Breslau, Schlesien

Mormon Deutsch Rotraud FreimannMein Name ist Rotraud Freimann, geborene Wagner. Ich wurde am 24. November 1937 in Breslau, Schlesien, geboren. Mein Vater heißt Bruno Josef Wagner, meine Mutter Helene Karola Maria Wyrtki. Ich habe einen Zwillingsbruder Reinhard und eine 6 Jahre jüngere Schwester Heidrun, verheiratete Wendt.

Dass ich der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage angehöre, hängt ein wenig mit meinen Verwandten mütterlicherseits zusammen. Meine Großmutter, also die Mutter meiner Mutter, hatte 6 Geschwistern, von denen sich drei recht früh, so um 1920 herum, der Kirche anschlossen. Wegen dieser Tatsache und auch wegen einiger Erbstreitigkeiten entzweiten sich die Geschwister, und wir – die katholische Seite – hatten fast keinen Kontakt mit der Seite der „Mormonen“. Lediglich meine Mutter ging ab und zu mit zu den Versammlungen, weil ihr als junges Mädchen natürlich die Missionare so gut gefielen.

Meine Eltern haben katholisch geheiratet, und wir drei Kinder wurden auch in der katholischen Kirche als Babys getauft und auch belehrt. Jedoch sagte mein Vater, dass er sich nach dem Krieg mit seiner Familie eine andere, eine richtige Kirche suchen wolle. Dazu kam es für ihn jedoch nicht. 1939 wurde er gleich eingezogen, er gehörte der SA an und nahm von Anfang an am Krieg teil. Deshalb kann ich mich auch nur auf ganz wenige Begebenheiten erinnern, an denen ich ihn sah und erlebte, eben nur dann, wenn er auf Urlaub war. Einmal wurde er verwundet und hat einige Tage nach seinem Lazarett-Aufenthalt zu Hause verbracht.

Am 24. Januar 1945 sind wir aus Breslau geflüchtet. Das war der gleiche Tag, an dem auch mein Mann aus Königsberg geflüchtet ist. Unser Nachbar konnte über seine Firma einen offenen Lastwagen organisieren und nahm uns, meine Mutter, uns drei Kinder und meine beiden Großmütter mit. Mein Bruder und ich waren damals 7 Jahre alt, meine Schwester ein Jahr und noch im Kinderwagen. Wir fuhren im tiefen Winter bei hohem Schnee zunächst von Ort zu Ort, übernachteten in Heimen und Schulen in Massenquartieren und konnten bald mit der Eisenbahn weiterfahren, weil wir uns von den Nachbarn getrennt hatten. Sie wollten über Dresden weiter reisen und sind später in die schrecklichen Bombenangriffe, die auf Dresden niedergingen, geraten, jedoch unversehrt entkommen. Meine Großmutter väterlicherseits blieb in Langenbielau in Schlesien bei ihren Brüdern, sie war schon ziemlich alt, und es war ihr sicherlich zu beschwerlich, weiter zu reisen. Sie kam jedoch einige Zeit später dann doch nach Westdeutschland.

Die Züge, in denen wir weiterfuhren, waren oft Soldatenzüge, und das war für uns gut, denn so wurden wir aus deren „Gulasch-Kanone“ mit verpflegt. Meine Mutter kochte für die kleine Schwester über einer Kerze Milch für das Fläschchen und ließ das Baby fast nur auf einem Töpfchen sitzen, weil es ja keine Gelegenheit zum Windelnwaschen gab. Während der Fahrt war der Zug nachts verdunkelt, damit man kein Ziel für die Tiefflieger abgab.

Wir fuhren weiter in die Tschechoslowakei (das heutige Tschechien), wo wir einmal auf einer Brücke über die Eger stehen blieben, weil ein feindliches Flugzeug im Tiefflug auf uns zukam. Wir fürchteten wirklich um unser Leben, aber das Flugzeug wurde von der Flak (der Flugabwehr) vor unseren Augen abgeschossen und stürzte brennend in die Eger. In dem deutschen Grenzstädtchen Fürth im Wald in der Oberpfalz, einem Landesteil von Bayern, war unsere Flucht zu Ende. Dort durften wir den Zug verlassen und erfuhren, dass man nur die Hälfte der Flüchtlinge aufnehmen könne. Die andere Hälfte musste wieder in die Tschechoslowakei zurückfahren. Sie kamen einige Wochen später wieder zurück nach Bayern und erzählten schreckliche Dinge von den Racheakten der Tschechen an ihnen. Wir durften bleiben und wurden auf verschiedene Dörfer in Bauernhöfe aufgeteilt. Wir fuhren mitten in der Nacht mit einem Pferdefuhrwerk weiter in einen kleinen Ort, in dem es nur 11 Häuser gab, kein elektrisches Licht und kein fließendes Wasser. Dort wohnten wir bei einem Bauern, der uns eigentlich nicht haben wollte, fast 5 lange Jahre in einem Zimmer. Darin mussten wir wohnen, kochen, schlafen, uns in einer Schüssel waschen, Schularbeiten machen und auf einer „Kochhexe“, einem kleinen Öfchen mit Holz, unser Essen zubereiten. Die einzige Beleuchtung bestand aus einer Petroleumlampe, Wasser holten wir mit der Pumpe aus dem Brunnen im Hof, die Toilette war ein „Herzhäuschen“ neben dem Misthaufen. Das Holz für den kleinen Ofen suchten wir uns in den Wäldern ringsum zusammen, die Wäsche spülten wir im Bach und konnten sie manchmal nur mit Sand waschen, weil es nicht immer Seife gab. Im Winter war es abends so schnell dunkel, dass wir ab 7 Uhr nur noch im Bett liegen konnten und mit Mutter Rätselfragen beantworten, denn bei Petroleumlicht konnte man nicht lesen, und wir hatten auch fast keine Bücher. Wir gingen „hamstern“, wir halfen bei der Feldarbeit, um ein bisschen etwas zusätzlich zu den schmalen Angeboten an Lebensmitteln, die man auf Marken (also rationiert) kaufen konnte, zu haben. Wir sammelten Beeren, Äpfel und Pilze und mein Bruder, 10-11 Jahre alt, ‚jagte“ und fischte, was sich in den Wäldern ringsum fangen ließ, kleine Hasen, Raben, Aale, Krebse und andere Tiere. So haben wir eigentlich nicht gehungert, wenn auch alles nur in kleinen Mengen vorhanden war. Bald gab es für die Flüchtlingskinder auch Schulspeisung, und so haben wir die ersten Dosenpfirsiche aus Kalifornien kennen gelernt, die in dem Grießbrei, den wir bekamen, wundervoll schmeckten. Und manchmal gab es auch Bananen, die wir bis dahin überhaupt nicht kannten.

Im Mai kamen die Amerikaner nach Bayern, eigentlich als Eroberer, aber die Bauern hatten sich schon ergeben, sie hängten weiße Bettlaken an die Fenster und freuten sich über die Befreiung. Für uns war es eine gute Zeit mit den Amerikanern. Meiner Mutter ist nichts von dem passiert, was die Russen in der russischen Zone mit den Frauen anstellten. Die Amerikaner waren freundlich und freigebig, wir bekamen oft von ihren Mahlzeiten, die sie für die Besatzungssoldaten kochten, etwas ab. Sie legten in den Wäldern ringsum die ersten Abfallhaufen an, die ich je zu Gesicht bekam, und das waren wirkliche „Fundgruben“ für uns. Was konnte man da nicht alles finden: noch verschlossene Beutel mit Zucker, Kaffee, anderen leckeren Sachen, Dosen und ähnliches. Ich habe den Verdacht, dass sie es absichtlich so anlegten, damit wir davon genießen konnten. Als sie ankamen, mussten wir vorübergehend unser Zimmer räumen und woanders schlafen. Nach einigen Tagen durften wir wieder zurück in unser Zimmer gehen, und meine Mutter entdeckte auf allen Flächen ringsum Dosen und Tüten mit Lebensmitteln. Als sie einen Offizier darauf ansprach, blickte er sich scheinbar suchend um und sagte dann, er könne überhaupt nichts sehen. Und wir lernten durch sie, dass man Kaugummi kauen kann.

Unser Vater schrieb noch zwei Jahre aus der Gefangenschaft in Russland, wo er in einem Bergwerk arbeiten musste, dann bekamen wir ein Jahr lang keine Post und schließlich, Anfang Januar 1949 schrieb einer seiner Kameraden, dass Vater verunglückt sei und während seines Krankenlagers verhungert und verstorben ist. Das war ein furchtbarer Schlag für meine Mutter, mit drei Kindern in einem Dorf sozusagen am „Ende der deutschen Welt“ allein, denn meine Großmutter war dort inzwischen auch verstorben. Ich glaube, sie wollte eigentlich selbst nicht mehr weiterleben. Die gesamte Verwandtschaft, Brüder, Schwester, Cousinen und Tanten waren über ganz Deutschland verstreut, kaum einer wusste vom anderen und man musste mühsame Wege in Kauf nehmen, um einander ausfindig zu machen. Das war durch das Deutsche Rote Kreuz möglich geworden Suchmeldung über Verwandte wurden aufgegeben, an den Bahnhöfen standen die Menschen mit großen Schildern, auf denen die Suchmeldungen aufgeschrieben waren.

Durch das Rote Kreuz und Verwandte, die bereits mehr erfahren hatten, machten uns unsere mormonischen Verwandten, die in Hannover gelandet waren, ausfindig. Sie setzten sich mit uns in Verbindung, hörten vom Tod unseres Vaters und versuchten nun, uns nach Hannover zu holen. Das war nicht ganz einfach, denn Hannover lag in der britischen Zone, Bayern in der amerikanischen. Man musste Kontakte und Wohnung, wenn möglich sogar Arbeit in einer anderen Zone nachweisen, um dort unterzukommen. Unsere Verwandten, die Familie Nolte, schaffte es, und so konnten wir Ende 1949 in das sehr zerstörte, ausgebombte Hannover umziehen, wo wir mit der großen Familie Nolte in einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung unterm Dach wohnten, wieder in einem Zimmer. Aber wir waren nicht mehr allein, und unsere Verwandten nahmen uns gleich mit zur Kirche, wo wir liebevoll aufgenommen wurden.

Die Gemeinde Hannover hatte kein Gemeindehaus mehr, auch das war ausgebombt, sondern man versammelte sich in einer Schule. Der Raum für die Abendmahlsversammlung war so voll, dass die jungen Männer ringsum an den Wänden stehen mussten, jedoch wanderten sehr viele nach und nach in die „Felsenberge“ nach „Zion“ aus. 1950 dann bekamen wir von Bruder Stover aus Salt Lake City ein Haus geschenkt, das eigentlich eine Ruine war, aber mit Hilfe der Geschwister in ein schönes eigenes Gemeindehaus verwandelt und von Präsident David 0. McKay eingeweiht wurde. Ich war inzwischen mit meinen Geschwistern getauft worden und habe diese Einweihungsfeier als ein besonderes Erlebnis in wacher Erinnerung. Meine Mutter hat sich mit ihrer Taufe noch 18 Jahre Zeit gelassen, ist dann aber endlich nach unseren vielen Gebeten auch der Kirche beigetreten und ein sehr tätiges Mitglied geworden. So konnten wir im Tempel an unseren Vater gesiegelt werden, und wir wissen durch das persönliche Zeugnis unserer Mutter, dass er sehr darauf gewartet hat.

Ich kann sagen, dass wir trotz der schrecklichen Erlebnisse des Krieges, trotz Flucht und den Verlust unserer Heimat und unseres Häuschens doch sehr gesegnet wurden. Es ist uns nichts wirklich Schlimmes geschehen, Mutter hat uns zu fröhlichen, optimistischen Menschen erzogen, obwohl wir bitter arm waren. Wir haben die Kirche kennen gelernt, ich habe dadurch meinen Mann gefunden und es hat sich alles zum Guten für uns ausgewirkt. Ich werde dem Vater im Himmel immer dankbar sein.