Königsberg, Preußen
Ich bin Reinhard Günter Freimann. Ich bin am 13. August 1933 in Königsberg, Ostpreußen geboren. Mein Vater heißt Max Gustav Freimann und ist in Memel geboren, meine Mutter ist Wanda Helene, Maria, geborene Sommer. Seit meiner Geburt bin ich in der Kirche, denn meine Eltern sind Mitte der zwanziger Jahre zur Kirche gekommen. Wir waren sechs Geschwister, einen Bruder und vier Schwestern hatte ich, die auch alle zur Kirche gehörten, und wir lebten nach dem Evangelium. Mein Vater war bis 1933 Gemeindepräsident in Königsberg und wurde dann Distriktspräsident für Ostpreußen, wozu die Gemeinden Königsberg, Selbongen, Tilsit und Memel gehörten.
Vielleicht gleich ein paar Anmerkungen zur Arbeit meines Vaters in der Kirche. Er wurde ab und zu zur Polizei gerufen, um über die Kirche auszusagen, aber er hat nie der Partei angehört. Er hat das immer umgehen können. Er war natürlich durch seine Berufung als Distriktspräsident an den Sonntagen viel in Ostpreußen unterwegs in den Gemeinden und musste diese Fahrten alle mit der Eisenbahn unternehmen, weil wir kein Auto hatten. Wir haben damals schon regelmäßig den Familienheimabend durchgeführt, sodass er die freie Zeit, die er hatte, wirklich mit der Familie verbrachte. Am Anfang meiner Kindheit hatte er eine kleine Schneiderei, und wir mussten alle mithelfen, die Anzüge, die er genäht hatte, fertig zu stellen, die Heftfäden ausziehen und die Ware zu den Kunden bringen.
Zur Gemeinde war es immer sehr weit. Das Geld reichte bei der großen Familie nicht für die Straßenbahn, so mussten wir viele Kilometer zu Fuß zurücklegen, um in die Versammlungen zu kommen. Am Anfang hat meine Mutter zu Hause eine Heim-Primarvereinigung abgehalten, so dass wir als Kinder die PV erleben konnten. Sie hat dazu auch die Kinder, die im Hof wohnten, eingeladen, und wir waren eine ziemlich große Gruppe.
Mein Vater hatte bei dem fünften Kind seine Frau verloren, die jüngste Tochter war sieben Tage alt, als die Mutter starb. Er heiratete dann meine Mutter und zusammen bekamen sie als letztes Kind noch mich. Sie hat also eine ziemlich große Familie übernommen. Der älteste Sohn war bereits sechzehn Jahre alt, und es war für sie nicht ganz leicht, für so große Kinder die neue Mutter zu sein.
In Königsberg hatten wir als Gemeinde bereits ein größeres Haus für die Versammlungen, es gab eine Tretorgel darin, die von Schwester Matern (später Duckwitz) gespielt wurde. Sie ist die Mutter des derzeitigen Schweizer Missionspräsidenten Dietmar Matern und war in Königsberg auch meine Sonntagsschullehrerin. Wir konnten während der Kriegszeit die Versammlungen immer abhalten, nur manchmal wurden die Räume von den Nazis genutzt. Ende 1944 wurde Königsberg angegriffen und zerbombt. Rings um unser Gemeindehaus, das in einem Hof stand, waren alle Häuser zerstört, lediglich das Gemeindehaus stand noch. Nur die Fenster mussten mit Pappe wieder verschlossen werden, sie waren bei dem Angriff zer¬brochen. Auf dem Dachboden wurden drei Brandbomben gefunden, die nicht gezündet hatten und herausgeworfen werden konnten. So haben wir immer die Versammlungen abhalten können.
Mein Vater wurde 1944 ins Memelgebiet abkommandiert, um dort beim Volkssturm den Ostwall als Schutz gegen die russische Armee zu graben. Das waren Gräben, durch die man verhindern wollte, dass die Panzer ins Land kamen. Er wollte unbedingt zur Konferenz in Königsberg sein, aber es wurde ihm nicht genehmigt. Er sollte mit seinen Arbeitssoldaten einen neuen Befehl bekommen, sie waren nämlich mit der Arbeit fertig. Aber als sie am nächsten Morgen im Hauptquartier anriefen, um die Order entgegen zu nehmen, waren die Parteileute schon westwärts gezogen und hatten sie einfach allein gelassen.
Mein Vater ist in Memel geboren und kannte daher die Gegend. So führte er seine ganze Mannschaft zurück nach Ostpreußen, so dass sie zunächst vor den Russen sicher waren. Als er zu uns nach Hause kam, sagte er: „Packt eure Sachen zusammen, der Russe ist ganz nah, seht zu, dass ihr wegkommt!“ Dann haben wir uns ein Quartier in Vorpommern gesucht, wo wir einige Wochen wohnen konnten. Von dort konnten wir zu den Versammlungen kommen, indem wir morgens um vier Uhr aufgestanden sind, uns fertig gemacht haben, mit dem Pferdewagen zur nächsten Bahnstation gefahren sind und dann um zehn Uhr in der Gemeinde Demmin ankamen. Da sind wir dann bis zur Nachmittagsversammlung geblieben und kamen gegen 22 Uhr abends wieder in unserem Quartier an. Es war schon eine gewaltige Anstrengung.
Wir wollten Ende 1944 zu Weihnachten noch einmal nach Königsberg zurück, weil mein Vater und zwei – inzwischen erwachsene – Schwestern noch in Königsberg waren. Wir durften jedoch erst zu Silvester heimfahren. Am 24. Januar 1945 kam ein Sohn der Familie Grünberg, Königsberger Mitglieder. mit einem besonderen Auftrag der Wehrmacht nach Königsberg. Er konnte seine Familie warnen, dass der Russe schon dicht vor Ostpreußen stand, und weil wir gleich nebenan wohnten, hat er uns auch gewarnt. So haben wir schnell alles zusammengepackt, sind zum Bahnhof gelaufen und versuchten, einen Zug zu erreichen. Aber diesen Gedanken hatten am 24 Januar auch viele andere Königsberger, der Bahnhof war bis zu den Gleisen vollgestopft mit Flüchtlingen. Gerade als wir uns anstellen wollten, wurde per Lautsprecher durchgesagt, auf Gleis sowieso würde noch ein Zug eingesetzt, und weil wir die Letzten auf der Treppe nach oben waren, kamen wir rasch zu dem anderen Bahnsteig und konnten den Zug besteigen. Es war der letzte Zug, der aus Königsberg herauskam.
Wir konnten nicht zügig durchfahren, immer wieder musste man auf Bahnhöfen warten, weil es nicht genug Lokomotiven gab, oder weil sie dort stehende Güterzüge wegziehen mussten. In diesen wurden jedoch keine Güter transportiert sondern sie waren mit den jüdischen Mitbürgern buchstäblich vollgestopft, die man in Konzentrationslager bringen wollte. Von diesen Menschen waren wahrscheinlich schon viele erfroren oder verhungert. Das haben wir allerdings erst später erschüttert erfahren.
Ich bin mit Mutter und meiner jüngsten Schwester dann nach Flensburg gekommen, denn hier war meine älteste Schwester verheiratet. Wir kamen in eine kleine Gemeinde, wo ich dann schon früh mit besonderen Ämtern betraut wurde. So war ich schon vor meiner Mission Gemeindepräsident und hatte sicherlich schon eine Menge Erfahrung, als ich 1955 auf diese Mission berufen wurde. Ich habe zuerst in Hildesheim gedient, wo zu dieser Zeit die Familie Jensen (unser späterer Pfahlpatriarch, ein Sohn war Pfahlpräsident) belehrt und getauft wurde. Berlin-Spandau und Norden in Ostfriesland waren weitere Stationen meiner Mission, und zuletzt diente ich in Hannover.
Nach Hannover bin ich dann einige Monate nach meiner Mission gezogen, habe hier meine Frau gefunden und eine Familie gegründet. Wir haben uns natürlich in der Kirche kennen gelernt. Wir haben fünf Kinder, die verheiratet sind, sechzehn Enkel und vier Urenkelkinder. Wir haben gerade im August 2008 unsere Goldene Hochzeit gefeiert, die wir im Tempel in Zollikofen 1958 geschlossen haben. Auch hier habe ich in vielen Ämtern dienen dürfen. Ich war zweimal Gemeindepräsident und einmal Bischof, zusammen neun Jahre. Ich habe ziemlich viele Operationen hinter mir, auch eine Lungentuberkulose. Eine besondere Erkrankung möchte ich noch erwähnen. Ich hatte einen Darmverschluss, man hatte ein 40 cm langes Stück Dünndarm herausoperiert und genau ein Jahr später ist ein vereitertes Geschwür geplatzt, tennisballgroß, das den ganzen Bauchraum mit Eiter füllte. Weil niemand wusste, was die ungeheuren Schmerzen verursachte, lag ich 27 Stunden mit diesem Eiter im Bauch. Nach ungefähr 12 Stunden segneten mich die Missionare. Als dann die Ärzte die ganze Bescherung sahen, wunderten sie sich doch sehr, dass ich noch am Leben war, denn „eigentlich hätte er nicht leben können und lebt doch“, sagten sie. Aber wie man sieht, bin ich wieder gesund geworden. Man sagt, Ostpreußen sind zähe Menschen und ertragen manche schlimme Krankheit. Und außerdem vertraute ich dem Vater im Himmel, der mich in jeder Krankheit wirklich reichlich gesegnet hat.
Danke fuer die Geschichte.
Mein Vater kommt auch aus Königsberg, er heißt Leo Botho Freimann, und ist am 12.10.1934 in Königsberg geboren. Sein Vater war Richard Paul Freimann geb. am 04.08.1905 in Margen, Kreis Memel. Haben sie meinen Vater gekannt?
Lieben Gruß
Angelika Voß