt sich nicht nur mit den Missionaren über die Kirche, sondern auch mit einem Schulfreund vom Johann-Rist-Gymnasium in Wedel bei Hamburg, der damals schon Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage war.
Ich war zu der Zeit weder an der Lehre der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage noch an Religion im allgemeinen sehr interessiert. Auch gab es sehr viel Ärger in der Familie, weil Roland sich der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage angeschlossen hatte und mein Mann, aber auch andere Verwandte, strikt gegen diesen Kontakt waren.
Als Roland die Kirche untersuchte, war er katholisch. Er besuchte in der Schule sowohl den katholischen als auch den evangelischen Religionsunterricht und führte mitunter tiefgehende Diskussionen mit den Religionslehrern über den Vergleich der verschiedenen Lehren. Als Roland 16 Jahre alt war – es war im Frühjahr 1980 – sagte er, dass er sich der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage anschließen wolle. Damals war anscheinend bei Minderjährigen das Einverständnis der Eltern notwendig oder wurde seitens der Kirche angestrebt. Aus diesem Grund besuchten mich die Missionare, als mein damaliger Mann nicht zu Hause war. Ich erlaubte Roland, dass er sich der Kirche anschließen dürfe, wenn er das 18 Lebensjahr abwarten würde. Roland wollte sich aber zeitnah taufen lassen. Das Gespräch mit den Missionaren verlief sehr merkwürdig. Anscheinend kannten sie Roland gar nicht richtig. Sie sagten, dass Roland, wenn er sich der Kirche anschließen würde, nicht rauchen und nicht trinken würde. Das Argument war Unsinn, da Roland noch nie geraucht oder getrunken hatte und es auch nicht vorhatte. Er war schon damals – unabhängig von der Lehre der einen oder anderen Kirche – ein überzeugter Nichtraucher und Nichttrinker. Dazu trug auch sein sportliches Engagement bei; er war damals als Jugendlicher sehr aktiv im Radsport, unter anderem Hamburger Meister. Jedenfalls rauchte und trank er nicht – und das aus Überzeugung. So ärgerte es mich, dass die Missionare so ein unsinniges Argument brachten. Die Missionare hatten außerdem eine eigenartige Ausstrahlung, die mir unheimlich war. Ich wurde von heftigen Gefühlen überwältigt, begann zu weinen und stimmte dennoch seiner Taufe zu. So schloss sich mein Sohn damals der Kirche an.
Von der Zeit an begann er, öfter über die Lehre der Kirche zu reden. Er legte mir die Vorteile der Kirche dar. Einmal bekam ich mit, dass er ein seltsames Erlebnis hatte. Er wollte die Taufe einer jungen Dame besuchen, an derer Bekehrung er damals mitgewirkt hatte. An einem Mittwoch wurde ihm von einem Orthopäden der Fußnagel des linken großen Zehs gezogen, weil dieser eingewachsen war. Er musste damals im Bett liegen; immer wenn er aufstand, blutete die Wunde fürchterlich. Am Sonnabend nach dem Mittwoch, an dem Roland operiert wurde, war die Taufe der jungen Dame in Hamburg. Ich sagte damals zu Roland: „ Roland, du siehst, wenn du aufstehst, bluten deine Wunden. Du kannst also nicht zu dieser Taufe gehen.“ Roland sagte mir, er würde doch die Taufe besuchen, denn es wären Wesen da gewesen, die ihn geheilt hätten, so dass er die Taufe besuchen könne. Am Sonnabend vor der Taufe stand Roland auf. Er blutete nicht mehr und besuchte die Taufversamm-lung. Wir wohnten damals in der Nähe des Krankenhauses von Wedel. Er fuhr mit dem Fahrrad zur S-Bahn-Station Wedel, und fuhr dann mit der S-Bahn zur Gemeinde Langenhorn, besuchte die Taufversammlung und kam auf die gleiche Weise mit der S-Bahn und dem Fahrrad wieder nach Hause zurück. Während der gesamten Zeit hatte sein Fuß nicht geblutet. Als er zurückkam, musste er sich wieder hinlegen, die Wunde verhielt sich wieder genau so wie vor seinem Ausflug, und er musste wieder liegen, um keine heftigen Blutungen zuzulassen. Dieses merkwürdige Erlebnis gab mir zu denken, so dass ich mich mehr mit den Lehren der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage beschäftigte.
Im August 1982 schloss ich mich in Hamburg der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage an. Mein Mann, der heftig gegen die Kirche war, stellte mich vor ein Ultimatum. Er drohte mit der Scheidung, wenn ich mich der Kirche anschließen würde. Ich war und ich bin davon überzeugt, dass die Auswahl der Religion eine Sache der Gewissensfreiheit ist und dass man sich in dieser Hinsicht nicht erpressen lassen darf. So ließ ich mich nicht von meinem Mann erpressen und schloss mich der Kirche Jesu Christi an.
Wie angekündigt, ließ er sich von mir scheiden. Als Roland 18 Jahre alt war und gerade sein Abitur gemacht hatte, wollte er auf Mission gehen. Aufgrund der Scheidung war es aber schwer, das Geld für Rolands Mission aufzubringen. Ich hatte aber – Gott sei Dank – noch etwas Geld gespart. Es stellte sich auch eine Familie zur Verfügung, einen finanziellen Beitrag zur Rolands Mission beizusteuern. So war die Finanzierung von Rolands Mission gesichert. Er wurde damals in die Schweizerische Mission berufen und diente 19 Monate lang als Missionar. Damals war es üblich, dass die Missionare für 18 Monate berufen wurden; seine Mission wurde jedoch um einen Monat verlängert. Während Rolands Mission waren viele Mitglieder der Kirche mir sehr behilflich und standen mir mit Rat und Tat zur Seite. So kam ich gut über die Runden. Hierfür bin ich heute noch dankbar. Ich erhielt in dieser Zeit vielerlei Segnungen und spürte die Hilfe Gottes. Die Zeit vor Rolands Mission, in der ich selbst die Lehre der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage kennen lernte, und die Zeit während seiner Mission haben meine Überzeugung vom Evangelium Jesu Christi sehr gestärkt. Ich besuche heute in Österreich regelmäßig die Versammlungen, und meine Überzeugung von Gottes Hilfe und von der Richtigkeit der damaligen Entscheidung, mich der Kirche Jesu Christi anzuschließen ist stets gewachsen. Ich erinnere mich an einen Ausspruch in der Bibel, Sprichwörter: „Suche Gott zu erkennen auf all deinen Wegen, dann ebnet er selbst deine Pfade.“ Dieses Sprichwort hat sich in meinem Leben sehr oft bewahrheitet.