Tilsit, Ostpreußen

Mormon Deutsch Hildegard GerlachMein Name ist Hildegard Gerlach, geborene Stanull. Ich bin in Tilsit/Ostpreußen geboren und in der Kirche als Baby gesegnet worden. Meine Mutter ist Hedwig Stanull, geborene Neumann. Man Vater ist im Krieg vermisst, er ist durch Geschwister Hubert zur Kirche gekommen. Meine Mutter war nicht in der Kirche, hat sich aber meinem Vater zuliebe taufen lassen. Dann hat er sie auch geheiratet. Meine erste Kindheitserinnerung ist, dass ich bei meiner Mutter auf dem Schoß saß und schlief und aus der Ferne das Lied hörte „Wir danken dir Herr für Propheten“. Ich sprang vom Schoß und freute mich, dass es nach Hause ging. (Ich war ca. vier Jahre alt und die Predigtversammlung begann abends um 20.00 Uhr.) Das war die Tilsiter Gemeinde, am östlichsten Rand des damaligen Deutschlands, an der Memel. Die Gemeinde habe ich geliebt, es war meine Kirche.

Meine Mutter erzählte mir damals schon, dass es ihr anfänglich in der Kirche langweilig war; als Kind habe ich immer darüber gelacht, so konnte ich sie mir gar nicht vorstellen. Ich kannte sie nur in der Kirche tüchtig als Ratgeberin in der Sonntagschule, Ratgeberin in der FHV und Lehrerin in der Kinderklasse. Sie hat sich für die Kirche eingesetzt, sie hätte so zu sagen ihr Leben für die Kirche gegeben. Wir gehörten zum Distrikt Königsberg. In Königsberg war ich immer zu Konferenzen. Zu einer Konferenz war ich, die sehr bedeutend war. Heber G. Grant, der Prophet, kam nach Königsberg. Wir trafen uns dafür in einer sehr großen Halle. Ich konnte noch nicht lesen. Ich fragte meine Mutter, warum über der Bühne so ein großes Band gespannt war. Da stand was geschrieben. Meine Mutter las mir vor: „Gelobt sei der, der kommt im Namen des Herrn“. Es hat damals schon großen Eindruck auf mich gemacht, so dass ich das bis heute (ungefähr 70 Jahre später) nicht vergessen habe.

Die Kirche war damals in der Schlageter Straße. Unser Gemeindepräsident war Bruder Otto Schulzke. Die Versammlungen waren: Predigtversammlung, Sonntagschule und FHV. Priestertum gab es meiner Erinnerung nach außer Bruder Schulzke nicht – die Brüder waren alle im Krieg. Aber vor dem Krieg waren viele junge Leute in der Gemeinde. Ich zähle sie alle auf, so wie ich das als Kind wusste. Die jungen Brüder waren: Günther Schulzke, Heinz Schulzke, Arthur Naujoks, Kurt Braatz, Siegfried Meischuß, Bruno Stroganoff. Kurt Braatz ist im Krieg gefallen, er wurde nach Tilsit überführt. An seinem Grab gab es zur Beerdigung Salutschüsse. Ich hatte damals Angst davor, deshalb weiß ich das noch so genau. Die Schwester von Siegfried Meischuß war meine Sonntagschullehrerin. Der Großvater von Siegfried Meischuß und Helga Meischuß war nicht in der Kirche.

Zu Bruder Bruno Stroganoff möchte ich noch etwas aus seinem Leben erzählen, es erscheint mir jetzt wichtig. Er hat mit 15 Jahren eine Lehre als Drogist begonnen. Während der „Hitler-Zeit“ musste er zur SS, weil er Stroganoff hieß. Eines Nachts kam seine Mutter zu uns und weinte, und erzählte uns, dass Bruno von der SS weggelaufen sei und zu Hause angekommen sei. Als sie von uns wieder nach Hause ging, fand sie ihren Bruno nicht mehr zu Hause. Die SS hatte ihn schon abgeholt. Bruder Bruno Stroganoff kam nach Dachau uns KZ. Nach vielen, vielen Jahren, ungefähr 1988 hörte mein Sohn Manfred bei einem Tempelbesuch, den Namen Stroganoff. Manfred hat das dann vermittelt, dass Bruno und ich uns hier bei uns wieder gesehen haben. Wir haben nun gedacht, er wird viel erzählen, aber hat über das KZ nicht gesprochen. Er hat nur erzählt, als der Krieg zu Ende war, war er sehr krank und wurde sofort in ein amerikanisches Krankenhaus in Heidelberg gebracht und operiert.

Als wir noch in Tilsit waren, waren auch amerikanische Missionare in Tilsit. Sie wohnten bei Geschwistern. Schwester Sokuschieß erzählte uns: Ein Missionar hatte sich etwas über Mittag hingelegt und erzählte danach, er habe einen fürchterlichen Traum gehabt. Die Schwester fragte ihn, ob er krank sei. Dann erzählte er, dass er in dem Traum Zerstörungen in Tilsit gesehen habe wie in Sodom und Gomorrah. Dieser Traum wurde Wirklichkeit; meine Mutter und ich haben dies erlebt.

Unsere Nachbarn und die Geschwister meiner Mutter (sie lebten auch in Tilsit und waren keine Mitglieder) haben uns sehr verlacht, dass wir zur Kirche gingen. Als dann später die Bombenangriffe kamen, hat keiner mehr gelacht. Wir wohnten oben im Haus und als wir zu Beginn der Bombenangriffe mit unseren Sachen, Koffer usw. runtergingen um einen Luftschutzkeller aufzusuchen, warteten die Nachbarn an ihren Türen auf uns und gingen nur dorthin, wo auch wir hingingen. Sie hatten wohl das Gefühl gehabt, dass wir beschützt sind. Und wir waren es auch. Im Hause hatten wir keinen Luftschutzkeller, wir mussten uns einen Keller suchen. Alle haben nur das getan, was meine Mutter sagte. Sie haben sich regelrecht an uns gehängt.

Noch vor der Zeit der Bombenangriffe wollte mein Vater ein Haus in Tilsit kaufen. Es stand in der Zeitung, dass nicht weit von uns ein Haus zum Verkauf angeboten wurde. Es war ein gehobenes Viertel, wo ein Haus, wie eine Villa frei wurde. Meine Mutter hat sich um dieses Haus beworben. Wir sind beide hingegangen und sind niedergeschlagen zurückgekommen. Ein Interessent vor uns hat das Haus bekommen. In der nächsten Fast- und Zeugnisversammlung hat dann meine Mutter gesagte, „ich tue ja alles. Ich zahle den Zehnten, ich bin in jeder Versammlung, ich mach alles, was der Herr von uns verlangt, warum habe ich dieses Haus nicht bekommen“? Und dann, kurze Zeit später beim ersten großen Bombenangriff am 20. April 1942 (Hitlers Geburtstag) war die Straße, in der die Villa stand, die erste Straße, die fast dem Erdboden gleichgemacht wurde. Und die Menschen, die dort wohnten, waren alle verschüttet. Sie haben tagelang und die Nächte geklopft, Helfer haben versucht, mit den Händen die Steine wegzuräumen, aber die Steine fielen immer wieder nach. Alle Bewohner sind dort umgekommen, erstickt.

Meine Mutter hat das immer wieder erzählt, sie war glücklich, dass wir das Haus nicht bekommen hatten. Ich habe dann oft gehört, wie sie so sang, „Und löst sich hier das Rätsel nicht, der Tränen, all‘ die du geweint. Einst wirst du sehn, wie Er’s gemeint“(altes Gesangbuch Nummer, 143). Darüber hat sie oft gesprochen. Meine Mutter war auch oft lustig. Sie erzählte. „Als ich noch recht neu in der Kirche war, sah ich eines Tages eine geheimnisvolle Schrift am Himmel. Ich dachte, die Endzeit ist angebrochen und da steht bestimmt die Nachricht vom Herrn „Ich komme bald“. Vorsichtig mit gesenktem Haupt und Gänsehaut auf dem Rücken blickte ich zaghaft zum Himmel und las „P-P-Persil bleibt Persil“. Die Enttäuschung war groß. Ein Flugzeug mit einem Reklamebanner flog dort.“ Aufgewachsen auf dem Lande in Masuren/Ostpreußen, hatte sie so etwas noch nie gesehen.

Tilsit war mein Tilsit. Die Gemeinde habe ich sehr geliebt. Zur Sonntagschule hatte ich fast immer 8 bis 10 Kinder aus der Nachbarschaft im Schlepptau. Meine Mutter erzählte später, dass die Kinder teilweise fürchterlich ausgesehen haben, eins hatte einen Wasserkopf, andere waren zerlumpt und andere etwas dumm. Ich habe das nicht bemerkt, obwohl ich sehr ordentlich war. In der Gemeinde waren viele ältere Schwestern, die Schneiderinnen waren und auch für mich genäht haben, als würden sie dadurch einen Preis gewinnen. Ein Kleid hatte ich aus Amerika, darauf war ich sehr stolz. In diesem Kleid habe ich dann so mit sechs Jahren in der Kirche zum Muttertag Blumen ausgeteilt. Meine Mutter hatte mich geschmückt und die Zöpfe, die ich normalerweise trug waren geöffnet. Noch heute weiß ich, dass ich mich wie eine Prinzessin fühlte. Ich hatte auch ein kurzes Gedicht gelernt, vielleicht gefiel es den Müttern. „Der Mutter, nur der Mutter, die rote Tulpe gilt, der Mutter, nur der Mutter, der Tag so hold und mild. Herr segne unsre Mütter, flehen wir aus Herzensgrund. Lass Gruß´ und frohe Lieder aus allen unserem Mund zum Muttertag“. Ich denke immer noch an die Liebe unter den Geschwistern in unserer Gemeinde. Sie waren wie meine Verwandtschaft.

Mit fünf Jahren oder etwas jünger habe ich in der Gemeinde Zweieinhalb-Minuten-Ansprachen gehalten. Eine hatte den Titel – und daran kann ich mich noch genau erinnern – „Jesus stillt den Sturm“. Sie sehr gut gewesen sein, denn die Geschwister haben sogar geklatscht. Das habe ich nie wieder erlebt, dass in einer Versammlung in der Kirche geklatscht wurde.

Meine beste Freundin war Eva Schulzke. Es gab noch Ella Naujoks; alle ein bisschen älter als ich. Eva hatte immer so gerne Bonbons gekocht; sie hatte schon ganz schlechte Zähne. Bei Schulzkes auf dem Hof hatten wir im Winter einen Iglu gebaut. Es war herrlich, so bei -25°C im Iglu. Unser Gemeindepräsident Bruder Schulzke hatte vier Kinder: Günther, Heinz, Ruth und Eva. Bruder Schulzke war der Vater der Gemeinde. Er war Gefangenenaufseher in einem Gefängnis in Tilsit. Den Gefangenen hat er das Evangelium verkündet und auch das Buch Mormon verteilt. Man konnte mit allen Sorgen und Nöten zu ihm gehen. Von seiner Tochter Ruth möchte ich noch einiges berichten: Sie war Lehrerin in Tilsit an einer Schule. Eines Tages wurde sie zu einer großen Parteiversammlung der Hitler-Partei gerufen. Sie wurde gefragt, was sie am Sonntag mache. Sie musste vorgehen zum Präsidium. Es waren sehr viele Parteigenossen anwesend. Sie erwähnte, dass sie am Sonntag in der Kirche war. Dann hat man ihr gesagt, dass sie keinen Platz mehr in der Schule hätte, und sie hat ihren Beruf verloren.

Bruder Schulzke ist jeden Morgen ganz früh schon durch die Stadt gelaufen, wenn Bombenangriffe vorüber waren. Er hat geschaut, ob alle Geschwister noch leben. Einige Mitglieder-Familien wohnten eng zusammen. Geschwister Schulzke wohnten bei uns an der Ecke, gegenüber Geschwister Mamat mit Tochter und Enkelin Angelika. Angelika und die Tochter hieß später Biel. Irgendwie hatten sie nach Amerika Beziehungen. Wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, war eine Tochter in Amerika verheiratet. Von meiner Mutter habe ich ja viel von der Gemeinde gehört. So auch, dass wir 80 Geschwister in der Kirche waren, davon waren 60 immer anwesend (vielleicht hat sie damit auch etwas übertrieben?) Innerhalb der Verwandtschaft meiner Mutter waren wir nur „Aussätzige“. Wir hörten nur immer „na, gibt’s ein Schnäpschen bei euch, dann kommen wir auch mit in die Kirche“. Meine Mutter hatte noch 13 Geschwister. Davon sind einige schon als Kleinkinder gestorben. Keiner war in der Kirche. Von der Verwandtschaft meines Vaters war auch niemand in der Kirche.

Unsere Gemeinde in der Schlageter Straße war für mich, wie in einem gräflichen Domizil. Erst 1988 hörte ich von Bruno Stroganoff, dass es ein „Lokal“ gewesen sei, worüber ich enttäuscht bin. Mein Kindheitseindruck war anders. Die Räumlichkeiten waren sehr gut für uns. Vorne, wenn man zur Tür hereinkam, war ein großer Raum mit Schiebetüren. Hier war immer die Sonntagschule. Dann kam dazwischen noch ein Raum, der war ohne Fenster, aber gut beleuchtet. An der einen Seite war ein Garderobenständer. Dann folgte noch eine Schiebetür zu einem großen Raum nach hinten. Hier war immer abends die Predigtversammlung. Wir hatten gut Platz. In der Kirche selbst wurden wir von der Partei und den Nazis in Ruhe gelassen und nicht belästigt.

Bevor wir Tilsit und die Kirche in Tilsit nun verlassen, möchte ich noch von einer Begebenheit erzählen: Ich erwähnte bereits, dass der junge Bruder Kurt Braatz im Krieg gefallen ist. Siegfried Meischuß und Helga Meischuß, meine Sonntagschullehrerin, waren irgendwie mit Braatz verwandt. Der Großvater von Kurt Braatz gehörte nicht der Kirche an. Missionare sind dort bei der Familie Wachsmuth sehr oft gewesen. Der Großvater war blind. Ich habe meine Mutter damals gefragt, warum der Mann nicht sehen kann. Meine Mutter erzählte mir, dass er, als er noch sehen konnte, gesagt habe, den Missionaren müsse man die Augen ausstechen. Er konnte die Missionare und ihre Botschaft nicht leiden. Dann sei er in der Folge von einer Sekunde auf die andere blind geworden sei, ohne vorheriges Augenleiden. Diese Geschichte erzählte ich auch meinem Mann. Ich selbst zweifelte schon, ob vielleicht meine Mutter da etwas durcheinander gebracht hatte. Ungefähr vor 3 Jahren waren wir bei Geschwister Schönrock aus der Gemeinde Hamburg-Wilhelmsburg eingeladen. Und ich erzählte, dass Herr Wachsmuth den Missionaren gegenüber sehr gehässig war und sie nicht leiden konnte, obwohl die ganze Familie in der Kirche war; und nachdem er in seinem Hass meinte, den Missionaren müsste man die Augen ausstechen, sei er kurze Zeit später selbst plötzlich erblindet. Zu meiner Verwunderung bestätigte Bruder Schönrock diese Geschichte, obwohl er nie in Tilsit war. Bruder, Schönrock erzählte dann, dass eine Tochter der Familie Wachsmuth in Hamburg ei den Eltern von Geschwister Schönrock wohnte , und eines Tages nach Tilsit reisen musste, weil ihr Vater plötzlich erblindet sei. So bekam ich eine Bestätigung der Geschichte meiner Mutter. (Vor einigen Monaten, sagte Bruder Schönrock, dass Herr Wachsmuth sagte: „Auf mir lastet ein Fluch“, er soll später getauft worden sein.)

Im Juli 1944 verließen wir endlich Tilsit. Frauen und Kinder mussten sofort Tilsit verlassen. Als wir Tilsit verlassen mussten war ich zehn Jahre alt. Ich war aber noch nicht getauft. Wir hätten auch schon ein Jahr vorher Tilsit verlassen können. Bruder Schulzke war in Zwickau und hatte für uns schon eine Wohnung besorgt. Aber meine Mutter hing so sehr an Tilsit, damals wollte sie noch nicht weg. Damals hieß es: „Haltet euch ans Priestertum“. Hätten wir das getan, wäre uns viel Leid erspart geblieben.

Einiges habe ich noch vergessen. Über die Jugend der Kirche habe ich vieles gehört. Bruder Günther Schulzke war bei uns zu Hause und hatte etwa repariert. Er war im heiratsfähigen Alter. Meine Mutter fragte ihn, warum er nicht heirate. Er sagte, hier in der Gemeinde sei niemand, die er heiraten könne. Auf den Vorschlag meiner Mutter, jemanden außerhalb der Kirche zu heiraten und dann in die Kirche zu bringen, entgegnete er: „Ja, und wenn das nicht klappt, soll ich wegen des bisschen Glück meine Seligkeit verspielen? Das mache ich nicht.“ Bruder Arthur Naujoks ist in Amerika ein großer Maler geworden. Ich habe in Zeitungen Bilder von ihm gesehen. Viel hat er gemalt über Tilsit. Bruder Bruno Stroganoff hat ihn in Amerika besucht. Er hatte ein sehr großes Haus; war aber zu den Zeitpunkt allein, weil seine Frau gestorben war. Aber er war in Amerika zu Ruhm und Ehre gekommen.

Ich weiß noch, als wäre es vor kurzer Zeit. Wenn die Kirche abends im Sommer aus war, sind wir durch die Teichanlagen nach Hause gegangen. Bei einer Unterhaltung hörte ich wie meine Mutter zu Schwester Schulzke sagte: „Ach Schwester Schulzke, wie sollen eigentlich die Eisberge schmelzen (zur Sammlung der verlorenen Stämme)“? Schwester Schulzke: „Ich schätze mit Atom“. Meine Mutter wusste bestimmt nicht, was Atom ist. Ich glaube wir wussten es alle nicht. Das war aber ein Thema, endlos für die Beiden. Und jetzt haben wir die Zeit, wo die Eisberge schmelzen, auch ohne Atomenergie.

Wenn ich gespielt habe, habe ich immer zugehört, was die Erwachsenen sich unterhalten haben. Es war ja gut so, sonst wüsste ich heute nichts über Tilsit und die Kirche. Im Versammlungsraum der Kirche hing ein großes Bild vom Propheten Joseph Smith, dort wo die Predigtversammlung abgehalten wurde. Es war sehr schön, in Farbe. Der Prophet saß auf einem Stuhl und hielt das Buch Mormon in der Hand. Es hing vorne und man schaute ihn immer an, während der Versammlung. Nun etwas Lustiges von mir: Wir hatten einen Geldbriefträger, der oft zu uns kam und Geld brachte. Sein Name war Schmid. Ich hatte immer kindlich gedacht, es sei der Prophet. Da war ich noch nicht älter als vier Jahre. Meine Mutter fragte mich immer, warum ich den Geldbriefträger so anstrahle. Ich habe es ihr nicht erzählt, was ich dachte, es war mein Geheimnis.

Tilsit war eine sehr schöne Stadt mit viel Wasser. Am Himmel, am Horizont, sah man oft einen Silberstreifen, es war die Ostsee. Ich habe sehr geweint, als wir von Tilsit weg mussten. Überall sah man, was die Bombenangriffe angerichtet hatten. Trümmer über Trümmer. Und an den Häusern, deren Fassaden nur noch standen, sah man die Transparente: „Unsere Mauern brechen, aber unsere Herzen nicht“! Die Herzen der Tilsiter waren aber alle gebrochen. Wir saßen in unserer Wohnung nur noch zwischen Ruß, Glasscherben, aufgeschlitzten Federbetten und Brandgeruch. Uns gegenüber brannte ein ganzer Straßenzug 14 Tage lang. Die Menschen sind fast alle verbrannt. Meine Mutter bracht mich viel zu Verwandten, die außerhalb von Tilsit wohnten. Ich sollte mal schlafen können.

Jetzt werde ich über den Ort schreiben, zu dem wir evakuiert wurden. Die Stadt hieß Zinten, bei Königsberg. Dort gab es viel größeres Leid, was uns erwartete. Unsere Kirche gab es dort nicht. Es war eine kleine Stadt. In Königsberg war die nächste Gemeinde. Es war aber zu weit, um dort hinzufahren. Wir erfuhren, dass mein Vater in Königsberg in einer Kaserne war. Wir besuchten ihn dort. Wir hatten ihn einige Jahre nicht mehr gesehen. Er hatte seit Langem keine große Lust mehr, in die Kirche zu gehen. Aber dort bei unserem Besuch, fragte er, ob wir in die Kirche gehen. Meine Mutter war sehr erstaunt darüber und sagte mir später, dass er sich sehr verändert habe. Er war in Russland lange im Kessel gewesen und hat viel Leid, Hunger, große Kälte, durchmachen müssen.

Die Kirche in Königsberg war in einem Mietshaus untergebracht, auf einem Hof. Wie wir dort ankamen, sahen wir dieses Mietshaus von Trümmern umgeben. Um dort hinzukommen, mussten wir über diese Trümmer klettern, Steine, verbrannte Häuserblocken und Berge von Geröll. Wir sind aber angekommen, sehr schmutzig, die Hände schwarz und es war uns peinlich in den Versammlungsraum so zu gehen. Als wir dort hineingingen, sahen wir, dass die übrigen Mitglieder nicht besser aussahen. Nach der Versammlung haben wir uns dann getrennt. Wie oft sehe ich jetzt den Platz in Büchern oder Zeitungen, wo wir meinen Vater das letzte Mal gesehen haben und er uns sagte: „Der Herr möge Euch beschützen, bis auf ein Wiedersehen“! Das Wiedersehen gab es nicht mehr. Mein Vater ist in die Kaserne gefahren und wir beide sind zurück nach Zinten, unsere zweite Heimat.

Noch in Zinten hörten wir Kanonendonner und sahen abends den roten Horizont, wie Königsberg brannte. Stadtrat und Bürgermeister ließen bekannt geben, dass die ganze Stadt Zinten nicht flüchten sollte, sondern dass alle Bürger bleiben sollten, wenn der Russe kommt. Man sagte, so schlimm werde es nicht werden, die Russen seien doch auch nur Menschen. Aber wie man später hörte, wurden sehr viele Frauen und Kinder ermordet. Zuvor haben wir Zinten verlassen. Bei einem Bombenangriff fielen die Bomben auch in unseren Garten, die ganze Stadt war ein Flammenmeer. Ich schlief, wir wohnten oben im Haus. Meine Mutter versuchte mich zu wecken. Dann fragte sie mich, ob ich nicht zur Toilette müsse. Auf dem Arm trug sie mich nach unten Ich im Nachthemd. Als wir unten angekommen waren, schlug eine Bombe in unser Haus ein. Die Hälfte des Hauses war sofort zusammengebrochen, mit meinem Bett und Nachttisch. Dann klappte das übrige Haus zusammen und begrub uns. Soldaten haben uns gleich herausgeholt. Ich stand bei 25° Kälte im Nachthemd und barfuß auf der Straße. Hinter unserem Haus ging es bergab und am Ende war ein Hohlweg. Wir sind dann in diesen Hohlweg, weil wir von Tieffliegern mit Bordwaffen beschossen wurden. Der Hohlweg war voller Schnee und auf dem Schnee floss Blut und aufgeschlitzte Kinder lagen dort. Meine Mutter sagte immer zu mir, schau in eine andere Richtung, guck nicht dorthin. Aber ich habe die Kinder gesehen, man konnte die Därme kochen sehen, alles dampfte.

Eines ist mir aber im Gedächtnis geblieben, als wäre es vor kurzem gewesen, es war ein wunderschöner, klarer Tag, der Schnee blitzte wie Brillanten und flimmerte wie Silber. Die Sonne schien auf die toten Kinder. Ich habe gedacht, der herrliche Schnee, die gleißende Sonne, sie strahlte herrlich, alles passte nicht zusammen. Alles empfand ich mit meinen zehn Jahren als irgendwie ungerecht. Wir liefen weiter und kamen an ein großes Tal. Es wurde schon dunkel. Die ganze Stadt war dort versammelt. Soldaten, die wir kannten, sie waren in unserem Haus einquartiert, sind nochmals in das kaputte Haus gegangen und haben uns Kleidung und Schuhe gebracht. In dieser Nacht, die anbrach, waren Christbäume am Himmel. Ich durfte mich nicht bewegen, ich lag auf einer Decke und hatte sogar Angst Luft zu holen. Meine Mutter sagte zu mir immer, bewege dich nicht, bewege dich nicht, wenn wir uns bewegen, sehen uns die Piloten aus dem Flugzeug und werfen Bomben auf uns. Dann hörten wir, es klang wie ein großer, ja riesengroßer Chor, wie fast die ganze Stadt sang: „Wer unter dem Schirm des Allmächtigen sitzet und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibet, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe“.

Am nächsten Tag sind wir weiter gezogen. Unterwegs hatte ich einen Schuh verloren, als wir in eine kleine Stadt kamen. Auf dem Marktplatz war ein Schuhgeschäft. Ein großes Schild auf dem Schaufenster warnte „Wer plündert, wird erschossen“. Und meine Mutter ging einfach in das Geschäft und hat mir Schuhe gebracht. Wir sind dann weiter in der Nacht, ob es etliche Tage und Nächte waren, weiß ich nicht mehr. Am Abend sind wir dann an das Wasser gekommen, das Haff. Es war dichter Nebel und sehr, sehr kalt. Es kamen auch viele Pferdewagen, das waren Bauern, die hatten viel Hab und Gut geladen. Aber jeder Bauer musste jemanden auf dem Wagen mitnehmen, so wie es die Pferde noch ziehen konnten. Ich kam auf einen Wagen und meine Mutter auf den nachfolgenden Wagen. Wir wussten auch, dass das Eis schon sehr mürbe war, denn es ging schon ein halbes Jahr, dass Pferdewagen in drei Spuren über das Eis gefahren sind. Und außerdem kamen noch Tiefflieger und haben Bomben auf das Eis geworfen. Es müssen Millionen Menschen unterwegs gewesen sein, denn nach Berichten sind zwei Millionen allein umgekommen. Aber es war der einzige Weg in den Westen, damit man nicht in russische Gefangenschaft kam; davor hatten wir alle Angst.

Wir sind dann mit den Wagen übers Eis gerollt. Aus dem Nebel heraus hörten wir viele Hilfeschreie von Einbrechenden und Ertrinkenden. Dann brach mein Wagen ein. Ich rief meine Mutter, die kam und rettete mich auf ihren Wagen. Ich saß auf dem Wagen, wo vorher schon meine Mutter mitgefahren ist, bis auch er einbrach. Zu meiner Mutter sagte ich: „Ruf doch um Hilfe“, aber meine Mutter antwortete, „Wer soll uns von einem sinkendem Wagen runterholen“? Also rief ich dann um Hilfe. Dann kam ein Mann. Er nahm mich vom Wagen auf seinen Arm. Trug mich durch das Wasser und sagte zu meiner Mutter, sie müsse selbst durchs Wasser laufen. So sind wir gerettet worden. Wir sind auf die Landzunge, die Nehrung heißt, gelaufen. Sie trennt die Ostsee vom Haff. Am Rande der Nehrung habe ich mich etwas hingelegt, der Körper war an Land und die Beine und Füße waren auf dem Eis. Meine Mutter ist die ganze Nacht hin- und hergelaufen und sagte nur immer „Schlaf nicht ein. Schlaf nicht ein, sonst erfrierst du. „Bis zur nächsten Nacht sind wir auf der Nehrung gelaufen, dort war Wald. Soldaten waren auch auf dem Rückmarsch. Sie haben uns ein großes Loch gegraben, sowie zwei Gräber und dort drin haben wir geschlafen. Vorher haben sie Feuer gemacht, damit wir uns etwas wärmen konnten und die nasse Kleidung trocknen. Das Feuer war nicht von langer Dauer, die Flieger waren wieder zur Stelle und haben uns beschossen.

Wir haben dann in diesem großen Loch geschlafen. Morgens als wir erwacht sind, waren wir eingeschneit. Nach der Befreiung von dem Schnee, sah ich über mir Füße hängen. Als ich näher hinschaute, sah ich, dass ein Soldat erhängt am Baum hing. Auf seiner Brust war ein Schild: „Ich war zu feige zu kämpfen“. Dann ging es weiter, an der Ostsee entlang. Meine Mutter trug mich auf dem Rücken, sackte aber mit jedem Schritt tief im Sand ein. An der Ostsee ging das so nicht weiter. Es war zu schwierig. Wir sind vielleicht an einem Tag ein Kilometer vorangekommen. Wir mussten wieder aufs Eis. Ich hatte große Angst, aber es half nichts. Auf dem Eis kam ein Pferdewagen, so ein Leiterwagen mit einem Soldaten. Auf dem Wagen war viel Stroh. So richtig für uns geschaffen. Der nahm uns mit. Er durfte aber keine Zivilisten mitnehmen. Zu uns sagte er: „Ich habe auch Frau und Kind zu Hause, und ich hoffe, dass der Herr auch meine Familie beschützt“. Wir saßen tagelang auf dem Wagen und schliefen, es war ja warm im Stroh. Zu essen gab es ja nichts. Der Soldat hat sich und uns von Schokolade ernährt.

Nach 14 Tagen erreichten wir dann Danzig. Von dort aus ging es nach Pommern in den Kreis Stolp. Dort ging es uns gut. Meine Mutter was Wirtschafterin bei einem polnischen Landrat. Er war ein sehr gerechter Mann. Er kam aus Warschau aus einem Konzentrationslager. Er war aber zu allen Menschen gut, auch zu uns Deutschen. (Später sagten die Polen, er sei Vater der Deutschen.) Unter dem polnischen Volk war er dann nicht mehr beliebt.

Nach 2½ Jahren sind wir dann nach Deutschland gekommen. Meine Mutter wollte dorthin, wo die Kirche war. Wir kamen dann nach Torgau/Elbe. (Dort haben sich 1945 der Amerikaner und der Russe getroffen.) In Torgau was auch große Hungersnot. Aber wir Mitglieder der Kirche bekamen ja, aus Amerika, Weizenbrot, Büchsenmilch und Pfirsichbüchsen. Auch wunderbare Kleider gab es. Wir wurden überall beneidet. Viele Menschen haben sich dann auch taufen lassen, wegen der Lebensmittel und Kleider. Das waren dann die „Büchsenmitglieder“.

1948 war eine große Konferenz in Berlin „Freud Echo“. Alma Sonne war gekommen. Es war großartig. Wir waren erst vier Wochen vorher aus Polen gekommen. In meinem Kopf war immer: „Ich bin in Deutschland, ich darf Deutsch sprechen, und ich verstehe alles, was gesprochen wird“. Auch war ich ein paar Jahre später im Zeltlager der Kirche. Bruder Walter Stover hatte das Zeltlager finanziert. Es hat eine Million Dollar gekostet. Als der damalige Präsident der Kirche, David O. McKay, in Berlin-Dahlem war, war ich auch dabei. Es war ein großer Andrang am Kirchengebäude. Jeder wollte ihm die Hand geben. Es war so voll und wir standen so eng bei einander, dass von meinem Kostüm alle Knöpfe abgerissen waren.

1953 habe ich dann in Torgau geheiratet. Mein Mann war Politoffizier. Er war nicht in der Kirche und er hat geraucht und getrunken. Ich habe viel Kummer gehabt. Mit zwei Kindern sind wir 1957 in den Westen geflohen. Wir kamen nach Bremen ins Flüchtlingslager, wo 27 Personen in einem Zimmer wohnen mussten. Aber in Bremen war auch die Kirche. Mein Mann wurde am 31, Dezember 1957, Sylvester, dank der Arbeit unserer Missionare getauft. Man muss wohl Not und Elend kennen lernen, um den Weg zur Kirche zu finden.

Mit meinem Bericht möchte ich jetzt schließen. Wir waren vom Herrn immer behütet und beschützt. Sei es in Zinten auf dem Haff, in Pommern oder in Torgau. Auch in Tilsit, währen der Bombenangriffe sind wir verschont worden. Ich habe Leute getroffen, die auch übers Haff geflüchtet sind. Sie hatten Füße oder Hände abgefroren, sie waren halbe Behinderte ihr Leben lang.

Meine Mutter habe ich während des Krieges gefragt: „Mami, was ist der Frieden, was ist das“? Sie antwortete mir: „Frieden ist, wenn Kühe auf der Wiese stehen und keine Bomben mehr fallen, alle Menschen zu essen haben und niemand mehr Angst zu haben braucht. Und auch die Schule ist wieder geöffnet“. Mein Zeugnis vom Evangelium ist in meinem Herzen tief eingebrannt. Es ist nicht mehr zu entfernen. Das Samenkorn ist schon in Tilsit gesät worden. Durch Krieg und Elend nicht verloren gegangen, sondern zu einem Felsen angewachsen. Alles hat dazu beigetragen, dass ich weiß, dass die Kirche, die Kirche des Herrn ist. Und dass der Herr uns behütet und beschützt.