Bockum-Hövel, Westfalen
Ich bin Maria Theresia Erbacher, geborene Nähle. Als sechstes von neun Kindern wurde ich am 12. Februar 1934 in Bockum-Hövel, Westfalen geboren. Das Haus, in dem wir aufwuchsen, steht in der Hammerstraße 247, nicht weit von unserem Gemeindehaus, das es damals noch nicht gab. Mein Vater war Schumachermeister, sein Name ist Franz Wilhelm Nähle. Meine Mutter heißt Maria Theresia Nähle geborene Dierkes. Ihr Vater war Steiger auf der Zeche Radbod.
Wir hatten dank meiner Mutter eine liebevolle Familie, was dazu beitrug, dass wir auch durch die Kriegserlebnisse nicht die Lebensfreude verloren. Meine älteste Schwester, Elisabeth, übernahm die Rolle der Vize-Mutti, um Mutter zu entlasten. Sonntags zog sie mit uns und drei Nachbarskindern auf dem Fußweg neben der Zechenbahn entlang zum Krähenwinkelwald. Dabei haben wir fröhlich gesungen und Elisabeth begleitete uns dabei auf der Gitarre. Auf dem Rückweg pflückten wir Blumen für unsere Muttis und eine liebe Nachbarin, die keine Kinder hatte. Sie und ihr Mann waren Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage; ihr Name ist Griewatz. Sie wohnten neben der Steinhalde, die zum Bunker ausgebaut wurde, als es öfter Bombenangriffe gab. Auf der Wiese neben dem Bunker graste immer ihre Ziege.
Wenn die Sonne schien und keine Flieger zu hören und zu sehen waren, durften wir draußen auf der Wiese spielen. Einmal jagten wir die Ziege um den Pfahl herum, an den sie gebunden war, bis es nicht mehr ging, da kam Frau Griewatz heraus und wir machten uns schon auf eine Strafpredigt gefasst. Sie zeigte auf die Ziege und sagte: „Schaut mal, sie kann gar nicht mehr fressen und sie hat doch solchen Hunger. Wie das ist, wenn man Hunger aber nichts zu essen hat, das wisst ihr doch selber. Jagt sie mal wieder anders herum, damit sie wieder fressen kann.“ Das haben wir natürlich eingesehen und gerne getan. Ich war sehr beeindruckt von Frau Griewatz Verhalten. Ein- oder zweimal wurden wir am Sonntagmorgen von ihnen zur Versammlung eingeladen. Ich kann mich nicht erinnern, worüber gesprochen wurde, aber eines weiß ich noch, es war eine sehr angenehme Atmosphäre im Raum. Diese Erlebnisse trugen dazu bei, dass ich die Missionare gerne herein bat, als sie viele Jahre später an unserer Tür klingelten. Da war ich schon verheiratet und wir hatten schon drei Kinder.
Zurück zur Kriegszeit. Die Fliegerangriffe wurden immer häufiger und schlimmer. Unser Keller wurde zum Bunker ausgebaut, falls wir es nicht mehr bis zur Steinhalde schaffen konnten. Mutter hatte ihre liebe Not, uns nachts in den Keller zu bringen. Wir waren so müde. Einmal erzählte ich ihr morgens: „Heute Nacht habe ich was komisches geträumt. Ich bin von außen am Treppengeländer heraufgestiegen und du hast mich noch knapp erwischt und wieder herunter gezogen und zur Kellertreppe geschoben. Ich wollte aber nicht in den Keller. Da hast du mir den Po versohlt, bis ich nachgab und in den Keller ging.“ Mutter schaute mich merkwürdig an und sagte: „Das hast du nicht geträumt, das war wirklich so.“ Mutter hat uns nie geschlagen, darum konnte ich das wohl nur für einen Traum halten.
Als wir nach einem nächtlichen Angriff aus dem Haus traten, sahen wir, wie ein Soldat am Fallschirm geradewegs auf die von den Bomben in Brand geratene Ölmühle zu schwebte. Er tat mir so leid und ich dachte: „Warum macht ihr das nur mit den Bomben?“
Bald waren die Wasserrohre zerstört und es gab kein Wasser mehr. Mutter hatte Freunde, die einen Brunnen besaßen, aus dem wir im großen Einkochkessel Wasser holen durften. Wenn die Wasserrohre wieder geflickt waren, haben wir ganz fix sämtliche möglichen Behälter mit Wasser gefüllt, einschließlich der großen Badewanne im Obergeschoss. Ein Glück für uns; denn einmal, als wir wieder im Bunker ausharrten und ein Bomber nach dem andern seine Bombenlast abwarf, kam eine Nachbarin gerannt und rief: „Auf euer Haus ist eine Brandbombe gefallen!“ Als Mutter nach ihrem Schlüssel suchte, rief die Nachbarin:“ Den brauchen sie nicht, die Tür liegt schon platt im Flur!“ Die Bomber waren weg und wir rannten nach Hause. Durch den Qualm konnten wir gar nichts erkennen und ich lief geradewegs auf einen Blindgänger zu. Zum Glück erwischte mich ein Flaksoldat der beim Löschen half noch rechtzeitig, ehe ich auf den Blindgänger trat. Auf unserm Dachboden brannte die zum Trocknen aufgehängte Wäsche der Flakhelferinnen, die bei uns in den Dachkammern schliefen. Das Badewasser war nur wenige Stufen entfernt und reichte aus, um alles zu löschen. Die Wohnung war ziemlich zerstört, alle Fenster zerbrochen, ein paar Schränke samt Inhalt umgekippt. Die Betten standen zum Glück noch mehr oder weniger unversehrt. Ein paar Freunde boten uns Quartier an, aber wir wollten lieber mit Mutter frieren, als ohne sie sein. Die Fenster wurden mit Pappe vernagelt, na ja, Dunkelheit kannten wir ja nur zu gut.
Die Angriffe im Ruhrgebiet wurden immer heftiger. Hinter unseren Gärten auf den Sportplätzen waren Flakgeschütze aufgestellt. Auf dem unteren waren vier schwere, auf dem oberen vier leichte und auf einer der Bahnschienen ein fahrbares Geschütz. Das kannten die Jagdflieger, die die Bomber begleiteten natürlich sehr bald.
Einmal wurden wir wegen der schweren Angriffe auf der Zeche Radbod zu unserm Schutz tausend Meter in den Schacht hinunter gefahren. Unten in dem großen Raum, von dem aus die Kohlengänge in alle Richtungen liefen, waren Bänke aufgestellt, auf denen wir Platz nahmen. Wir haben uns mit Rate- und Fingerspielen und mit Lesen die Zeit vertrieben. Ich hatte von meinem Bruder ein kleines Auto, damit fuhr ich einen Arm runter – das Bein runter – das andere Bein wieder rauf und den anderen Arm hoch und stellte mir vor, ich führe damit durch Wald und Feld, die Sonne scheint und keine Flieger kommen. Zu Weihnachten bekam ich dann ein eigenes silbernes Auto und freute mich sehr darüber. Am nächsten Tag kam ein Nachbarjunge zu uns. Auf meine Frage, was er denn zu Weihnachten bekommen habe, sagte er ein bisschen bekümmert: „Nur einen Teller mit Keksen.“ Ich fragte Mutter, ob wir nicht ein kleines Geschenk für ihn hätten. Sie meinte:“ Du kannst ihm ja eins von deinen geben. “Während ich zu ihm zurückging, überlegte ich: Mein Nachthemd mag er sicher nicht und meine Schürze auch nicht. “Ich schaute zu Mutter zurück, die mich die ganze Zeit im Auge hatte und als sie lächelnd nickte, habe ich dem Jungen mein Auto geschenkt. Er strahlte mich an, sah aber auch meinen kleinen Kummer und rief:“ Du darfst immer mit mir zusammen spielen!“ Nun zurück in den Zechenschachtbunker.
Es saßen nicht alle Kinder so brav auf den Bänken wie wir. So sahen wir abends, als wir nach oben fuhren, aus, wie die Zechenkumpel nach der Arbeit. In der Nacht warfen die Flieger Bomben auf den Förderturm, mit dem wir nach unten gefahren waren. Darum wurde dieser „Luftschutzkeller“ wieder aufgegeben, denn so viele Frauen und Kinder hätte man im Notfall niemals die Eisentreppen hinauf schaffen können, ohne das Schlimmes passierte. Inzwischen war eine Steinhalde auf dem Zechengelände zum doppelstöckigen Bunker ausgebaut worden, in dem wir künftig unsere Tage verbringen sollten.
Die Schulen wurden geschlossen wegen der ständigen Angriffe. Das geschah einundeinhalb Jahre vor Kriegsende. Am letzten Schultag wurden wir wegen Fliegeralarm wieder nach Hause geschickt. Wir hörten unterwegs schon die Flieger und beschlossen, über die Zuggleise zu laufen, da der Weg kürzer war. Plötzlich sahen wir von vorne ein Jagdflugzeug auf uns zu fliegen. Wir blieben erschreckt stehen. Er kam im Sturzflug auf uns zu und schoss auf uns fünf Kinder. Wir drehten uns um und sahen, dass er wendete und wieder auf uns zu flog. Neben dem Gleis war ein Kartoffelacker und ich rief: „Rein in die Kartoffeln!“ — Er schoss wieder auf uns, wendete und kam noch einmal auf uns zu, um zu schießen. — Nach dem Krieg, als mein Onkel, der auch Jagdflieger war, aus der Gefangenschaft zu uns nach Hause kam, fragte ich ihn, ob der Flieger nicht erkennen konnte, ob wir Kinder oder Erwachsene waren. Er zögerte leicht, dann sagte er: „Doch, das konnte er. Aber weil er euch nicht getroffen hat, wollte er euch wohl nicht töten, sondern nur erschrecken.“ — Wir fanden das zwar auch nicht gut, aber vielleicht hatte er ja liebe Menschen auf gleiche Art verloren und hat sich auf diese Art dafür rächen wollen.
An diesem Tag waren durch einen Angriff auf die vielen kleinen Erdbunker im Wald von Bockum viele Menschen umgekommen. Das war der Anlass zum Schließen der Schulen. Von da an gingen wir jeden Morgen zur Zeche in den zweistöckigen Bunker und abends wieder nach Hause zum Schlafen. Einmal bat meine Mutter mich, mit meiner kleinen Schwester nach draußen aufs Klo zu gehen. Das war ein Holzhäuschen, das an einem großen Trichter stand, in den hinein alles abfloss, was wir von uns gaben. Es war strahlender Sonnenschein und blauer Himmel. Plötzlich hörte ich den Bomberschwarm kommen und rief: „Magda, mach schnell, die Flieger kommen genau auf uns zu! Oh, Magda, sie werfen Bomben ab und die fliegen genau in unsere Richtung!“ Magdas Antwort war: „Lauf schnell, ich komm sofort!“ Ich rannte los, ca. fünfzehn Meter waren es bis zur Bunkertür und kurz davor fiel ich zur Erde oder wurde geworfen und mit Erde überschüttet. Als ich mich erhob, sah ich, dass ich zwischen zwei Bombentrichtern lag. Meine Schwester konnte ich nirgends entdecken. Ich lief zum „Häuschen“ und schaute durch die Splitterlöcher nach Magda. Die Tür wagte ich nicht anzufassen, weil das Klo schräg in Richtung Gülletrichter stand und ich fürchtete, es könnte in den Trichter fallen. Dann lief ich zum Bunker und schaute von oben zu Mutter hinunter. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich Magda weinend aber unversehrt auf Mutters Schoß entdeckte.
Nachts liefen wir bei Alarm jetzt immer in den nahen Bunker neben Geschwister Griewatz’s Wiese. Einmal war es so dunkel, dass wir den Eingang durch die Hecke an der Straße nicht finden konnten. Wir riefen dann um Hilfe und folgten der Stimme unseres Helfers.
Dann kam der letzte Kriegstag. Wir saßen im Bunker und hörten die Panzer der Amerikaner vorbeifahren. Ein junger deutscher Soldat stand noch mit seiner Panzerfaust im Eingang des Bunkers und wurde angeschossen. Meine große Schwester sah ihn dort liegen und wollte hinaus, um den Sanitätswagen, den sie kurz vorher gesehen hatte, zu benachrichtigen. Die Panzerfaust nahm sie gleich mit, damit sich niemand verletze. Als sie raus kam, sah sie nur ein Stückchen weiter einen Panzer stehen, der in dem Moment das Geschossrohr zu ihr hin drehte. Sie hatte ganz vergessen, dass sie die Panzerfaust noch in der Hand hatte und dachte nur an den jungen Soldaten, dem sie kurze Zeit vorher noch bei uns zu Hause etwas zu essen gegeben hatte. Erst als die Amerikaner laut riefen, fiel es ihr ein und sie warf die Waffe auf einen Komposthaufen, der hinter dem Hotel Radbod war. Die Soldaten verstanden, was sie wollte und sie durfte dann den Verletzten auf einem Handwagen zum Sanitätswagen bringen. Er hat es nicht überlebt, wie wir später von seinen Eltern erfuhren, als sie uns besuchten, um zu wissen, wie er den letzten Tag erlebt hat.
Mir fällt da ein Erlebnis ein, als die Amerikaner bei uns einrückten. Eines Tages kam ich mit meiner Schwester Maria vom Einkaufen. Eine von uns trug eine Glasschüssel mit Quark in den Händen. Den gab es damals noch nicht so verpackt wie heute. Wir gingen auf dem Fußweg neben der Badeanstalt (hieß damals so) entlang, als wir englische Stimmen hörten. Während wir überlegten, ob wir weitergehen sollten, bogen zwei schwarze Farbige um die Ecke. Vor lauter Schreck ließen wir die Schüssel fallen und kletterten über die Mauer der Badeanstalt, während die Amerikaner in schallendes Gelächter ausbrachen. Wie wir dieses ca. zweimeterzwanzig hohe Mauer so schnell geschafft haben, das weiß ich nicht mehr. Es muss unsere Angst gewesen sein. Ich hatte Mohren bis dahin immer für Märchenfiguren gehalten, wie auch Riesen, Hexen, Zauberer usw. und hier kamen sie direkt auf uns zu — kein Wunder, dass wir die hohe Mauer geschafft hatten!
In der Nähe der Zeche war ein russisches Kriegsgefangenenlager. Mutter kannte einen der Gefangenenwärter. Als er uns einmal besuchte, klagte sie ihm ihr Leid, dass sie dringend jemand brauchte, der dies und das reparieren könnte. Darauf erkundigte er sich bei den Gefangenen nach jemand der handwerklich begabt sei und kam mit zwei Gefangenen zu uns .Sie erledigten ihre Aufgaben prima und Mutter kochte ihnen dafür einen leckeren Gemüseeintopf. Sie strahlten um die Wette. Beim nächsten Mal waren es gleich drei, die helfen wollten. Sie brachten uns ein selbst gebasteltes wunderschönes Vogelmobile aus dünnen Sperrholzblättern mit, das noch lange an unserer Küchenlampe über dem Tisch hing. Als das Gefangenenlager nach Kriegsende geöffnet wurde, liefen die Gefangenen in alle Richtungen auseinander und nahmen, was sie kriegen konnten. Als ein paar von ihnen in unsere Auffahrt wollten, stellte sich einer der Gefangenen, der bei uns geholfen hatte, vor sie hin und redete auf sie ein, bis sie schulterzuckend weiter liefen. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn Mutter sie nicht so lieb behandelt hätte.
Die Russen standen dann tagsüber auf dem Radweg vor unserm Haus und hielten alle Radfahrer an mit den Worten „Dawei Tschassie“ Ich weiß nicht, wie man das schreibt, aber ich weiß das heißt: „Her mit der Uhr!“ Wir Kinder fanden das nicht gut und liefen ums Haus, damit sie uns nicht sehen konnten, kletterten über den Zaun und warnten an der nächsten Kurve alle Radfahrer. Nach einer Weile schlenderte einer der Russen in unsere Richtung. Wir versteckten uns unter der Geineggebrücke, die über den Bach führte, der Bockum-Hövel von Hamm Norden trennte. (Als ich ihn vor einiger Zeit wieder sah, war er nur noch ein Rinnsal.) und wir warteten, bis er wieder weg war. Mutter rief uns und erzählte, dass der Russe ihr gesagt hat: „Wenn die Kinder das noch mal machen, müssen Sie im Hotel Radbod für alle Alliierten Kartoffeln schälen.“ — Bald darauf nahmen die Russen den Männern auch ihre Gürtel ab. Bei den schlanken Taillen liefen alle die Gefahr, ihre Hose zu verlieren. Darum schnitt Mutter eine Wäscheleine in Gürtellänge und wir Kinder gaben sie den Männern als Ersatz für die Gürtel.
Dann wurden die Russen von belgischen Soldaten abgelöst und konnten wohl heimfahren. Einmal kamen drei deutsche Männer an unserm Haus vorbei und lachten fröhlich. Daraufhin wurden sie von den Belgiern angehalten und aufgefordert, sich an dem Gasthof „Flasskamp“ gegenüber an die Wand zu stellen, Rücken zur Straße und Hände hoch. Die Belgier hoben ihre Waffen, als der Mittlere der Männer sich umdrehte und fragte: „Warum wollen sie uns erschießen, wir haben doch nichts getan?“ „Weil ihr uns ausgelacht habt!“ beantwortete er mit: „Wir haben uns doch nur gefreut, weil uns jemand Zigaretten geschenkt hat!“ Daraufhin durften sie gehen und man konnte Ihnen ihre große Erleichterung im Gesicht ablesen.
Eines Tages kamen Leute zu uns und wollten wissen, wo unser Vater sich aufhielte. Mutter sagte: „Das weiß ich nicht!“ Einige Zeit davor hatten sie das auch Vaters Eltern gefragt und die gleiche Antwort erhalten. Darauf mussten die Eltern ihre Tochter und ein Enkel die Zechensiedlung verlassen. Mutter nahm sie bei uns auf. Nun drohten die Leute, wenn Mutter nicht sage, wo ihr Mann sich aufhalte, würden wir in die Asozialensiedlung ausquartiert. Daraufhin entschlossen sich die Erwachsenen, in die Lüneburger Heide zu Vater zu ziehen. Vater war während des Krieges als Wehrmachtsangestellter im Osten gewesen. Seine Aufgabe war es, morgens mit der Pferdekutsche samt Inhalt zu den vier Höfen zu fahren, die anfallenden Arbeiten mit den Gutsverwaltern zu besprechen und danach den schriftlichen Kram zu erledigen. Das gefiel ihm sehr gut. Einer seiner Brüder hatte dort im Osten auch ein eigenes Gut und mein Vater entwickelte eine Vorliebe zur Landwirtschaft. Er hatte zu Hause in Bockum-Hövel schon vor dem Krieg einen wunderschönen Obst und einen Gemüsegarten angelegt. Das half uns sehr, die kargen Zeiten zu überstehen. Im Osten wohnte er in Thorn und kam mit dem Flüchtlingstreck in die Heide nach Oberhoden, Kreis Fallingbostel. Dort bekam er wie alle die Flüchtlinge, die es wollten, einen Hof und Ackerland. Während des Krieges war dort ein Truppenübungsplatz. Das Haus musste innen mit Wänden versehen werden, es war nur eine Wand im Haus. Das schaffte er mit Hilfe seiner Söhne und Mutters Bruder. Und im Januar 1947 zogen wir dann mit Mutter, den Großeltern, der Tante und dem Cousin auch nach Oberhoden.
Dort lernte ich 1949 auch meinen Mann Hans Erbacher kennen. Er wurde am 7. Juli 1949 aus russischer Gefangenschaft entlassen. Seine Schwestern waren auf der Flucht aus dem Osten mit ihren Familien in Naumburg (Ex-DDR) gelandet. Dort wollte mein Mann aber nicht bleiben und so kam er zu seiner Tante nach Oberhoden. Wir hatten einen Dorfchor, der von unserm Lehrer geleitet wurde. Den sprach die Tante dann an, mit den Worten: „Nehmt den Hans bitte unter eure Fittiche. Der kommt sich vor wie sein eigener Großvater. Es wird Zeit, dass er wieder jung wird.“ Am 31.Oktober1952 habe ich ihn dann endgültig unter meine Fittiche genommen. Er war vor seiner Zeit als Soldat Gemeindeangestellter im Ort gewesen. Bei seiner Heimkehr fanden sie aber auf dem Gebiet keine Stelle für ihn. Da er in Gefangenschaft zuletzt bei einem Fleischer gearbeitet hatte, schlug man ihm vor, doch eine Fleischerlehre zu machen. Seine Antwort war: „Da muss ich erst noch jemand anderes fragen.“ Abends kam er zu mir und fragte mich: „Heiratest du mich auch, wenn ich Fleischer werde?“ Meine Antwort lautete: „Ich möchte dich heiraten, nicht deinen Beruf.“ freute ihn. Er machte nach einem Jahr mit gut und sehr gut seine Prüfungen. Das kam ihm zugute, als wir Oberhode wieder verlassen mussten, da dieser wieder zum Truppenübungsplatz werden sollte. Uns schlug man vor, nach Oldenburg zu ziehen, da mein Mann als Fleischer sicher schnell eine Stellung in der Fleischwarenfabrik finden würde. Als wir hier ankamen, trafen wir viele Leute aus der Heide wieder und fühlten uns bald wieder Zuhause.
Während mein Hans seine Lehre machte, besuchte ich noch die Oberschule in Walsrode. Das war nicht immer einfach. Morgens mit dem Rad die achtzehn km zur Schule, mittags wieder zurück. Anschließend auf dem Acker arbeiten bis abends. Danach die Schularbeiten erledigen und früh um viertel nach sechs wieder ab in die Schule.
1959 kamen die Missionare zu uns und ich ging mit unseren drei Kindern sonntags zur Gemeinde, um mehr über die Kirche zu lernen. Ich hatte mich schon als Kind sehr für Religion und die Lehren der Kirchen interessiert und war zu dem Schluss gekommen, dass die katholisch Kirche nicht die richtige sein kann. Mein Hans ist evangelisch, darum haben wir uns evangelisch trauen lassen, aber ich hatte das Gefühl, die evangelische Kirche ist auch nicht die richtige. Als ich dann die Kirche Jesu Christi HLT ein Jahr untersucht und alle Kirchenliteratur durchgelesen hatte, ließ ich mich am 31. Juli 1960 in Bremen taufen, da wir hier noch kein Gemeindehaus hatten.
Inzwischen haben wir sechs verheiratete Kinder, neunzehn Enkel, von denen sechs schon im Tempel geheiratet haben. Und dann haben wir noch drei Urenkel. Obwohl es mir noch nicht gelungen ist, meine ganze Familie vom Evangelium zu überzeugen, hat es mir noch keine Sekunde leidgetan, dass ich Mitglied der Kirche des Herrn geworden bin. Was ich hier nicht schaffe, das werde ich hoffentlich im nächsten Leben schaffen. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich liebe meine Familie von ganzem Herzen, sie ist einfach wunderbar.