Stettin, Pommern
Mein Name ist Traudy Dretke, geborene Kühne. Ich bin in Stettin geboren am 12. August 1929 zu wunderbaren Eltern. Ich habe eine sehr gute Kindheit gehabt bei meinen Eltern und Großeltern. Ich hatte keine Geschwister; ich war zehn Jahre alleine. Ich wusste an und für sich nicht wie ich die Zeit teilen sollte, oder weg zu geben, oder zu spielen. Aber ich habe mir immer ein Schwesterchen gewünscht. Ich habe fünf Jahre lang jeden Abend Zucker auf dem Fensterbrett gelegen. Man hat mir immer gesagt, der Storch und wenn der Zucker weg ist, kriegst du auch ein Schwesterchen. Ich habe auch nicht gewusst, wenn es regnet, der Regen den Zucker wegnimmt. Ich habe immer gedacht, dass der liebe Gott kein Schwesterchen für mich gehabt hatte. Aber ich habe nie aufgegeben.
Wir sind auch in der Stettiner Gemeinde gewesen, genau wie mein Mann. Bloß wir kannten uns damals nicht, als kleine Kinder. Ich weiß, dass meine Eltern Uli kannten, und dass Ulis Eltern mich kannten, aber ich weiß nicht viel davon. Ich weiß auch nicht viel vom Primarverein. Ich habe an und für sich alles erst kennen gelernt in Westdeutschland. Wir haben ein schönes Gemeindehaus gehabt. Und es war gemütlich. Und die Schwestern haben mir Bonbons mitgebracht, das weiß ich auch.
Nach 10 Jahren, in 1939 am ersten September habe ich mein Schwesterchen bekommen. Einige Tage später sind wir im Kriege in Polen gewesen. Zwei Tage später kamen Nachbarn, um das Baby zu sehen, und sagte zu meiner Mutter ein Kind geboren am Anfang des Krieges, stirbt am Ende des Krieges. Die ganzen Jahre, als ich meine kleine Renate hatte ich Angst, dass wir sie verlieren wurden.
Im Jahre 1943 am 20. April, sind wir total ausgebombt worden. Eine Phosphorbombe ging in unser Schlafzimmer. Wir wohnten im obersten Stockwerk und wir waren alle Leute in diesem Haus im Keller. Niemand ist zu Schaden gekommen aber wir haben alles verloren, was wir hatten. Und meine Eltern hatten ihre Papiere. So sind wir dann zu unserer Oma gezogen; ein Ehepaar aus der Gemeinde haben wir auch mitgenommen. Dort wohnten wir für ein Jahr, bis wir wieder eine Wohnung bekommen durch die Arbeit meines Vaters. Zu der Zeit hatten wir nicht zu viele Versammlungen gehabt; wir sind zusammen gekommen in Privathäuser bei Geschwistern
In Januar 1945 hieß es, alle Familien mit Kindern sollten aus der Stadt raus, so sind wir in Züge eingestiegen und sind nach Vorpommern gefahren, nach Anklam. In Anklam waren wir bei Geschwistern in der Kirche. Wir haben dort kein Gemeindehaus gefunden. Ein paar Monate später, am 5. oder 8. Mai war der Krieg aus/ Bevor der Krieg aus war, rief man uns alle zusammen aus jedem Haus, und sagte, die Russen kommen rein. Wir sollten alle ins Krankenhaus gehen und uns dorthin setzten, und es wird uns nichts passieren. So meine Eltern nahmen ihren kleinen Koffer mit den Papieren – das ist alles, was sie so hatten. Und die anderen Familien, mit denen wir zusammen wohnten, wir gingen alle ins Krankenhause und setzten wir uns auf den Boden.
Die Russen kamen rein mit Maschinengewehre, alle auf uns gezielt, aber sie haben uns nichts getan. Wenn es Morgen wurde, sagte sie uns, wir durften alle nach Hause gehen, alles sei in Ordnung. Die nächste Nacht kamen sieben russischen Soldaten in unsere Wohnung und nahmen alles, was wir hatten. Sie waren so betrunken und verstehen konnte man ja nichts. Und einer kam und hat meine kleine Schwester von meiner Muttis Arm genommen, und wir wussten nicht was los war, was jetzt kommt. In dem Moment dachte meine Mutter an ihr Kind; sie ist hingegangen und hat dem Soldaten das Kind aus dem Arm genommen. Wir dachten, jetzt ist es zu Ende. Aber sie haben so gelacht, sie waren so betrunken, und dann sind sie aus dem Hause gegangen.
Zwei Tage später kam der Aufruf, dass alle, die nicht in dem Ort geboren waren, zurück müssten in ihre Heimat. So wir hatten eine kranke Oma, meine kleine Schwester, mein Papa, mein Opa und ich. Mein Opa hat einen kleinen Handwagon bekommen, eine Federdecke haben wir drauf gelegt, und unsere kranke Oma drauf gesetzt. In so ungefähr 30 Tagen sind wir dann in Stettin angekommen. Zwischendurch haben wir in Scheunen geschlagen, wo die Russen vorher waren. Als wir in Stetten ankamen war mein Kopf so gelaust, die Läuse liefen mir den Rücken alle schon runter.
Wir gingen zu meiner Omas Haus aber es waren polnische Familien drin, so wir konnten dort nicht bleiben. So hat man gesagt, es gäbe eine leere Wohnung, geht dorthin, auch wenn es nicht eure ist. So haben wir dort gewohnt. Wir haben aus den Mühlkasten die Kartoffelschalen herausgenommen für uns zu kochen. Meine Mutti ging arbeiten bei einer polnischer Familie und jedes Mal, wenn die Polen kamen, ließ sie uns schon immer verstecken. Sie hat uns viel geholfen. Dort mussten wir dann wieder raus. Man sagte uns, alle Deutsche müssten in ein bestimmtes Viertel reinziehen. So sind wir wieder umgezogen. Wir haben wieder eine Wohnung gefunden; dort waren wir mit einer anderen Familie zusammen. Und das ging gut, dass man uns sonst nicht belästigt hat.
Wir mussten natürlich arbeiten und die Arbeit war, man musste Wohnungen ausräumen von den Menschen, die schon Gelegenheit gehabt haben nach Westdeutschland zu gehen. Und alles was nicht gefestigt war, hat der Russe genommen auf Lastwagon und Autos nach Russland geschickt. Ich habe immer zuerst in den Kellern gesucht, um zu sehen, ob ich Dosen oder Gläser finde, die die Leute eingemacht haben, damit sie etwas zu essen hatten.
Das ging gut bis den 2. Dezember 1945. Das ist eine Nacht, die ich nie vergessen werde. Das Schlimme ist, dass es eine Nacht war, wo ich aufgehört zu glauben. Ich war 15 Jahre alt. Alles wurde genommen, was wir hatten; was nicht fest bar war wurde abgenommen und alles wurde eingesteckt. Dann nahm man mich und vergewaltigte mich. Und dann starb meine Oma diese Nacht, sie musste alles ansehen. Sie hatte Hungertyphus. Am Morgen kamen sie mit Leiterwagon und haben die Toten darauf geschmissen aus dem Fenster. Wir wissen, wo Oma ist, sie beim lieben Gott, aber ob sie beerdigt wurde oder was, wissen wir nichts.
Am nächsten Morgen kamen die Soldaten wieder – diesmal in Uniform – und sagten, wir brauchten keine Angst zu haben; das passiert nicht wieder. Und du hast den Menschen gegenüber gestanden und nicht sagen, „du warst es”! Ich habe bloß zu meinen Eltern gesagt, „Ich will nicht mehr leben “. Und ich bleibe nicht weiter in dieser Wohnung, ich verschwinde. So sind wir wieder gegangen und haben eine Wohnung bei der Oma bekommen nebenan. Wir hatten nun nur den Opa mit uns.
Ich habe gearbeitet und habe ich gehört wie jemand zu meinem Chef sagte, da ist eine Gelegenheit für die Deutschen aus Stettin heraus zu kommen, wenn die eine Bescheinigung haben von ihrem Arbeitgeber. So habe ich eine Lüge gebraucht, um dieses zu bekommen. Ich bekam eine für meinen Papa und für mich. Meine Mutti brauchten keine und der Opa und die kleine Schwester auch nicht.
So sind wir denn 1946 im Frühjahr in Zug eingeliefert worden. Das waren Viehwagon. Keine Sitze, keine Toiletten, nichts. Es waren so viele Menschen, dass man sich kaum umdrehen konnte. Und jedes Mal, wenn der Zug hielt, hat man Angst gehabt, dass sie uns wieder ausholen. Alles, was wir hatten, war was wir anhatten.
Wir dann nach Schleswig-Holstein gekommen in Bad Segeberg in einem englischen Lager, wo wir essen bekommen haben, wo wir Betten bekommen haben, wo wir entlaust wurden. Und von dort in einer Woche in ein anderes Lager und von dort haben sie uns in Autos und Lastwagon gesteckt haben, und zu Leuten gebracht, die ein Zimmer abgegeben haben so dass wir ein und halb Zimmer hatten mit dem Opa. Das war hinter Kiel. Mein Papa bekam dann Arbeit in Kiel und hat die Kirche wieder gefunden. Er war so stolz darauf, dass er zur Kirche gehen konnte.
Wir haben denn nach anderthalb Jahren Genehmigung gekriegt nach Kiel zu gehen. Und die Gemeinde wurde neu aufgebaut. Mein Papa half beim Aufbauen der Gemeinde und bekam die Wohnung oben; es war keine richtige Wohnung, weil es war eine Küche drin war beim Frauenhilfsvereinigung. Es waren zwei Räume mit Betten, wo wir schlafen konnten, wo die Familie endlich wieder zusammen war nach so vielen Jahren. Dort war eine wunderbare Gemeinde in Kiel, und ich musste wieder von vorne anfangen.
Ich hatte jemanden kennen gelernt und wollte heiraten. Meine Eltern hatten aber durch meinen Onkel – der hat uns gefunden durchs Rote Kreuz von Salt Lake City – und hat gefragt, ob wir rüberkommen wollten. So sind meine Eltern am 8. Oktober 1952 nach Amerika ausgewandert. Ich bin drüben in Deutschland geblieben und bin 1953 hierhergekommen.
Ich bin hier in der Kirche tätig gewesen, aber habe wirklich alles, was ich jetzt weiß, gelernt durch die deutsch sprechende Gemeinde und durch meine Mission. Ich weiß es nicht, wie das Leben geworden wäre, aber ich sage mir immer, der liebe Gott weiß was am besten was für einen ist. Wenn ich mit meinen Eltern mitgegangen wäre, hätte ich nicht geheiratet, hätte ich nie die deutsch sprechende Gemeinde kennen gelernt, hätte ich nie meinen Mann kennen gelernt. Und durch meinen Mann habe ich die Gelegenheit gehabt auf Mission zu gehen. Habe die Gelegenheit gehabt, Seminar zu machen, welche ich nie hatte als junges Mädchen, die Gelegenheit eine Mission zu erfüllen. Ich bin dem Herrn so dankbar für alles, auch für das, was ich durchmachen musste, für alles, was ich jetzt habe.