Domhardtfelde Kreis Labiau, Ostpreußen
Ich, Erika Sigrid Faber, geborene Wittke, bin in Domhardtfelde Kreis Labiau in Ostpreußen am 6. September 1941 geboren Meine Mutter ist Frau Anna Wittke, geborene Kraft, geboren am 3 Mai 1907 in Ostpreußen, von Beruf Köchin. Es waren in ihrer Familie 16 Kinder und weitere 6 Kinder brachte der zweite Ehemann mit in die Ehe, sodass sie dann 22 Kinder waren. Mein Vater ist Fritz Gustav Wittke, geboren am 25 Mai 1912 in Ostpreußen und von Beruf Ofensetzer. Mein Vater hatte nach meinen Informationen noch einen Bruder. Meine Eltern hatten 2 Kinder – eine noch 6 Jahre ältere Schwester von mir und mich.
Mein Ehemann ist Helmut, Friedrich-Wilhelm Faber, geboren am 8 März 1931 in Stettin und verstorben am 20 August 2006 in Hamburg. Er war ein Hohepriester der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und wir waren mit unseren Kindern aktive Mitglieder der Gemeinde Altona. Unsere Kinder sind: 1) Susanne Monika Tabea Faber, (Verheiratete Bensch) geboren am 7. Dezember 1965 und verstorben bei der Geburt eines Kindes am 7. November 2000; 2) Uwe, Jens, Hartmut Faber, geboren am 29. November 1966; 3) Jörn Norbert Oliver Faber, geboren am 31. März 1970
Dieser Bericht ist nur ein sehr unvollkommener, ja stümperhafter Versuch, ein paar Geschehnisse und entstandene Empfindungen des Herzens und des Verstandes wiederzugeben. Der heute russische Staat hat mein kleines Geburtsdorf einfach verschwinden lassen, so kann ich diesen nicht einmal mehr auf der Landkarte finden. Eine ehrlich tiefe Bewunderung und Dankbarkeit fühle ich in meinem Herzen für meine Eltern, wenn ich an mein Geburtsdatum und die damalige Zeit denke.
Wir schrieben das Jahr 1941. Der 2. Weltkrieg tobte heftig und war auch bereits in meinem Geburtsort Domhardtfelde zu spüren. Nach Angaben meiner Mutter gab es zu jener Zeit einige Lebenseinschränkungen. So durften zu diesem Zeitpunkt bereits die Bewohner im Ort keinerlei Kontakte mehr zu den jüdischen Mitbewohnern pflegen, sonst wurde es der Partei gemeldet, worauf dann für denjenigen Nachteile entstanden. Zudem war es gleichfalls untersagt in jüdischen Geschäften einzukaufen. Außerdem hatte die jüngste Schwester meiner Mutter ganz viel Mühe und Schwierigkeiten den Konfirmanden-Unterricht zu besuchen, da der Glaube in Deutschland bereits staatlich unterdrückt wurde.
Ende des Jahres 1944 Anfang 45 suchte meine Mutter mit uns Kindern Schutz bei ihrer Schwiegermutter in Königsberg – und wir wurden während eines Bombenangriffs verschüttet. Was immer dies auch bedeutete, ich weiß heute nur, dass meine Schwester und ich durch wochenlange Finsternis in dunklen Kellerräumen unser Augenlicht verloren. Noch heute fühle ich zeitweilig den Schmerz in meinen Augen, obgleich mir das Augenlicht – ohne jede ärztliche Hilfe – erhalten geblieben ist.
Ende Januar 1945 – der Russe war schon am Kanonendonner zu hören – mussten wir Ostpreußen verlassen. Am Anfang unserer Flucht hatte meine Mutter noch mit einer Nachbarin zusammen ein Pferdegespann mit einigen Habseligkeiten beladen, die wir für wichtig hielten mitzunehmen. Die ostpreußische Kälte, die in diesem Winter bis zu 28 ° Minus betrug, der tiefe Schnee, die am Wegesrand schon liegen gebliebenen zerstörten Wagen mit ihrem vielen Gepäck, die Tierkadaver und die vielen Toten am Wegesrand nahmen meiner Mutter die Illusion vom Weiterkommen mit dem Pferdegespann. So beschränkten wir uns schließlich auf das, was wir und unsere Füße tragen konnten. Meine Schwester war damals neun Jahre alt und ich drei Jahre. Selbst der kleine Koffer wurde uns zu schwer, so dass nur das am Körper getragene Zeug unser Schutz und Eigentum blieb bei Tag und bei Nacht.
Die Flucht über den Landweg war nicht mehr möglich. So wurde meine Mutter mit uns Kindern gezwungen auf das Schiff „Wilhelm Gustloff“ zu gehen. Mit ca. 9000 anderen Flüchtlingen waren wir auf diesem Schiff zusammengepfercht, das uns nun sicher nach Dänemark bringen sollte. Meine Mutter aber wurde von irgendetwas wieder von diesem Schiff herunter gezogen. Man muss sich die Situation einmal vorstellen, dass tausende von Menschen auf dieses Schiff rauf wollten. Die Menschen wurden sogar zum Teil zertreten, weil es zu dieser Zeit der einzige Hoffnungsschimmer war, dem Russen zu entkommen – und da wollten wir wieder herunter – was sich als wesentlich schwieriger gestaltete, als es war, auf dieses Schiff herauf zu kommen. Viele unserer Verwandten und Nachbarn waren auf dieses Schiff gekommen und hatten irgendwie auf dem Schoß eines anderen Menschen Platz gefunden, nur meine Mutter wollte mit uns Kindern unbedingt wieder von Bord gehen. Auf die Zurufe und Ermahnungen der anderen Passagiere: „Wohin wollen Sie mit Ihren Kindern, der Russe ist doch schon zu hören und zu sehen!“ erwiderte meine Mutter: „Ich lasse mich mit meinen Kindern lieber vom Russen erschießen, als in der eiskalten Ostsee zu ertrinken!“ Meine Mutter hat es mir oft unter Tränen so erzählt. Was für ein Mut! Was für eine Inspiration! Meine Mutter ist zu Lebzeiten kein Mitglied unserer Kirche geworden, aber sie fühlte die Anweisung vom „Lieben Gottche“ dieses Schiff mit uns zu verlassen. Soweit mir bekannt ist, war es der 30. Januar 1945 als die „Wilhelm Gustloff“ von sowjetischen U-Booten versenkt wurde und mit ihr viele unserer Verwandten, Nachbarn und Freunde im eiskalten Wasser ertranken.
Manchmal bin ich traurig, manchmal bin ich froh und dankbar über mein geringes Alter von drei Jahren zu jener Zeit. Mein Glaube an Gott wuchs bei jeder späteren Erzählung meiner Mutter über dieses Ereignis. Wir haben dann ca. vier Wochen später mit dem Schiff „Marburg“ die gefrorene Ostsee überquert. Auch hier hat es Einschläge gegeben von sowjetischen U-Booten, aber keine, die zum Versenken des Schiffes führte. Wir kamen so in Dänemark an und blieben dort bis 1948.
Das Lager „Oksbøl“ (heute eine Erinnerungsstätte und Touristenanziehungspunkt) sollte für diese Zeit unsere Heimat werden. Mit bis zu 3000 Menschen haben wir dort zusammen in einem Barackenlager gelebt. Unter vielen anderen Eindrücken habe ich erlebt, dass Ratten, hauptsächlich Nasen und Ohren von Menschen angefressen haben. Aus diesem Grunde wurden Wachdienste eingerichtet um das zu verhindern. Das Lagergebiet war ringsum mit Stacheldraht eingezäunt, ich habe miterlebt, dass Menschen erschossen wurden, weil sie Tannennadeln vom Boden aufsammelten um zu heizen. Wir haben in Dänemark sehr gehungert und gefroren. Auch wir wären verhungert, wenn ich nicht so viel krank gewesen wäre und im Krankenhaus gelegen hätte, denn dort gab es genügend zu Essen. Außerdem stopfte, nähte und wusch meine Mutter für einen Küchenhelfer, der uns wiederum heimlich den Abfall aus der Küche gab, und wir so überlebten. Meine Schwester erzählte mir erst kürzlich noch, dass wir oft auf und im Müllhaufen gesucht und auch etwas gefunden haben.
Aber es gibt auch ein besonders positives Erlebnis, das mein Leben sehr beeinflusst hat. Ich war ca. fünf Jahre alt und hatte aus einem angelegten Gemüsebeet ganz junge Karotten in Stricknadelgröße gezogen. Vielleicht war es Hunger, vielleicht aber auch nur Neugier, jedenfalls musste ich zu dem Lagerkommandanten. Meine Mutter schrie, weil sie um die harte Bestrafung wusste, aber ich kam mit zwei Stückchen Schokolade wieder heraus. Nie habe ich das vergessen – statt Bestrafung eine Belohnung erhalten zu haben. Ob es auch bei unserem himmlischen Vater so sein wird?
1948 wurden sämtliche Lager in Dänemark aufgelöst. Auf einem offenen Lkw kamen wir nach Bingum, Kreis Leer/Ostfriesland. Dort wurden wir „zwangseingewiesen“, das heißt, Eigentümer von Häusern oder Wohnungen mussten uns aufnehmen, ob sie nun wollten oder nicht. Die ersten Jahre in Bingum haben wir weiter gefroren und auch noch sehr gehungert. Wir hatten keine eigenen Schuhe, ich konnte nur entweder barfuß gehen, oder wenn ein anderes Mädchen nicht raus wollte, ihre Schuhe benutzen. Kein eigenes Lese- oder Rechenbuch, aber meine Mutter, meine Schwester und ich waren am Leben.
Meinen Vater habe ich durch die verworrenen Kriegsverhältnisse leider nie kennen gelernt. Der Krieg hat ihn uns weggenommen, wie auch unsere Großeltern, die noch nach Sibirien verschleppt wurden – Tanten, Onkel, Cousinen und Freunde.
Ich habe vor einiger Zeit eine sehr passende Beschreibung für uns ostpreußische Bürger gelesen: Der ostpreußische Mensch hatte in seinem Wesen etwas von der Weite der ostpreußischen Landschaft. Ihm war eine gewisse Großzügigkeit eigen. Man nahm es dem anderen nicht übel, wenn er so ganz anders war als man selber. Darum schien er auch eins zu sein mit der ihm umgebenden Welt, mit der Wirklichkeit seines persönlichen Lebens. Er konnte sich in das schicken, was ihm in seiner Welt widerfuhr, in das Schicksal, und das heißt ja – recht verstanden – in das, was Gott schickt. Er wusste: Jeder muss sein eigenes Schicksal erfüllen, wie uns auch schon Paulus im Römerbrief, Kapitel 12,11, auffordert: Schickt euch in die Zeit! Wir können es auch so ausdrücken: Der ostpreußische Mensch wollte eins sein mit Gott und seinem Willen, der oft so unbegreiflich ist.
1961 habe ich auf wunderbare Weise die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage kennen gelernt. Nur ein paar Monate später durfte ich eine Vollzeitmission erfüllen. Noch heute beeinflusst diese Mission mein Denken, Handeln und Erleben und gibt mir Kraft. Auf viele existenzielle Lebensfragen habe ich Antworten gefunden – auf einige andere bisher noch nicht, aber ich weiß, dass in meinem bisherigen Leben an bedeutenden Einschnitten der Herr seine Wachen aufgestellt hatte und dafür bin ich Ihm sehr dankbar und es verleiht mir Hoffnung und Zuversicht für den kleinen Rest meines Lebens.
Unsere Ehe und unsere Kinder sind für mich ein Ausdruck der unendlichen Liebe unseres himmlischen Vaters für Seine Kinder. Mein Zeugnis von der Wahrheit des wiederhergestellten Evangeliums war bis jetzt ehrlich und unumstößlich und ich bete oft darum, bis ans Ende ausharren zu können.