Hermsdorf, Waldenburg, Schlesien

Mormon Deutsch Christa GenschIch bin Christa Gensch, geborene Busse. Mein Vater ist Paul Busse, und meine Mutter hieß Emma Kleinwächter. Ich bin am 17.März.1939 in Hermsdorf, Kreis Waldenburg, Schlesien, als 6. Kind eines Landschaftsgärtners, geboren. Wir hatten ein Haus in Schlesien mit einem schönen großen Garten.

1945 kam ein Beauftragter von der Regierung zu meiner Mutter und sagte: „Nur eine Vorsichtsmaßnahme – große Familien sollen außer Landes gebracht werden. Es ist nur für kurze Zeit, nur vielleicht für acht Wochen. Sie brauchen nichts Besonderes mitzunehmen. Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme.“ Wir konnten nie wieder in unsere Heimat zurück. Mein Vater war schon zu dieser Zeit im Krieg.

Meine Mutter hat uns sechs Kindern doppelte Kleidung angezogen. Wir wurden in einen Lazarettzug gebracht, der auf freier Strecke immer wieder anhalten musste. Wir fuhren durch die Tschechoslowakei und irgendwann, nach vielen Tagen, sind wir in Bayern angekommen. Dort kamen wir in ein großes Auffanglager. Das waren große Tanzsäle eines Hotels. Da kamen sehr viele Familien hin, und wir verbrachten dort viele Wochen, und lagen dicht an dicht a neben einander.

Dann kamen mit der Zeit die Bauern aus der Umgebung, und wir mussten uns als Familien aufstellen. Die Bauern musterten uns, um zu sehen, wen sie als Arbeitskräfte, auf dem Feld, gebrauchen konnten.

Ich hatte drei Brüder, der älteste war 14 Jahre alt, der nächste war 13 und der jüngste 10 Jahre alt, dazwischen war noch eine Schwester. Der Bauer sah uns als gute Arbeitskräfte an, und nahm uns in einem Pferdewagen mit in eine Einöde, weit weg von der Stadt. Dort bekamen wir einen Raum und schliefen auf Stroh. Wir hatten viel Hunger in der Zeit und kaum Kleidung. Der Krieg war noch im Gange. Die Fenster in diesem Bauernhof waren mit langen Nägeln, die gekrümmt waren, festgehalten. Wenn Flugzeuge über uns flogen, klirrten sie sehr. Wir Kinder hatten ständig Angst. War meine Mutter mal weg, um etwas für uns einzuholen, und es gingen Bomben nieder, und wir sahen Rauchschwaden, hatten wir immer sehr viel Angst, ob unsere Mutter wieder kommt.

Auch wurde von den Flugzeugen oft etwas abgeworfen, was wie Lametta aussah. Die Kinder nahmen es auf und wurden dadurch verletzt oder getötet. Unsere Mutter sagte immer: „Hebt nichts auf, was Ihr seht oder findet. Das ist alles gefährlich in dieser Zeit“.

Wir arbeiteten alle auf dem Bauernhof mit. Auch ich, ich war 6 Jahre alt und musste die Ochsen und Kühe in einer Scheune antreiben, wo gedroschen wurde. Ich bekam immer den Schwanz der Tiere in mein Gesicht und musste barfuß durch diese Kuhfladen laufen. Ich hatte keine Schuhe an.

Meine Brüder, die als Knechte und auf dem Feld arbeiteten, bekamen eine Mahlzeit am Tag. Die bestand aus trockenem Brot und einer Suppe. Das war saure Milch, die etwas angedickt war. Da stand der Topf in der Mitte des Tisches, und jeder bekam einen Löffel, und alle schöpften daraus, und es gab immer eine Spur von diesem Löffel. Meine Brüder hatten so eine Abneigung dieses Essen zu sich zu nehmen, dass sie mit ihrem trockenen Brot zu meiner Mutter kamen, und wir haben das dann zusammen verspeist. Meine Mutter versuchte immer etwas im Haus zu haben, einen kleinen Aufstrich aufs Brot, vielleicht etwas Leberwurst oder etwas. Sie schaute immer sehr auf uns.

Wir waren so knapp mit dem Essen. Wenn wir ein Stück Brot hatten, haben meine größeren Geschwister ein Muster in das Brot geschnitzt, damit keiner dran gehen konnte.

So ging das jahrelang. Von dem Bauern bekamen wir keine Milch, keine Kartoffeln und auch kein Obst. Wir mussten viele Kilometer in die Stadt laufen, um unser karges Essen zu kaufen. Der Bauer war so egoistisch und geizig. Der alte Bauer steckte uns Kinder manchmal einen Apfel zu, den er unter seinem Stroh, er schlief auch auf Stroh, heraus holte, der schön gereift war.

Ich habe später eine Geschichte geschrieben über ein Erlebnis in dieser Zeit. Sie heißt: Die abgetragenen Schuhe.

An einem schwülen Sommertag waren Mutter und ich, auf unserem kilometerlangen Weg, zu unserem spärlichen, wöchentlichen Einkauf. Ich war acht Jahre alt, und unser Einkauf glich oft einem Lottospiel. Wir wussten nämlich nicht, was wir bekommen konnten. Fleisch -und Wurstwaren sahen aßen wir in dieser Nachkriegszeit kaum, und wenn, dann kauften wir sie 100 Gram weise, was reichen musste zum Würzen der Eintöpfe. Das gab dem Essen immerhin etwas Geschmack und ein wenig Fett.

Auf dem Markt suchten wir günstiges Gemüse und Obst und trugen schließlich Kohl und Kartoffeln, und anderes erstandenes, samt unserer gefüllten Milchkanne, den ganzen weiten Weg heim. Ich begleitete Mutter fast immer, weil ich gerne mit ihr zusammen war. Zudem, eines von uns 6 Kindern musste Mutter doch beim Tragen helfen.

Ab und zu fiel dabei auch etwas für mich ab. So bekam ich manchmal eine dünne Scheibe Wurst vom Metzger oder im Lebensmittelladen ein Bonbon. Dadurch fühlte ich mich reich beschenkt. Das Bonbon zerbiss ich nicht. Ich wollte die Süße über längere Zeit schmecken.

Der Heimweg führte entlang einer heißen, staubigen Teerstraße. Nur ab und zu fuhr ein Lastauto oder ein Bauernfahrzeug. So gehörte die Straße fast uns. Im kindlichen Bewegungsdrang pendelte ich oft von einer Straßenseite zur anderen. Plötzlich entdeckte ich am Wegesrand etwas, das natürlich sofort genauer untersucht sein musste. Ein paar getragene Herrenschuhe! „Mutter“ rief ich aufgeregt, „Schuhe! Die würden meinen Brüdern passen, die doch keine haben!“ „Sie gehören uns aber nicht“ fand Mutter, „wir dürfen sie nicht einfach mitnehmen. Die Schuhe wurden sicher nur kurz hier hingestellt oder sind vielleicht verloren gegangen“.

Weil ich jedoch weit und breit niemanden sehen konnte, dem sie vielleicht gehörten, beugte ich mich nochmals hinab, um die Schuhe näher zu betrachten. Wie wollte man wissen, ob sie jemand gehörten? Plötzlich entdeckte ich einen Zettel in einem Schuh. Ich nahm ihn heraus und rannte zu meiner Mutter. Laut erregt las ich vor: „Diese Schuhe gehören einem, der bisher barfuß ging!“ „Das stimmt! Das stimmt für unsere Familie“, jubelte ich. Mutter nickte, still strich sie mir über den Kopf, und ich sah, dass sie innerlich dem Herrn dankte, und ich sah Tränen in ihren Augen. Selig hüpfte ich, mit meinem Kohl im Netz in der Hand und den Schuhen in der anderen Hand, vor meiner Mutter nach Hause.

Dann kam mein Vater 1947 aus Gefangenschaft zurück. Der Amerikaner hatte zu ihm gesagt: „Bleib bei uns. Wir pflegen dich gesund in einem Militärkrankenhaus“. Er war in Russland in Gefangenschaft, war herzkrank und hatte Malariaanfälle. Mein Vater sagte darauf: „Nein, ich muss meine Familie finden. Ich habe sechs Kinder und ich weiß nicht, wo sie sind“.

Er hat sich durch gefragt, wo die Flüchtlinge hingekommen waren. Er war dann in München und hat sich auch dort durch gefragt, immer ein Stück weiter, bis er in der Stadt war, und man ihm sagen konnte, dass seine Familie bei einem Bauern wohnt.

So kam er zu den Bauernhöfen und schaute durch das Fenster und sah meine Brüder am Tisch sitzen. Er sagte sich: „Das sind nicht meine Kinder. Die sind nicht so groß und breitschultrig, wie ich sie in Erinnerung habe“. Er ist dann weiter gelaufen zu einem anderen Bauernhof, wieder zurück, und er kam durch Beschwernisse wieder zu uns zurück und klopfte. Er kam, und wir haben uns erschrocken. Mein Vater war 1,76 m groß und wog nur 50 kg. Er hatte eine Russenmütze auf und zerrissene Kleidung an.

Ich wollte nicht, dass meine Freunde in der Schule meinen Vater so sahen, dass das mein Vater ist, den ich ganz anders in Erinnerung hatte. Dann habe ich das Hochzeitsphoto meiner Eltern aus dem Album genommen, und habe es meinen Schulfreunden gezeigt und gesagt: „Das ist mein Vater! Das ist mein Vater! Er ist zurückgekommen!“ Damit sie ihn schon mal gesehen hatten, wie er ausgesehen hat. Ich weiß nicht, ob ich mich geschämt habe damals als Kind.

Dann schrieb mein Vater uns eine Entschuldigung für den nächsten Tag für die Schule. Das fand ich großartig. Wir mussten viele Kilometer in die Schule laufen. Er schrieb, dass er aus russischer Gefangenschaft zurückgekommen ist. Dieses Erlebnis war großartig für ein Kind.

Dann hat mein Vater sehr viel Hunger gehabt und hat nachts oft Brot gegessen. Wir schliefen ja alle zusammen in dem einen Zimmer. Ich schlief mit meinen Eltern auf dem Strohbett, und ich wachte immer auf. Dadurch, dass die Zähne meines Vaters sehr gelitten hatten, konnte er die Rinde von Brot nicht essen. Die habe ich bekommen, weil ich wach war. Meine Geschwister haben das als Vorteil gesehen, dass ich in der Nacht von meinem Vater Brot bekam.

Dann haben wir miterlebt, als mein Vater Malariaanfälle bekam. Er wurde durch geschüttelt und hatte hohes Fieber. Wir hatten natürlich Angst, weil wir so etwas noch nie gesehen hatten, und überlegten, ob er vielleicht sterben müsste, wo wir ihn gerade erst gefunden hatten.

Er musste jeden Tag 6 km zum Arzt laufen und bekam eine Herzspitze – Strophanthin. Dann musste er wieder zurück laufen, und es war bergig. Das machte er, ich weiß nicht wie lange. Er bekam Wasser, und das wurde durch das Strophanthin heraus geschwemmt. Auch die Malariaanfälle nahmen dann langsam ab.

Wir zogen dann von der Einöde ins Dorf. Mein Vater bekam eine Arbeitsstelle, wo wir wohnten. Die hatten ein Kolonialwarengeschäft. Sie buken Brot und Brötchen. Es gab auch eine Sägerei. Und dadurch, dass er Landschaftsgärtner war, hat er auch noch den großen Garten genommen. Das hieß, wir haben Brot zu essen bekommen, und mein Vater erhielt einen kleinen Lohn. So hatten wir als Familie nicht mehr diesen großen Hunger. Aber Kleidung echt. haben wir nicht gehabt. Das Dorf hieß Mietraching, die nächste größere Stadt hieß Deckendorf. In Klein-Walding wohnten wir.

Meine Tante Clara Seifert wohnte in Berlin. Sie war Mitglied der Kirche Jesu Christi. Sie wusste von unserer Drangsal und unserem Leid. Sie gab unsere Adresse in Amerika an Mitglieder weiter, und die schickten uns Carepakete mit Nahrung. Wir bekamen Eipulver, Trockenspeisen und Kleidung. Meine Schwester, die auch viele Kilometer zur Schule nach Deckendorf laufen musste, bekam plötzlich ein Kostüm, das es erst 20 Jahre später in Bayern gab. Sie ging mit dem Kostüm in die Schule und mit Pomps, die vorne geöffnet waren. Das waren ihre einzigen Schuhe im Winter, und ihre Zehen sind erfroren. Das sind Dinge, die man einfach behalten hat. Ihre Zehen jucken und sind heute noch taub. Aber sie erzählte, wie sie bestaunt wurde von den bayrischen Kindern.

In Bayern gab es keine Arbeitsmöglichkeiten für meine Brüder. Dann hat der westfälische Staat ein Angebot gemacht: Schickt uns eure Söhne für den Bergbau, dann dürft ihr nachziehen. Dann sind meine beiden Brüder, Friedrich und Karl-Heinz, nach Westfalen gezogen. Sie arbeiteten dann unter Tage im Bergbau, damit wir später eine Wohnung in Westfalen bekamen. In Bayern gab es als Arbeitsmöglichkeit nur Schornsteinfeger und Bäcker, und da wurden die eigenen Söhne genommen.

1951 sind wir dann nach Westfalen gezogen. Dann haben wir endlich mal unsere Tante Clara kennen gelernt. Durch meine Tante Clara bin ich zur Kirche gekommen Es gibt ein Lied, das heißt: „O Donna Clara“. Das Lied wurde nach meiner Tante gedichtet. Sie hat in Berlin bei einer Herrschaft gedient. Sie musste servieren. Sie kam in das Zimmer, wo der Komponist saß, und dann sagte er: „O Donna Clara, ich hab dich tanzen gesehn“. Sie war tanzen, aber durfte für ihre Herrschaft eigentlich nicht weg gehen. Nun dachte sie, der Komponist hätte das gesehen. Das war eine heikle Geschichte für sie.

Sie kam nach Westfalen mit ihrem Mann, der aussah, wie der Schauspieler Hans Moser. Sie wurde immer auf der Straße angehalten, weil die Leute ein Autogramm von ihm haben wollten. Wir haben unsere Tante geliebt. Sie hat uns Geschenke mitgebracht. Später hat meine Tante Clara zu mir gesagt: „Christa, ich möchte Dich einmal in Weiß sehen!“ Ich weiß nicht, was sie dabei gedacht hat, ob sie möchte, dass ich heirate. Vom Tempel wusste ich ja nicht, dass man dort ganz in weiß ist, oder von der Taufe.

1969 bekam mein Mann den Auftrag, als Reiseleiter, die Berliner Gemeinde in den Tempel nach Zollikofen zu führen. Meine Tante Clara war auch dabei. Ich arbeitete in Zürich. Ich dachte, Berlin ist so weit, Bern ist nicht so weit für mich von Zürich, ich besuche meine Tante in Bern. Dann habe ich sie besucht. Es war ein Wochenende und die Gemeinde Berlin hat einen Ausflug mit dem Schiff auf dem See gemacht. Ich war dann bei meiner Tante Clara. Da habe ich auch die Brüder von der Gemeinde Berlin gesehen. Ich war aber zu meiner Tante gekommen.

Die alten Leute konnten in ein Restaurant gehen und Kaffee trinken und so. Die jüngeren Leute haben einen Waldspaziergang gemacht. Da war mein Mann dabei, und mit ihm konnte ich mich so gut unterhalten, wie mit sonst niemanden bis dahin. Er war so ernsthaft und klar.

Später habe ich meine Tante angerufen und habe gesagt: „Kann Herr Gensch nicht, wenn er nach Hause fährt, über Zürich kommen? Ich könnte ihm Zürich zeigen.“ Mein Mann hatte aber die Reiseleitung. Die Mitglieder haben aber gesagt: „Karl-Heinz, mach das!“ Ich habe an nichts gedacht, aber so haben wir uns kennen gelernt. Er ist dann von Berlin gekommen und hat mich 1975 getauft. Aber es war noch ein langer Weg bis dahin.

Ich hatte eine große, lange Berufung. Ich war 18 Jahre in der PV. Wozu ich mich berufen sehe in der Kirche, ist, die Kinder zu beobachten. Wenn ich an ihnen Mängel sehe, z.B. motorische Ungeschicklichkeiten oder Sprachschwierigkeiten, dann spreche ich die Eltern an. Ich bin Heilpädagogin. Ich trage es ihnen vor und sage: „Kommen Sie zu mir, ich schaue mir das Kind etwas genauer an.“ Dann sage ich, was man machen kann, oder wir leiten eine Therapie ein. Das mache ich die ganzen Jahre, seit ich in der Kirche bin.