Königsberg, Ostpreußen

Mormon Deutsch Hans Erwin FuchsMein Name ist Hans Erwin Fuchs. Ich bin geboren am 26. Mai 1937 in Königsberg/Preußen, das ist in Ostpreußen, Königsberg war die Landeshauptstadt von Ostpreußen. Als der Krieg zu Ende war, wurde ich acht Jahre alt. Meine Mutter, Ursula Fuchs, née Albrecht, ist am 12. September 1911 in Posen geboren und mein Vater, Erwin Fuchs, ist am 21. April 1912 in Königsberg geboren.

Meine erste Beerdigung, die ich mitmachte, war als 6-jähriger Junge und ich ging an der Hand zwischen meiner Mutter und meiner Oma. Wir gingen zum Friedhof. Und das war ein ganz wichtiger Gang, denn Bäckermeister Thiel, sein Junge, war gefallen. Wie oft bin ich zu Thiel gelaufen und habe Brot und Brötchen geholt. Am Nachmittag gingen meine Mutti und Oma mit mir in der Mitte an der Hand zum Friedhof zur Beerdigung von Thiels Sohn. Es war meine erste Beerdigung. Eine kleine Militärkapelle spielte „Ich hat’ einen Kameraden“. Ich habe bei diesem Lied mehr Empfinden als bei manch einem Kirchenlied. Es sind meine traurigen Erlebnisse, von denen ich nicht in der Lage bin, mich zu befreien.

Und stellen Sie sich bloß vor, die haben den Thiel schwer verwundet mit den Anderen in den Sanitätswagen geworfen und sind nach hinten gefahren. Unterwegs ist dann noch die Tür von der Fahrt aufgesprungen. Der Thiel fiel hinaus, man hielt an, warf ihn wieder hinein, denn sie waren noch unter Beschuss. Na ja, er war noch eine Woche im Lazarett. Ist aber an den schweren Verletzungen erlegen. Es wurde drei Mal Salut geschossen, das ging mir durch und durch. Ich dachte so, meine Finger verkrampften sich bei Oma und Mutti, diese Kugeln können so durch den Körper gehen und dann ist man tot.

Dieses muss ich unbedingt erwähnen. Meine Großeltern hatten eine Schneiderwerkstatt. Diese Schneider-Werkstatt hatte sich spezialisiert auf das Nähen von Hosen. Später haben sie auch Steppkleidung genäht für Flugzeugpiloten.

Der Endkampf in unserem Stadtteil dauerte etwa drei Tage. Wir hatten gerade Mittag gegessen. Die Sirenen gingen. Die Flugzeuge waren, da und die Bomben fielen. Die Luft vibrierte. Die Fensterscheiben waren von der Druckwelle alle kaputt. Die Türen standen offen und ein kräftiger Luftzug, wie wir es noch nicht kannten, zog durch unser Haus. Mutti: „Nehmt den Rucksack, los in den Keller“. Bei uns stand alles bereit. Es lief wie geschmiert. Diesmal hielt ich mich am Treppengeländer fest, die Zugluft war so stark, und runter, runter, runter. Wir liefen so schnell wie nur möglich in den Keller. Ganz ohne Zweifel, diesmal waren wir an der Reihe. Wir waren froh, im Keller zu sein, kauerten auf dem Bett eng zusammen, Mutti in der Mitte, den einen Arm um Wilfried, den anderen Arm um mich gelegt. Bemerkte ich da etwas? War Mutti unruhig? O ja! Und die anderen Erwachsenen? Ihre bleichen Gesichter, die Falten und Furchen, tief gezeichnet, in den Augen ist doch die Angst zu sehen. Und bei einigen zittern die Hände. Wenn eine Bombe so in der Nähe fällt, dann rufen sie: „o Gott, mein Gott, mein Gottchen“ – und Mutti zittert.

Erneut hörten wir tiefliegende Flugzeuge. Das Geräusch war neu, tak tak tak tak tak tak, ganz schnell, etwas zischend. Es wurde dann für einige Zeit etwas ruhiger. Es kam eine neue Welle Flugzeuge. Unser Haus zitterte. So ein großes Haus so fest und stark und das zittert. Und einmal schien es mir, es hat gewackelt. Es fiel Bombe auf Bombe. Die waren über uns. Immer neue Menschen kamen in den Keller. Wir kannten sie nicht. Die Kerzen waren aus. Der Luftzug war so stark, ein Licht konnte nicht brennen. Von Mutti hatte ich das Gefühl, als sei sie steif. Dann sagte jemand: „Hier sind wir nicht mehr sicher, wir müssen in die Bunker am Königstor in den Wallanlagen, die sind tiefer“. „Quatsch, hier kannst du jetzt nicht raus“. Wie lange es so ging? Ich schätze so an die 2 Stunden. Das Nebenhaus war getroffen, mit Kreuzhacken wurden die vorgesehenen Durchbrüche eingeschlagen und die Menschen kamen zu uns und auch der Rauch drang in unseren Luftschutzkeller. Das Treppenhaus war im Nachbarhaus zusammen gesunken. „Volltreffer“, war der Ruf.

„Ursel, Ursel“, das war Opas Stimme. In Mutti kam Bewegung. Opa und Mutti tuschelten miteinander. Die Folge war: „Kommt“, sagte Mutti nur. Opa nahm Muttis Koffer, wir hatten jeder unseren Rucksack auf und gingen dann zum Ausgang. Herr Zeich war oben an der Treppe und sagte: „weg, weg, weg, wenn hier eine Bombe trifft, dann werden wir alle verschüttet. Geht zum Königstor“. Als ich im Treppenhausflur war, erfasste mich ein fürchterlicher Wind. Ich drehte mich um und wollte wieder in den Keller zurück. „Du gehst jetzt hinter dem Opa, hast du das verstanden“? Ich wollte nicht. Herr Zeiß schob mich zurück in Richtung Straße. Dann war ich schon fast bis zur Haustür, die offen stand. Ich wollte erneut zurück. Mutti gab mir eine Ohrfeige. Opa rief nach mir, der war schon draußen. Es war Nachmittag, wohl so gegen 16 Uhr. Und nun sah ich auf zwei Flugzeuge hoch über der anderen Straßenseite. Von einigen Häusern fehlten mir bekannte Teile, das sah komisch aus. Es war einfach weg, nicht mehr vorhanden. Ich wunderte mich. „Hansi komm“, rief Opa – und ich lief ihm nach. Wir liefen nicht auf der Gehsteigseite, sondern mitten auf der Straße auf dem Pflaster. Denn von den Dächern fielen Steine, Holzteile, Teerpappe und andere Sachen. Und dann war ein Flugzeug hinter uns, ganz tief. Jemand rief: „lauf an die Hauswand“, ich tat es. Das Tak Tak Tak raste dicht an Opa vorbei. Aus dem Pflaster spritzten starke Funken. Wir waren dann bald an der Barrikade. Da ging es langsamer. Denn der Durchgang war am Haus beim Blumengeschäft. Und andere Leute gingen ebenfalls durch. Wir waren im Luftschutzkeller des Vorderhauses, denn der war verstärkt ausgebaut worden, auch lag er tiefer. Oma hatte Tee in der Thermosflasche, der war schön warm und schmeckte gut. Viele Leute kannten wir und es gab noch Platz. Erneut kam eine Welle von Flugzeugen. Die Männer machten die Stahltüre mit den Gummikanten zu und die langen Hebel klemmten die Tür fest. Aber die Bombenabwürfe waren schlimm. Es schien kein Ende zu nehmen. Mal war es ganz dicht und in der Ferne schien es nie aufzuhören.

Opa hatte seinen stabilen Handwagen in Torbogen untergestellt. Der war gepackt. Wir wollten nun in die Wallanlagen. Wilfried saß oben an der Seite auf und ich schob hinten. An vielen Stellen schlugen Flammen aus den Fenstern der Häuser. Es war ein fürchterlicher Wind. Feuer benötigt Sauerstoff. Da es überall brannte, wurde der Sauerstoff angesogen. So war der Wind zu erklären. Die Leute sprachen vom Feuersturm. Das war aber später in der Nacht. Der Artilleriebeschuss auf Königsberg nahm mehr und mehr zu. Mit einem Pfeifton kamen diese Geschosse an, schlugen ein und wumm. Und wieder ein Loch oder es fiel wieder ganz viel zusammen. Wir waren fast am Ende der Königstraße, da schlug eine Granate über uns in ein Haus ein. Ich schlotterte am ganzen Körper. Oma rief: „Hansi weiter, ist ja schon vorbei“. Und viele Menschen waren wie wir unterwegs. Die vorderen Bunker waren überfüllt, wir wurden immer weiter geschickt. Und endlich fanden wir einen. Der Handwagen musste natürlich draußen bleiben. Und so viel Gepäck durfte auch nicht in den Bunker. Und so kamen wir nur mit dem Rucksack hinein und mit einem kleinen Koffer. Es ging schräg abwärts, manchmal eine Stufe und die Decken waren gewölbt. Und es ging sehr tief hinein und seitlich gab es Räume. Wir bekamen Platz am Gang in einer Nische. Da kauerten bereits welche, aber die mussten zusammenrücken und dann hockten wir auch da.

Im Laufe des zweiten Tages mussten wir unseren Bunker verlassen und zwar alle und restlos. Dies verlief auch ganz schnell. Es murrte niemand und es sah auch jeder ein, dass es so sein musste. Dieser Bunker wurde zum Lazarettbunker für die verwundeten deutschen Soldaten. Und sie waren auch schon vor dem Bunker und viele Zivilisten weinten über die Verwundeten. Und ich habe sie auch gesehen, mir wurde ganz schlimm, ich möchte es nicht beschreiben. Ich war tief, tief traurig. Mir würgte es im Hals. Ich war so entsetzt. Mutti weinte, Oma weinte, alles ganz still und wir eilten dahin, wo die vor uns hingingen.

Ich möchte sagen, es ging so weiter wie am Vortag. Am Abend, es wurde dunkel, die Kampfhandlungen ließen nach. Eine laute Männerstimme verkündete: „Es wird ein Transport zusammengestellt. Ein Zug vom Nordbahnhof wird in den Westen umgeleitet. Frauen und Kinder werden für diesen Transport vorrangig berücksichtigt“. Oma sagte: „Wir gehen nicht“. Mutti nickte kurz und Opa meinte, er würde sich mal umhören. Und es ging ein ganz schöner Teil. „Bleiben sie man hier“, sagte ein verwundeter Soldat zu uns. „Es ist jetzt sowieso alles zu spät, Königsberg ist vollkommen eingeschlossen, da geht keine Maus mehr durch“. Nach einigen Stunden kamen die Ersten zurück. Der Bahnhof war nicht zu erreichen. Die Stadt brennt. Die Straßen sind von Fahrzeugen verstopft. Opa berichtete, man könne nur bis zum Roßstädter Markt. Später erfuhr ich aus Berichten, es fuhr kein Zug. Die Brücken waren vermint und eine Vielzahl der Brücken waren zu diesem Zeitpunkt bereits gesprengt. Der Vormarsch der Russen sollte verhindert werden.

Neben uns auf einer Bank saß ein schönes Liebespaar. Sie schmusten viel, waren zärtlich zu einander. Es war wunderbar zu sehen, wie sie sich gerne hatten. Alles war dicht bei dicht voll Menschen. Auf den schmalen Bänken und den Gepäckstücken hatten sich manche eine Art Lager gebaut, wir auch. Ich wollte schlafen, ich konnte nicht. Wir wollten alle schlafen und keiner konnte. Das schöne Liebespaar schmuste so, als wären sie ganz alleine. Es war so, als hätten sie alle diese Menschen vergessen. Ich wunderte mich. Meine Mutter berief mich nicht, denn man darf doch nicht Menschen so auffällig besehen. Ich kam nicht davon los. Die Beiden hatten sich doch so gerne. Er war ein Offizier, gute Uniform, mit Orden, Koppelzeug mit schöner Armee-Pistole, tolles Seitengewehr, der linke Arm in einer Binde, richtiger gesagt, in einem Tuch stark verbunden und der Verband blutete an einer Stelle durch. Und die junge Frau, die ist ganz fürsorglich mit ihm. Sie trinken Wein, das rieche ich. Sie ist eine schöne junge Frau. Schöne schulterlange Haare hat sie, trägt einen warmen Winterpelzmantel, so ein richtiger, kuscheliger Pelz. Darunter erkennt man, wenn sie den Pelz öffnet, ein Kleid, wie es wohl reiche Leute haben. Komisch, niemand ist hier so gut gekleidet. So geht man doch, wenn man etwas Besonderes vorhat. Von Zeit zu Zeit nimmt der Offizier eine goldene Taschenuhr hervor, klappt den Deckel auf und sieht nach der Zeit. Dann sagt er: „Noch eine Stunde, dann kommt der Iwan“. Und nun fällt mir auf, es ist ja still, keine Flugzeuge, keine Kanonen, nur mal Schüsse. Dieses Liebespaar hat einen braunen Dackel. Er ist immer zwischen den Beiden. Dem ist wohl kalt. Er zittert ja auch. Und dieser Dackel guckt traurig.

Der Offizier steht auf, schaut mehrmals auf die Uhr, lässt sie auf den Steinboden fallen, tritt kräftig mit dem rechten Stiefelhacken drauf und dreht den Hacken um. Mutti ist sehr erstaunt. Er zeigt auf ihre schöne Armbanduhr und sagt: „Geben sie her, ich mach sie auch gleich kaputt, denn heute Abend werden sie sowieso keine Uhr mehr haben“. Mutti schüttelt entrüstet den Kopf und zieht den Ärmel vom Pullover über ihre Uhr. Dann nimmt er den Dackel unter den gesunden Arm und geht nach draußen. Die junge Frau ist aufgestanden und sieht ihm nach. Sie setzt sich dann wieder hin, beugt ihren Kopf auf die Brust, legt ihre Arme über den Kopf, sie weint leise. Oma steht auf und geht hinaus, sie muss mal. Als sie nach einiger Zeit zurückkehrt, sagte sie ganz leise und war dicht bei Mutti: „Der Offizier hat den Dackel und sich selbst erschossen, sie liegen hinter einem Holunderbusch“.

Es wurde langsam hell. Rosig ging die Sonne auf. Gutes Wetter war. Frühling. Wir hörten Motorräder. Die Russen kommen. In dem Gesicht war alles, Anspannung, Angst, Erwartung. Es waren nur die Drei. Sie kamen herein, blieben vorne. Einer hatte eine Kalaschnikow im Anschlag, die andere schräg auf dem Rücken mit dem Lauf nach unten. Sie sahen sich um, fragten etwas, ich verstand es nicht, drehten sich um und gingen zu ihren Motorrädern und fuhren weiter. Alles atmete erleichtert auf. Als Nächstes hörten wir schwere Motoren. Es waren Lastwagen mit vielen Russen und Panzern.

Wir verließen die Verladehalle in den Wallanlagen am Königstor. Jeder hatte seinen Rucksack auf. Opa suchte den Handwagen mit dem Gepäck. Er hatte ihn da irgendwo versteckt. Was heißt versteckt, es war ja alles heillos durcheinander. Vor uns standen einige Straßenbahnwagen, da gingen Leute rein und raus. Oma und ich, wir waren neugierig und wir gingen hin. In dem einen Wagen waren Kisten mit guten Zwiebeln. Ich steckte mir einige in die Manteltaschen. Warum, weiß ich nicht. Nach kurzer Beratung beschlossen wir, zur Königstraße 21 zu gehen und dann zur Dinterstraße. Es war nicht möglich, irgendwo gerade entlang zu gehen. Massenhaft lagen leere Geschosshülsen herum. Und zwischendurch auch Blindgänger. Dann umgestürzte Autos. Zerschossene Treckwagen. Bei dem einen Wagen standen sogar noch die Pferde. Zerstreut lagen aufgebrochene Koffer und Gepäckstücke herum. Auch Bombentrichter mussten umgangen werden.

Und es gab so viele zu sehen. Wir waren bei Oma und Opa Königstraße 21, da kann man nicht mehr wohnen. Wir gehen in die Dinterstraße, alles verbrannt. Dinterstraße 6, unser Haus, die schwere Haustür, an die ich mich immer dagegen werfen musste, um sie zu öffnen, ist verbrannt. Das Treppenhaus, ja die Treppe war aus Eisen, und die dicken Holzstufen waren darauf geschraubt. Das Eisen war noch. Da wo es in den Keller ging, war alles voll Steine und Schutt. Man konnte ungehindert zum Hof sehen, der nun keiner mehr war. Alles voll Schutt und Trümmer. Alles so fremd, so verlassen, so unbewohnbar. Auch die schönen alten Fliederbäume so stümpfig. Dinterstraße 6 hatte keine Balkone mehr. Die waren aus Holz. Es gab nirgends mehr Balkone. Die Lindenbäume hatten keine Zweige, die waren auch bekämpft worden. Es war vom Wetter ein schöner Morgen, die Sonne wärmte ganz leicht. Wir gingen in die Friedrichstraße, von dort in die Augustusstraße, es war die Parallelstraße zur Dinterstraße, und wie ein Wunder waren dort drei oder vier Häuser nicht verbrannt. Im Parterre des einen Hauses wohnte eine frühere Klassenkameradin von Mutti. Wir gingen in die Wohnung. Sie war durchsucht und alles lag verstreut herum. Zweifellos war es einmal ein sehr guter Haushalt hier. Davon gaben Zeugnis die schönen Möbel, das wunderbare Porzellan und die schönen Dinge, die das Leben lebenswert machen. Alles war schonungslos herausgerissen, Krieg hat vor nichts Achtung und Ehrfurcht. Das hatten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht so ganz begriffen, denn wir waren im Glauben, die Russen sind nun da, es wird schon wieder Ordnung einkehren. Wir werden hier wohnen, meinten Mutti und Oma, „ja“ fügte Mutti hinzu, „sie wird für unsere Lage Verständnis haben“. Damit meinte sie ihre Schulfreundin.

Und so wurde aufgeräumt und sauber gemacht. Nach einer Stunde sah es schon ganz ordentlich aus. Ich sammelte Garnrollen in eine Schublade und Oma freute sich über die Nähmaschine, die da stand. Dann kam ein Russe, die Kalaschnikow schräg über den Rücken, den Lauf nach unten. Er riss alles auseinander. Achtlos wurde auf allem herumgetrampelt. Ich stand staunend da, was da so ein erwachsener Mensch machte. Weitere Russen kamen und machten mit. In diesem Moment kam Opa und sagte: „Ursel, nimm den Rucksack und komm“. Im Nu hatten wir unser Gepäck und ein russischer Offizier kam und forderte uns auf, mitzukommen. Oma begann ein Gespräch mit ihm und sie unterhielten sich wie vernünftige Menschen. Ich bewunderte Oma, die in einer anderen Sprache sprechen konnte. Ich muss dazu sagen, dass unsere Oma russisch und polnisch sprach und deutsch natürlich auch.

Die Deutschen wurden gesammelt. Es ging durch uns bekannte Straßen. Erst jetzt wurde uns das Ausmaß der Zerstörung bewusst. Wir kamen an Stellen vorbei, da sagte Oma: „Du siehst jetzt zur anderen Seite“. Ich tat es. Ich war ja zu Gehorsam erzogen. Aber dann tat ich es nicht mehr. Ich wollte wissen, was ich nicht sehen durfte. Und ich sah Tote. Wenn es zu schlimm wurde, dann hatte sie mir einfach die Augen zugehalten oder meinen Kopf in ihren Mantel gedrückt. An den Anblick von toten Pferden hatte ich mich schnell gewöhnt. Wir kamen an Straßenstellen, da mussten wir zur Seite, Panzer, Lkws, auch mit Kanonen, wurden vorbeigeleitet. Die Übermacht der Russen war unbeschreiblich. Und was mich wunderte, die vielen Kolonnen der Pferdefuhrwerke. Wir kamen auch wieder an das Königstor. Viele, viele deutsche Soldaten wurden in die Gefangenschaft geführt. So ein vermessenes Regime. Das war am 29. März und am 8. April war die Einnahme von Königsberg.

Mit den Zivilisten wurde auch nicht zimperlich umgegangen. Der Hass auf die Deutschen war unverkennbar. Ich war darüber als Kind sehr betroffen. Von Ursache und Wirkung verstand ich zu diesem Zeitpunkt nichts. Heute ist das für mich verständlich. Die Russen steigerten sich mehr und mehr in einen Siegestaumel. Sie tobten sich an den Besiegten aus und es schien kein Ende zu nehmen. Sie trieben uns durch die Stadt in die Außenbezirke wieder zurück. Ich lief an der Seite von Oma, Wilfried bei Mutti und Opa machte, was er konnte. Manchmal war es, dass wir uns verloren. Waren Hindernisse auf der Straße, so suchten die Russen einfach Männer und auch Frauen, die sie wegzuräumen hatten. Ein Menschenleben zählte nichts. Wer nicht konnte, wurde erschossen. Ich ging nur noch mechanisch neben Oma. Angst macht ja auch Kräfte frei. Wie mein Bruder Wilfried das durchgestanden hat, der ist drei Jahre jünger als ich, ist mir noch heute ein Rätsel. Und es waren Frauen mit Kleinkindern dazwischen. So möchte ich sagen, das Wort „Erbarmen“ sollte es nur im Wörterbuch geben. In solchen Zeiten gibt es das nicht. Heute denke ich, alle die so schnell gestorben sind, die hatten es doch ganz gut. Aber wir wollten ja alle leben. Und was ist da nicht alles möglich.

Nachts hallten die Schreie der vergewaltigten Frauen und Mädchen. Manche schrien: „Schießt mich tot, schießt mich tot“. Die Schreie der Gepeinigten waren für mich eine unbeschreibliche Qual. Mein Herz schlug gewaltig und ich spürte, die in der Umgebung waren, denen ging es nicht anders. Wir erlebten den Schrecken und die Angst in seiner Vollendung.

Später waren wir in der Kaserne von Rotenstein. Zur Nacht schwärzten die Frauen das Gesicht, damit sie nicht gut aussahen. Und in der einen Nacht, wir schliefen unter einem Tisch, durchforschten mehrere Sieger auch unseren Raum, der mit 40 bis 50 Personen total überfüllt war. Im Türbereich nahmen sie mehrere Frauen gewaltsam mit. Dann griffen sie Mutti. Wir schrien und klammerten uns an ihr fest und auch Oma griff tüchtig zu. Ursula war schon fast aus dem Tischbereich, Oma warf sich kräftig auf sie und Wilfried und ich auch. Ein schwerer Kolbenschlag mit der Kalaschnikow auf Omas Rücken kam, aber sie blieb an ihrer Tochter angekrallt. Oma hob den Kopf hoch und sprach auf Russisch den rabiaten Peiniger an. Die Worte verstand ich nicht. Die Russen wechselten einige Worte unter sich, ließen Mutti los und gingen weg. Was Oma wohl gesagt hatte? Es muss wohl etwas Besonderes gewesen sein. Oma hatte 14 Tage schwere Rückenschmerzen und ging ganz schön krumm. Andere sind auf diese Weise auch totgeschlagen worden.

Die Deutschen waren immer gefährdet. Die Nächte waren stets sehr gefürchtet. Die Russen erschossen ein Pferd, schnitten die Hinterkeule raus und zogen damit ab. Über den Rest fielen die Deutschen her. Alle hatten Hunger. Geschäfte gab es nicht. Eine Versorgung in irgendeiner Form bestand auch nicht. Opa war der Held. Er brachte einen Rucksack voll Kartoffeln. Zwischen zwei Ziegelsteinen wurde ein Feuerchen gemacht und ein Topf voll Kartoffeln aufgesetzt. Und in der Zwischenzeit waren unzählige Diebe unterwegs. Wir wechselten uns ab, ein Erwachsener musste immer beim Gepäck bleiben. Nach vielen, vielen Tagen waren diese Pellkartoffel unsere erste warme Mahlzeit und sie waren sehr köstlich. Sie schmeckten etwas rauchig, denn sie waren aus dem Keller eines abgebrannten Hauses.

Diese Art der Tierschlachtung, wie mit dem Pferd, war verbreitet. Es spielte sich meistens in der gleichen Form ab. Für die Russen war es natürlich eine Gaudi, wie die German skies über die Reste herfielen. Einmal hatte Oma Glück. Es war eine Kuh. Achtlos blieben das Fell mit dem Kopf und den Beinen zurück. Es schnitten da noch einige herum. Oma und eine Bäuerin suchten sich das Euter hervor und teilten es sich, denn die meisten dachten, das Euter kann man nicht essen. Doch man kann. Es schmeckt wirklich gut. Mutti schälte Kartoffeln, einige Stücke Euter kochten. „Schade“ meinte Oma, „es fehlt noch was, und wenn es nur eine Zwiebel wäre“. „Ach, das wäre ja schön“. Ich griff in die Manteltasche und gab ihr eine gute Zwiebel. Mutti sah das, staunte mich an: „Wo hast du die denn her?“ „Aus dem Straßenbahnwagen am Königstor“. „Ja, wir müssen jetzt immer alles mitnehmen, was zu gebrauchen ist“, meinte Oma. Stolz gab ich ihr noch 2 Zwiebeln, mehr hatte ich aber nicht.

Wir mussten weiterziehen. Wohin? Wer weiß das. Oma sah mich an: „na Hansi, du hast Hunger“. Ich nickte. „Hier ist für jeden ein kleines Stück Kuheuter mit Sehne, da kann man ganz lange darauf kauen und das macht Saft im Mund. Den kann man hinunterschlucken und dann hat man nicht so einen Hunger“. Die Sehne schluckt man nicht hinunter. Und so war es dann, wir gingen und kauten.

Wir landeten wieder in Rotenstein. Diesmal fünf Tage streng bewacht in einer Panzerhalle. Austreten nur in unmittelbarer Nähe der Halle. Alles war voll Kot und Urin. Unvorstellbare Zustände. Mir taten die Knie weh. Oma legte ihren Wintermantel unter. Nur nicht so auf dem Beton liegen. Diese Tage waren eine Qual. Opa wurde uns weggenommen. Er kam zu den Männern. Frauen kamen, die schrieben unsere Namen auf, mit Alter. Raus und antreten. Wir durften gehen. „Suchen sie sich eine Behausung“, in eine Richtung wurde gezeigt. Wir gingen und sahen Opa. Wir durften nicht zu ihm. Man jagte uns laut davon. Oma gab Opa Zeichen, wohin wir gehen. Er gab Zeichen des Verstehens.

Wir gingen. Es war ein schöner Nachmittag. Wir ließen uns Zeit. Dann hörten wir hastige Schritte hinter uns. „Ihr werdet doch wohl nicht ohne mich gehen!“ Es war Opa. Und Oma rief: „mein Oller“.

Also, das muss ich erklären: Meine Oma sagte immer „Oller“ zu ihm und er sagte immer „Olle“ zu ihr. Das meinten die nie böse, das war für sie ein Kosename, sie respektierten sich. Und deswegen war das hier so. Mit anderen Deutschen nahmen wir ein kleines Haus. Fenster und Türen waren kaputt. Das machte nichts, für die Nacht reichte es.

Dann mal in einfachen Worten gesagt, wir hatten dann eine Wohnung gehabt – das war keine Wohnung, das war ein einziges Zimmer – und da haben wir gehaust. Das Hauptproblem in Königsberg war, Wasser zu kriegen, denn das Wasserwerk war von den Bomben restlos getroffen, die Pumpen funktionierten nicht mehr. Ganze Stadtteile, dadurch, da das Wasser aus der Tiefe nicht mehr abgepumpt wurde, stieg der Grundwasserspiegel, ganze Stadtteile versumpften und waren überflutet, aber das Wasser konnte man nicht trinken. Da hat man dann das Wasser aus den Feuerlöschteichen genommen. Und als Erstes kamen dann natürlich die russischen Versorgungsfahrzeuge, die Lastwagen mit Fässern, haben dann Wasser abgepumpt und dann irgendwann mal kam man dann auch als Deutscher ran und konnte sich dann eine Kanne Wasser holen.

Dann kam die große Zeit des Aufräumens. Die Leichen mussten beseitigt werden und die Tierkadaver. Der Geruch war unbeschreiblich. Es war grauenhaft, wie das da gestunken hat! Wenn man den Wohnraum behalten wollte, dann musste man aus der Familie einen zu den Straßenkolonnen schicken, der arbeitet. Und das war unser Opa. Das heißt, zuerst war es meine Mutter, weil sie jünger war. Aber meine Mutter war sehr zierlich. Opa konnte das nicht mit ansehen und da hat Opa gesagt: „Ursel, so geht das nicht. Du bleibst zu Hause bei den Kindern, ich gehe in die Straßenkolonne“. Dann hatte er nachher eine Straßenkolonne mit Frauen geführt, Männer waren ja knapp, die deutschen Soldaten wurden ja alle in Gefangenenlager gebracht, und was da sonst noch an Männern waren, die waren kaputt.

Jedenfalls ist bei diesem Abreißen der Barrikaden ein Träger außer Kontrolle geraten und Opa auf den Zeh gefallen und hat einen Wundbrand bekommen – an sich stirbt man ja an Wundbrand heutzutage nicht mehr, da gibt es ja Serum dagegen – aber für Deutsche gab es kein Serum. Mein Großvater war ein leidenschaftlicher Raucher. Ich habe immer Zigarettenkippen gesammelt und das hat er in sein Pfeifchen gestopft. Eines Tages sagte mein Großvater zu mir: „Hansi, du brauchst keine Zigarettenstummel mehr sammeln, Opa schmeckt das Pfeifchen nicht mehr und Opa wird von einem inneren Feuer verzehrt, es dauert nur noch wenige Tage, dann sterbe ich“. Und eines Tages kamen wir hin und da war er gestorben.

Wir wohnten aber gegenüber von einem Friedhof. Da haben wir auch noch einen Sarg gefunden und wir haben ein Loch ausgehoben, meine Mutter und meine Oma. Da war eine andere Beerdigung. Ein evangelischer Pfarrer war da, der kam noch, und dann haben wir den Sarg runtergelassen, der hat dann noch einen Segen gesprochen. Dann hat meine Oma ihm schnell ein halbes Brot, das wir irgendwo erbettelt hatten, zugesteckt, dem Pfarrer, denn er hatte ja auch nichts. Dann haben wir das Grab zugemacht. Dann kam ein Gewitter und wir mussten das Grab zumachen und dann sind wir klitschnass zu diesem Zimmer gegangen. Es hat dann nicht lange gedauert – ich hab’ mal unterwegs vor lauter Durst, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, Wasser getrunken. Was meine Oma und auch meine Mutter mir immer wieder einschärften, ja nicht solch’ Wasser zu trinken. Aber ich war mal unbeobachtet und da habe ich es getan. Ich bekam Typhus. Ich steckte meine Mutter an und ich lag dann nachher im Krankenhaus mit meiner Mutter in einem Bett zusammen. Also, meine Mutter war lange Zeit ohne Besinnung. Ich habe dann noch mal eine Tablette bekommen, nur eine Halbe, also ich habe das durchgestanden, diesen Typhus. Man hat dann Mitleid gehabt und hat dann mich noch im Krankenhaus gelassen. Normalerweise hätte man es nicht dürfen, aber man wollte meine Mutter da nicht alleine lassen.

Eines Tages im Bett neben meiner Mutter kam eine junge Frau rein. Eine sehr hübsche Frau mit so langen pechschwarzen Haaren und Locken, sehr kräftig. Und diese Frau hatte auch Typhus. Dann hat man festgestellt, sie war hoffnungslos verlaust. Das wimmelte nur so. „Wir müssen ihnen die Haare abschneiden“ sagte man. Und das wollte meine Mutter nicht, dass ich das miterlebe und da sagte meine Mutter: „Hansi du gehst jetzt nach draußen“. Dann bin ich nach draußen gegangen. Und dann hat man diese Frau kahl geschoren. Das war eine ganz alltägliche Sache gewesen. In der Zeit ging das nicht anders.

Wir haben ein anderes Haus gefunden, wo ebenfalls das Treppenhaus weggesprengt war, das war ein Bombentrichter. An dem Haus waren noch etwas, Fenster und ein paar Türen und das Dach gingen noch einigermaßen. Da haben wir dann den Winter zugebracht. Der Winter war grausam. Unvorstellbar. Meine Schuhe waren restlos kaputt. Mein Bruder bekam solche dicken Handgelenke. Meine Oma hatte solche dicken Beine, ja wie Elefanten. Ihre Nieren arbeiteten nicht mehr und die Blase gab nicht mehr genug Wasser frei. Sie konnte auch nicht mehr mitkommen zum Betteln und so. Mein Bruder auch nicht. Meine Mutter war auch schon so schwach. Und dann sagte Oma: „Mit mir geht das sowieso bald zu Ende“. Ich guckte sie ganz entsetzt an. Da hat meine Großmutter alle ihre Röcke hochgehoben, „guck Hansi, bis hier ist das Wasser und hier sitzt mein Herz, und wenn das Wasser weiter höher steigt und es kommt an das Herz ran, dann bleibt das Herz stehen und dann ist Oma tot“. Dann ist der Schmerz so groß geworden, sie rief dann immer nachts: „Hansi, Hansi, meine Beine, meine Beine“. Dann habe ich ihr die Beine gerieben, dann ging das wieder, aber es war furchtbar. Aber dann rief sie die eine Nacht nicht mehr. Ich schlief dann ein. Ich wurde davon wach, dass mich was an der Nase zwackte. Das war eine Maus. Mäuse hatten wir. Ich weiß nicht, wir sind am Verhungern gewesen und die Mäuse vermehrten sich in unvorstellbarer Menge.

Wie Oma dann tot war, bin ich nach Tannenwalde gegangen. Ich wollte wieder von dem einen Abfallhaufen Kartoffelschalen versuchen zu kriegen von einer russischen Feldküche. Aber ich bin dann noch zurückgekommen am Nachmittag und dann sagte meine Mutter: „Lauf schnell nach, Hansi, guck nach, wo Oma beerdigt wird“. Jeden Tag kam der Straßentrupp durch mit einer großen Karre, da wurden die Toten drauf getan. Außerhalb vom Ort hatte man Panzersperren errichtet, das heißt, man hatte tiefe Gräben ausgehoben. Wälle gebaut, damit die russischen Panzer nicht kamen. Und in diesen Wällen da kamen all die Toten rein, Massengräber. Der Straßentrupp war unmöglich zu mir. Der hat gesagt: „Das ist nichts für dich, mach, dass du wegkommst, da kommst du nicht hin“. Ich konnte auch nicht mehr, ich war an dem Tag kaputt. Ich habe es dann gelassen. Es war ein schwarzer Tag. Ein entsetzlich schwarzer Tag. Na ja, das war am 15. März 1946.

Am 6. Mai 1946 war dann meine Mutter tot. Bevor sie starb, an dem Morgen, sie hatte noch ein ganz klein bisschen Geld, ich weiß nicht, wie viel das war, da sagte sie zu mir: „Du gehst jetzt auf den Schwarzmarkt und kaufst ein Brot. Du nimmst die Milchkanne mit und kaufst einen Liter Milch. Und da kaufst du Kuchen“. Ich sagte: „Kuchen?“ „Ja, du kaufst Kuchen“. Und dann habe ich das alles gemacht. Ich habe Brot mitgebracht, ich habe einen Liter Milch mitgebracht vom Schwarzmarkt, ich habe etwas Kuchen mitgebracht. Und mein Bruder kommt mir an der Tür entgegen und sagt: „Ich hab’ die ganze Stube gewischt, ich hab’ alles sauber gemacht, geh mal leise rein, Mutti schläft. Aber Mutti schläft ganz komisch, die Augen sind offen“. Da bin ich reingelaufen und da lag Mutter mit offenen Augen. Meine Mutter hatte schwarze Haare, aber so gut wie nichts mehr auf dem Kopf, nur noch ganz wenige, sie hatte praktisch eine Glatze. Vom Typhus waren ihr die Haare ausgegangen. Die ganzen Wochen, bevor sie starb, hat meine Mutter mit mir geübt. Ich musste alle Namen auswendig lernen in der Verwandtschaft, wo sie gewohnt haben. Ich musste lernen, welchen Beruf sie hatten. Ich musste erzählen können, wie sie verwandt waren untereinander, wer wessen Oma oder Opa war, oder wie die Kinder hießen. Und sie hat immer wieder und immer wieder das geübt mit mir. Und mein Bruder hörte auch zu. Also, ich ging dann an das Bett von meiner Mutter und sah meine Mutter und dann habe ich fürchterlich geschrien und mein Bruder auch. Ich habe dann nur so gesagt: „Sie ist tot“.

Ich bin dann noch in einen Nebenstadtteil gegangen. Da wohnte die Frau Zeich. Durch Zufall hatte ich das Mal rausgekriegt. Sie war ja früher die Hauswartsfrau mit ihrem Mann in der Dinterstraße. Ich erzählte ihr das und da hat sie gesagt: „ja mein Junge, ich komme mit“. Und dann ist sie mitgekommen und dann haben wir Mutter in die Steppdecke reingerollt und Frau Zeich hat die Steppdecke zugenäht. Frau Zeich hat so geweint. Na ja, dann ist Mutter auch mit diesem Straßenwagen abgeholt worden. Wir kamen dann ins Waisenhaus, mein Bruder und ich.

Mein Vater war dann nachher immer in Ostpreußen aufgrund seiner Verwundung. Er konnte ja nicht mehr an die Front. So ab und zu mal ganz kurz haben wir ihn ja gesehen. Und viele in der Verwandtschaft sind gekommen und haben gesagt: „Geht nach dem Westen, das nimmt hier ein schlimmes Ende“. Und meine Mutter hat gesagt: „Ich warte auf Erwin, ohne Erwin gehe ich nicht weg“. Und dann haben wir eines Tages, es war so schlimm, da haben wir gesagt, so jetzt geht’s nicht mehr, jetzt gehen wir auch auf die Flucht. Dann sind wir also zum Pregel, das ist der Fluss, der an das Haff rangeht, der ist schiffbar. Da haben wir in einer Kohlenschute, Hunderte von Menschen waren dort drin. Die sind im Verband mit mehreren anderen Schuten und dann kam da ein Schlepper vor. Wir sind nach Pilau gefahren. In Pilau waren dann die seegängigen Schiffe. Die fuhren ja den Pregel nicht mehr hoch, weil das zu gefährlich war. Und dann wollten wir von Pilau über das Wasser in den Westen. Wir waren auch etliche Wochen in Pilau. Und das war ein grauenhaft kalter Winter. Die Baracken waren knüppelvoll mit Menschen. Dann war das so unerträglich in Pilau. Dann haben wir gehört von anderen Leuten, in Königsberg ist alles muxmäuschen still, da ist gar nichts. Da haben wir gesagt, wir kriegen sowieso kein Schiff – da war zufällig ein Lastwagen, der zurückfuhr nach Königsberg, ein Militärlastwagen mit einem Holzgasofen, der wurde mit Holzgas betrieben – und die haben uns mitgenommen.

Der Schnee war so entsetzlich hoch, der ist dann auch noch in einen Straßengraben reingerutscht und kam natürlich nicht raus. Dann kam ein deutscher Panzer, mit Ketten haben sie ihn dann rausgezogen. Ich war so durchgefroren in diesem Wagen, ich konnte kaum noch mich bewegen. Aber wir kamen in Königsberg an. Dann sind wir in diese Schneiderwerkstatt gegangen von meiner Oma. Da hat sie dann – Gas gab es nicht mehr – aber wir hatten in der Küche einen alten Herd, da hat Oma Feuer gemacht und hat viele Kessel mit Wasser aufgestellt und viel mit Kochen gemacht. Im Bett bin ich dann langsam wieder aufgetaut. Ich bin furchtbar krank gewesen, damals. Aber in Königsberg war es ruhig.

Mein Vater war bei der kämpfenden Gruppe gewesen. Die lagen vor Moskau. Also, wie weit das jetzt direkt von der Stadt war, ob das jetzt weiter südlich oder nördlich war, das weiß ich nicht. Im Bereich von Moskau waren sie. Dort wurde erbitterter Widerstand geleistet. Die deutschen Truppen konnten sich gar nicht mehr halten. Der Nachschub lief ja auch nicht mehr. Es fehlt an Treibstoff und es fehlte an Munition. Das war ja bekannt. Dann mussten die Deutschen zurück. Auf diesem Rückzug, da ist mein Vater verwundet worden durch einen Kniedurchschuss. Die mussten über die Wolga zurück. Jedenfalls an der Stelle, wo die waren, war das so. Sein Hauptmann konnte nicht schwimmen. Dann sind die über die Wolga zurückgeschwommen und mein Vater hat ihn geschleppt. Mein Vater ist dann mit einem Lazarett-Transport nach Ostpreußen gekommen. In Ostpreußen hatten wir ihn auch im Lazarett besucht, meinen Vater.

Mutter war mit mir zwei Mal dort. Es war mit dem deutlichsten Anschauungsunterricht, den ich in meinem Leben erhalten habe. Da gab es Verwundete, denen ging es schon besser, die spielten Karten. Andere rauchten, einige lasen Zeitung oder in einem Buch. Viele stöhnten vor Schmerzen. Überall waren Verwundete, so viele. Alles war schön weiß bezogen und sehr ordentlich. Die Krankenschwestern waren sehr nett und es gab auch viele von ihnen, alle in weiß und blau und mit dem Roten Kreuz. Papa lag im Bett, lächelte, als er uns sah, und wurde richtig froh. Das eine Bein war dick verbunden. Ich glaube, Mutti war froh, dass Erwin, unser Vater, im Lazarett war. Das Knie von unserem Vater wurde nie in Ordnung. Es heilte ab, er musste wieder an die Front. Das drückten die Erwachsenen anders aus. Ich hörte es ja mehrmals. Sie sagten: „Erwin ist wieder im Graben“. Und es klang immer etwas traurig und bedauerlich. Nach 6 Wochen wurde unser Papa von der Front zurückgeschickt. Er kam in ein Lazarett. Die Wunde war wieder aufgegangen.

Das typische war, der kleine Abschnitt, den sollten Sie auch wissen: In Königsberg wurde es ruhiger. Die Bombenangriffe ließen nach. Inzwischen war auch die Familie von Onkel Waldi ausgebombt – das war der Bruder von unserer Mutter. Er hatte nichts als seine Aktentasche gerettet, mit den Papieren.

Alle hatten überlebt. Sie kamen in die Königstraße in die Schneiderwerkstatt und verabschiedeten sich von uns und gingen in den Westen. Sie hatten buchstäblich nichts mehr. „Wollt ihr nicht auch mitkommen?“ hörte ich seine Frage, die auch nicht zu überhören war. „Wohin denn?“ war die Gegenfrage. Und es war wirklich ein Abschied. Nur mein Bruder und ich wollten die Familie von Waldemar Albrecht wiedersehen.

Also, zu sagen wäre noch, dass es in unserer Familie im unmittelbaren, direkten Verwandtschaftsgrad, neun Tote gegeben hat. In dem erweiterten Verwandtschaftsgrad, wenn man das auch noch mitzählt, dann kämen noch fünf dazu. Es waren in unserer Familie einfache Soldaten, Offiziere, Zivilisten, die zu Tode gekommen sind. Unsere Familie war so richtig „quer Beet“, wie man das im Deutschen sagt. Es gab welche, die total überzeugte Nationalsozialisten waren. Wir hatten zwei hohe Offiziere in unserer Familie, die waren in der Geheimpolizei. Es gab auch solche einfachen Leute, wie mein Vater, der Obergefreiter war zum Schluss. Der oft vorgeschlagen wurde, Unteroffizier zu werden usw., der das aber immer abgelehnt hat. Mein Vater war, wenn ich es mal ehrlich sagen darf, es hört sich vielleicht ein bisschen schlimm an, aber war Pazifist, er war kein Soldat.

Ich weiß nicht, ob Sie das so ertragen können, wenn ich Ihnen das als Deutscher so sage. Ich weiß, dass Amerikaner sehr leidenschaftlich ihre Interessen vertreten. Aber in meiner Familie, wir können es nicht. Ich habe in dieser Richtung auf meine beiden Söhne sehr hohen Einfluss ausgeübt. Beide meine Söhne sind nicht zum Militär gegangen. Ich selbst bin auch nicht zum Militär gegangen. Mein Bruder ist auch nicht zum Militär gegangen. Der musste dann in einer Lungenheilstätte Zivildienst leisten. Wir wollen nicht zum Militär. Ich weiß, dass es vielleicht nicht ganz gerecht ist, aber wir kriegen das nicht hin.

Anlässlich einer Beerdigung, wo die beiden Brüder sich zusammentaten, um ein Gedenkstein oder ein Holzkreuz zu machen, kamen die Brüder zusammen und haben über lange Zeit sehr intensiv diskutiert. Da hat mein Vater gesagt, zu seinem Bruder Oskar: „Ich werde diesen Krieg nicht überleben, Ursel auch nicht“. Und er hatte noch so einige Prophezeiungen gemacht. „Die beiden Jungens werden überleben, der Wilfried und auch der Hans Erwin. Du wirst überleben (also sein Bruder) und deine Frau wird überleben, die Tante Martha“. „Ach das ist doch alles Unsinn, was erzählst du da“, hat Oskar, sein Bruder, gesagt und dann hat er gesagt: „Das habe ich berechnet aus den Sternen, das weiß ich mit absoluter Sicherheit, das wird eintreffen und ich würde dir noch etwas sagen, du wirst alles verlieren. Du wirst nur die Kleidung auf deinem Körper haben und so wirst du in den Westen kommen, aber du wirst überleben, du wirst es wieder zu Ansehen schaffen und du wirst immer Geld in der Tasche haben. Und ich bitte dich darum, meine beiden Jungens zu erziehen“. Und das ist eingetreten.

Was mir mitgeteilt worden ist, man hat da Befragungen gemacht. Da ist er mit seinen Soldaten, mit denen er zusammen war, mit seinen Kameraden, die hatten Deckung gesucht in einem Granattrichter, und da ist ein erneuter Volltreffer reingekommen und da waren alle tot. Das ist uns vom Roten Kreuz berichtet worden.

Weil die Verdienstmöglichkeiten in Hamburg besser waren, bin ich nach meiner Ausbildung nach Hamburg zum Arbeiten gegangen. Dort wohnte ich in Lurup in einem Zimmer. Ich kam abends nach Hause und war gerade dabei mich zu waschen, dann rief meine Wirtin: „Herr Fuchs, da sind zwei junge Männer, die waren heute Morgen schon da, die wollen unbedingt sie sprechen“. „Dann schicken Sie sie mal rauf“ habe ich gesagt. Da kamen zwei Missionare. Dann haben wir uns bekannt gemacht und dann wurde ich ein Untersucher in der Kirche. Ich hab’ die Kirche für drei Monate untersucht. Das Entscheidende, warum ich mich hab taufen, es leuchtete mir ein, wenn es vor alters Propheten gab, dann muss es auch jetzt Propheten geben. Dass die evangelische Kirche nicht richtig war und dass die katholische Kirche nicht richtig war, das war für mich absolut sicher, nach all diesen vielen Erlebnissen, die ich hatte, die ich erlebt hatte, wie Kirchen versagt haben, wie Staatsführung versagt hat, wie das Gericht, alles, alles hat versagt in Deutschland. Die Schulen haben versagt. Da habe ich mir gedacht, ja das mit den Propheten, das leuchtete mir ein. Aber die schönste Kunde für mich war, dass man für die Verstorbenen, von denen man ja nie loskommt, die nie eine Chance gehabt hatten, mein Vater, meine Mutter, sind ja blutjung gestorben, die eine war 34, der andere war 35, das ist doch kein Alter in einem Menschenleben, da habe ich gedacht, das ist richtig. Das war für mich einleuchtend. Das hat alles dazu beigetragen. Das ist die richtige Kirche, das war für mich plausibel.