Gera, Thüringen
Mein Name ist Irene Brado, geborene Buse. Ich bin das achte Kind von sechzehn Kindern. Meine Mutter, Else Jäningen hat schon mit sechzehn Jahren geheiratet und mit siebzehn Jahren das erste Kind bekommen. Bis zum Jahre 1942, da kam das letzte Kind, das Sechzehnte. Mein Vater, Friedrich August Buse, war Arbeiter auf dem Schlachthof und hat versucht, die Familie durchzubringen. Er hat das Fleisch, das er geschenkt bekommen hat, mitgebracht und meine Mama hat das weitergegeben für Brot und Kartoffeln, damit
Wir überhaupt etwas zu essen hatten. Das war in Gera 1946 hat es bei uns geklopft, wir wohnten ganz oben, Steinweg 15 in Gera, und es standen zwei Missionare vor der Tür. Sie haben ganz, ganz lange nach meiner Mama gesucht. Sie muss als Kind schon einmal Mitglied gewesen sein, weil die Missionare den Namen Jänigen auf ihrer Liste stehen hatten. So haben sie eine riesengroße Familie in Gera gefunden. Wir waren so froh und glücklich und wir haben uns das angehört, immer wieder angehört. Dann haben sie gesagt: „Möchten sie auch einmal die Kirche besuchen?“
Wir hatten sonntags zweimal Kirche, Früh Sonntagsschule und dann Predigtgottesdienst. Montags hatten wir FHV und mittwochs hatten wir für Junge Damen, bei uns hieß das ganz früher Goldehrenleserinnen. Wir sind immer fester in die Gemeinde gekommen und nach einem Jahr haben sich sechs Schwestern und zwei Brüder von sechzehn taufen lassen, also genau die Hälfte, die dann der Kirche angehört haben. Die Missionare, Bruder Schmidt und Bruder Zellner, waren so froh, dass sie uns gefunden hatten. Von da an haben wir wirklich keine Stunde versäumt, um in die Kirche zu kommen. Wir sind immer alleine gegangen. Mein Papa war sowieso kein Mitglied und meine Mama hatte ja immer noch kleinere Kinder. Sie ist später ab und zu mitgekommen, aber im Grunde genommen sind wir sechs Mädchen und zwei Jungens immer zusammen in die Kirche gegangen. Es war nicht so weit, vielleicht sieben Minuten zu laufen und das haben wir gut geschafft.
Die Jahre gingen dahin Es kamen immer wieder Missionare. Wir waren wirklich ganz, ganz arme Leute. Meine Mutter hat abends nicht gewusst, was sie uns zu essen geben sollte. Sie hatte eben nichts. Wir waren Kinder, wir hätten nie gesagt, Mama, wir haben so einen Hunger, gib uns was zu essen. Wir hatten ja nichts. Wir sind abends mit leerem Magen ins Bett gegangen und früh mit leerem Magen wieder aufgestanden. Wir sind auch zur Arbeit gegangen, ohne etwas zu essen.
Da wir ja zu Hause kein Geld hatten, da haben mich, meine Missionarinnen, die mehr Geld hatten, wie wir, aber ohne dass die gesagt haben, wir müssen sie immer mit durchfüttern, die haben das, was sie hatten mit mir geteilt. Sodass ich die zwei Jahre gut überstanden habe. Vorletztes, da war ich im Missionsbüro. Dresden. Da war Bruder Burkhardt, der war unser Präsident hier vom ganzen Osten, da war die Evelyn Söllner, ihr Papa war früher auch bei uns Missionar und, da war ich mit der Tochter zusammen in Dresden auf Mission.
Das war wirklich schön. Und die Geschwister. Wir hatten eine Schwester, die kannte mich schon als junges Mädchen, die war auch von Gera und die kam dann in Magdeburg zu mir und sagte: „Schwester Buse, wir haben ja schon gehört, wo sie herkommen und dass sie so ganz arm, und wenn man zu Ihnen wollte, da müsste man ja so eine Hühnertreppe hoch“.
Ich sagte: „So schlimm ist es ja nicht. Wir hatten eine breite Holztreppe, weil wir ganz oben gewohnt haben“. Und die Schwester hat natürlich schon wieder gesagt: “Da ist eine ganz arme Schwester, die jetzt kommt, wenn man zu der auf Besuch kommen wollte, musste man ganz hoch“. Ich sagte: „Das macht nichts aus, ob ich oben wohne und ob ich arm bin. „Wie war es mit Christus”, hab ich gesagt, „wo ist er denn geboren“? Hat da jemand gesagt: ”O Christus, guck einmal, der ist im Stall geboren, da hat keiner ein Wort verloren“.
Na ja gut. Und die Geschwister, die waren so nett, auch zu mir. Ich hatte eine wunderschöne Zeit, die zwei Jahre. Missionspräsident war Henry Burkhardt. Ich kenne ihn, weil er oft in Gera bei uns war.
Der den Chor aufgebaut hat bei uns, das war ein Opernsänger, das war Bruder Schade, der ist nach Amerika ausgewandert und hat unsern Chor aufgebaut. Das war so ein Bruder, also. Der hat den Chor groß gemacht, ist klar. Jedes Mädchen hat für den geschwärmt. Der war ja nun auch groß und breit und hatte eine Stimme. Wir waren noch alle 17,18,19. Da schwärmten wir für so einen Bruder, ist ja logisch. Da sind wir für willig in die Chorstunde gegangen. Wir haben viele Theaterstücke aufgeführt bei uns in Gera. Wir waren in Erfurt, wo wir Theater gespielt haben. Dann hatten wir den E-Automaten aufgeführt, das war so ein Singspiel. Und da hatten wir eine Bildschau, der ist ja dann nach Amerika auch, der war bei uns Missionar, seine Frau, die hatte er dann geheiratet, der hat sie dann auch mitgenommen. Der war bei uns als Missionar. Die Annelie, die hat uns dieses Musikstück eingeübt. Das war so was von schön. Und da mussten wir sogar, sie war bei der Polizei, wir möchten doch das Theaterstück einmal bei der Polizei aufführen. Dann ist er wieder versetzt worden. Dann haben die Missionare den Chor geleitet, wie er weg war.
1956 bin ich von der Mission gekommen. 1957 bin ich nach dem Westen gegangen. Meine Schwester hat im Westen gewohnt. Es ist ein kleines Dorf gewesen. Dreisbach bei Siegen. Die hatte ein Wildfang kennengelernt, der war Soldat bei uns im Osten und er hat sie gefragt, ob sie ihn heiraten würde, er hätte aber fünf Kinder. Sagte sie: “Na klar“. Die war froh aus der Armut wegzukommen. Wie waren so arm, da immer noch. Da ist die frohen Herzens mitgegangen und hat selber dann noch neun Stück bekommen. Drei Mal Zwillinge. Wie die letzten beiden Kinder kamen, da ist die Schwester mit neunundvierzig Jahren verstorben. Sie war fünf Jahre älter als ich. Und die haben mich freudigen Herzens aufgenommen. Auch die Kinder.
1956 mussten sie Arbeit haben und auch einen Platz, wo sie schlafen können. Sonst hätten sie mich wieder zurück geschickt nach dem Osten. Da hat meine Schwester gesagt: “Das kommt gar nicht in Frage, du bleibst jetzt hier.“ Die hatten selber nur drei Zimmer. Die haben alle zu zweit in einem Bett geschlafen, und das ging. Das ging so eineinhalb Jahre.
Aber ich muss sagen. Ich habe 1957, als ich rüber kam, direkt meinen Mann kennengelernt. Das waren so Nachbarn, das waren so Doppelhäuser. Hier wohnte meine Schwester und da haben meinem Mann Günther seine Eltern gelebt. Vom ersten Tag an haben wir uns nie mehr aus dem Auge verloren. 1957 haben wir uns kennengelernt, 1960 haben wir geheiratet und 1997 ist er gestorben. Sonst würden wir uns über 50 Jahre. Der war auch erst gegen die Kirche. Wenn da einer anrief: “ Wer ist denn das schon wieder? Ich will das doch nicht, das weißt du doch“! „Reg, dich doch nicht so auf, hat dir keiner was getan, die wollen dir auch überhaupt nichts, ich bin doch Mitglied in der Kirche.“ „Dann geh doch aus der Kirche raus“ „Ne, das mach ich nicht, ich bin so lange Mitglied und wenn ich vorläufig nicht in die Kirche gehe.
Ich hatte dann drei Kinder, 1961, der erste, der zweite 1962 und 1967 die dritte, geboren, da haben sie gar nicht so viel Zeit an alles zu denken. Mein Mann war ewig krank. Der hat auf dem Stahlwerk gearbeitet, war ewig krank. Der hatte so schwere Arbeit, der musste so Eisenblöcke. Und wie das dann so geht, da kam der Frauenhilfsverein, die haben mich besucht. Dann hab ich gesagt: “Wir können jetzt aber nicht hinein, mein Mann ist zu Hause“ Da sind wir ins Auto und da haben sie mir das Thema gegeben und alles gesagt, was Sache ist und mein Mann hat gesagt: “Das ist in Ordnung, solange ich mir das nicht anhören muss, ist mir das egal.“ “Ich sag:“ Du bist auch komisch, die tun dir doch überhaupt nichts”. Na schön er wollte es nicht.
1997 ist er verstorben. Ein Jahr vorher hat er Nierensteine gehabt, er hat Wasser gehabt, er hat mit dem Herz alles gehabt, dann hat er gesagt: “Ja, du kannst ruhig in die Kirche gehen, wenn du wieder kommst, ich habe gekocht, dann können wir essen und dann sind wir fertig für heute“ .Dann hat er das ein ganzes Jahr gemacht, gekocht. Seine Frau ist in die Kirche gegangen und nach einem Jahr ist er verstorben.
Bruder Wilhelm hat, nachdem mein Mann ein Jahr verstorben war, die Totentaufe gemacht und dann die Siegelung an meinen Mann und alles. Und am Abend, als wir vom Tempel zurückkamen, da habe ich doch wahrhaftig einen Traum gehabt. Da kam mein Mann und hat mit mir erzählt, als wenn wir so gegeneinander sitzen und da hat er von der Kirche erzählt und hat gesagt: “Ja.“
Dann hab ich gesagt: “Armin, ich bin so froh, dass wir das gemacht haben, ich weiß 100%, dass mein Mann das angenommen hat. Er sieht ja auch viel mehr, als wir hätten erzählen können. Er ist ja jetzt bei allem ganz nah dran. Ich hab schon ein paar Mal schöne Träume von meinem Mann gehabt. Ich weiß, wenn ich da oben hinkomme, da werde ich nicht alleine sein. Mein Mann wird mich abholen. Das gibt mir natürlich auch wieder Kraft.
Wenn Sie mich früher gekannt hätten. Ich war so was von schüchtern. Ich hätte nie gewagt, mit jemand zu sprechen. Ich saß immer da, weil wir so arm waren. Keiner hat richtig Kontakt mit einem haben wollen. Obwohl jeder sagt, was sind die Busens für nette, anständige Menschen. Heute sind wir noch acht Geschwister. Ich fahr fast jedes Jahr hinüber nach dem Osten zu meinen Geschwistern, sie besuchen.
Acht sind verstorben und acht leben noch in Thüringen. Eine lebt noch Berlin. Elder Steuer, vielleicht haben sie von Steuer gehört, er war Sekretär in der Kirche, die hatte auch sechs oder sieben Kinder auch gehabt, aber die sind alle in der Kirche gewesen. Ob sie es jetzt noch sind, das weiß ich nicht. Wir telefonieren immer wieder. Was bin ich froh, dass nur zwei wenigstens noch in der Kirche sind. Die anderen haben alles gewusst. Aber wie das Leben eben so spielt.
Meine 16 Geschwister: Der Älteste heißt Friedrich, wie mein Papa, dann Irmgard, Klara, Elfriede, Charlotte, Gertrud, Erika, Irene, Jutta, Helga, Joachim, Eberhard, Winfried, Wolfgang, Isolde, Monika.