Memel, Ostpreußen
Mein Name ist Christel Gerulat. Ich bin 1929 in Memel geboren. Meine Eltern sind: Martin Jakuszeit, geboren 24. November 1883 und Johanne Marie Alxneit, geboren 30. Oktober 1888. Verheiratet bin ich mit Alfred Gerulat, geboren 2. Oktober 1931, (verstorben in Hamburg) im Okt. 2005. Unsere Kinder sind: Roswita, 17. April. 1953 in Memel; Sigrid, 12. Januar 1958 in Memel; Peter, 10. Jan. 1963 in Hamburg
Es ist ein heißer Sommertag Ende Juli 1944. Im Radio wird verkündet, dass der Krieg und die damit verbundenen Schlachten sich dem nördlichen Ostpreußen nähern. Die Stadt Memel soll evakuiert werden. Man soll sich an die zuständigen Ämter wenden, um Vorbereitungen zu treffen. Da ich mit meiner Mutter allein lebe – mein Vater ist schon 1935 verstorben und meine beiden älteren Brüder im Krieg eingezogen, einer nach Russland der andere nach Frankreich – und da ich als 15 Jährige schon lange alle Behördengänge erledige, gehe ich zum Amt um den Schein zur Evakuierung zu holen. Zuhause angekommen begann dann das Packen und zwar nur das Nötigste.
Am anderen Abend, es war der 1. August 1944, ging unser Schiff vom Memeler Hafen ab, nach Pilau [Baltisk], wo wir früh am nächsten Morgen einliefen. Das Schiff war voll von uns ersten Flüchtlingen und Matrosen die in Pilau auf Kriegsschiffe umstiegen, um zum Einsatz an die Front zu fahren. In Pilau wurden wir alle in Züge verfrachtet und dann ging es weiter nach Hohenstein, wo auch das Tannenberg-Nationaldenkmal steht, das wir auch besichtigt haben. Mit der ewigen Flamme am Denkmal und mit der ewigen Wache.
Wir kamen mit vielen anderen, aber uns fremden Menschen in eine Schule, wo wir auf Strohsäcken schliefen. Es war dies sehr traurig und belastend und auf die Dauer unzumutbar. Daher bemühte ich mich um eine andere Lösung. Im Sommer zuvor war ich von der Kinderlandverschickung für vier Wochen in die Stadt Osterode verschickt worden, weil in Memel oft Fliegeralarm war. Russische Flugzeuge überflogen Memel, aber bombardiert haben sie nur ein einziges Mal, 1941 gleich am Anfang des Krieges mit Russland. Danach fanden wir Flugblätter, darin stand: „Memel werden wir verschonen, denn wir werden später darin wohnen.“ Und später traf das leider zu.
Die Familie, zu der ich damals kam, hieß Biegemann. Das war Osterode in Ostpreußen nicht im Harz. Der Mann war ebenfalls an der Front. Sie hatten eine Tochter in meinem Alter und einen zwei Jahre älteren Sohn. An diese Familie schrieb ich nun aus der Schule in Hohenstein einen Brief, ob sie auch schon Flüchtlinge bekommen hätten, wenn nicht, bat ich sie uns aufzunehmen. Prompt kam die Antwort. Wir wurden herzlich eingeladen zu ihnen zu kommen, bevor sie Fremde einquartiert bekommen. Das war eine freudige Nachricht. Wir packten umgehend unsere Sachen zusammen und fuhren mit dem Zug nach Osterode in die Kasernenstraße zu Familie Biegemann. Wir bekamen ein schönes Zimmer für uns allein, lebten aber sonst zusammen, wie eine große Familie – es war schön.
Mitte September, nachdem wir bereits einen Monat in Osterode waren, fuhren Mutter und ich zurück nach Memel, um Winterbekleidung und Federbetten zu holen. Wir schliefen eine Nacht in unserer Wohnung. Am anderen Morgen ging es mit viel Gepäck zum Bahnhof, um einen Zug nach Osterode zu bekommen, was uns auch gelang. Der Zug war voll und wurde in Memel noch voller von Flüchtlingen und viel Militär, aber wir bekamen trotzdem noch Sitzplätze.
Wir kamen aber nicht sehr weit. Russische Tiefflieger überflogen unseren Zug und fingen an zu schießen. Der Zug hielt auf freier Strecke und wir liefen alle aufs freie Feld hinaus, in Gräben, in Furchen, hinter Hecken und Büschen oder nur platt auf den Boden gedrückt, lagen wir Flüchtlinge da. Über uns russische Flugzeuge. Wie viele weiß ich nicht, aber es waren etliche. Sie schossen aus ihren Kabinen mit Gewehren auf uns am Boden Liegende. So rasch, wie der Spuk begann, war er auch wieder vorüber. Zurück blieben etliche Tote und Verwundete.
Der Zug pfiff. Wir mussten einsteigen. Die Fahrt ging weiter. Jetzt ohne Zwischenfälle. In Osterode angekommen, begann wieder eine schöne ruhige Zeit. Man merkte gar nicht, dass Krieg war, aber die Front rückte näher und immer näher. Mitte November 1944, nachdem wir drei Monate in Osterode gelebt hatten, sollte auch Osterode geräumt werden. Zuerst mussten wir Flüchtlinge raus. Mit dem Zug ging es nach Pommern. Wir kamen in ein Dorf; es hieß Schlawe und war sieben Kilometer von der Stadt Labes entfernt. Der Bürgermeister des Dorfes begrüßte uns und teilte die Quartiere ein. Wir kamen zu einer kleinen Familie, die bei dem Förster arbeiteten. Man gab uns eine kleine in sich abgeschlossene Wohnung, warm und gemütlich und das Leben ging weiter.
In dem Jahr 1944 war es für November schon bitterkalt. Wir hatten diesen Winter bis zu 28° Kälte und wir Kinder sammelten fleißig Bucheckern, die geröstet wie Nüsse schmeckten. Weinachten nahten. Das erste Fest in der Fremde. Wir bekamen vom Förster ein kleines Tannenbäumchen und den Schmuck dazu von unserer Familie unter uns. Mutter hatte Kekse und Kuchen gebacken. Es wurde ein bescheidenes aber schönes Weihnachtsfest mit viel Schnee und Frost.
Jetzt lebten wir bereits wieder drei Monate in Pommern, von Mitte November bis Mitte Februar 1945 und wieder kam ein Befehl, Pommern zu verlassen. Diesmal alle, Flüchtlinge und Einheimische. Es war bitterkalt und schneite, als wir uns alle aufmachten weiter zu fliehen. Dieses Mal zu Fuß und die Bauern mit Pferd und Wagen. Nur unser Gepäck kam mit auf den Wagen, aber wir hatten zusätzlich noch Rucksäcke vollgepackt auf dem Rücken. Wir kamen nur langsam voran. Oft mussten wir halten um Militärfahrzeuge vorbei zu lassen und marschierten Richtung Oder um auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. Wir befanden uns bereits im Kampfgebiet. Über uns schossen sie mit Granaten. Zwar noch etwas entfernt, aber unüberhörbar. Auf der einen Seite, das deutsche Militär auf der anderen bereits die Russen. Der Kampf ging um die Brücken über die Oder. Die Russen versuchten sie zu sprengen, um den Flüchtenden den Weg abzuschneiden. Wir kamen trotz allem noch unbeschadet hinüber, doch kurze Zeit später soll die Brücke hinter uns gesprengt wurden sein.
Der Kanonendonner lag nun hinter uns und es wurde langsam stiller. Von dem Frost und dem vielen Schnee waren unsere Hände und Füße eiskalt, aber wir waren vorerst wieder in Sicherheit. Das Städtchen hieß Ribnitz und lag in Mecklenburg, wo wir jetzt gelandet waren. Wir kamen zu einem älteren Ehepaar und man gab uns ein kleines Zimmerchen. Es war nun Ende Februar 1945 und das Leben ging wie gewohnt weiter, doch mehr schlecht als recht.
Es kam der März, dann am 30. April 1945 waren die Russen bereits in Damgarten. Die letzte Stadt in Pommern und ein paar Kilometer weiter lag Ribnitz, die erste Stadt in Mecklenburg, wo wir jetzt waren. Die Russen marschierten auf Ribnitz zu. In der Nacht zum 1. Mai 1945 würden sie da sein. Überall wurden nun weiße Fahnen oder Tücher ausgehängt. Die Stadt wollte freiwillig kapitulieren, um unnützes Blutvergießen zu vermeiden. Einige französische Kriegsgefangene, die jetzt frei waren, rieten uns, die Nacht über in den Wald zu gehen um den betrunken einmarschierenden, plündernden und vergewaltigenden Russen die erste Nacht zu entgehen. Wir folgten ihrem Rat und sie kamen mit, um sich zu verstecken. Im Wald hörten wir von der Stadt her vereinzelte Schüsse fallen. Sonst war es ruhig um uns herum. Am Morgen vergrub meine Mutter einige Dokumente im Wald. Arische Abstammungsurkunden und die Feldpostbriefe meines Bruders aus Russland. Dann gingen wir zurück in unsere Wohnung. Noch war niemand von den Besatzern im Haus gewesen, aber tagsüber ging es los! Die Russen kamen, um zu plündern. Drei Tage durften sie tun und lassen, was sie wollten: vergewaltigen, plündern, auch jemanden, der sich widersetzte, erschießen! Am meisten verlangten sie nach Uhren. Auch wir wurden der besten Sachen beraubt.
Einmal fragte einer der Russen meine Mutter, wie alt ich sei. Mutti, die noch ein bisschen Russisch vom Ersten Weltkrieg kannte, sagte ihm ich wäre 12 Jahre alt und gehe zur Schule. Das war natürlich nicht wahr. In Wirklichkeit war ich bereits 16 Jahre alt, hatte aber Zöpfe und war sehr schmächtig, klein und verängstigt! Er sah mich an, glaubte es und ließ uns alle in Ruhe. Aber von da an flüchtete ich, sobald sich russische Soldaten am Haus zeigten, hinaus auf den Hof, auf das Holzklo. Dort saß ich dann in einer Ecke gekauert, bis die Gefahr vorüber war und ich wieder ins Haus konnte. So blieb ich bis zuletzt, „Gott sei gedankt“ verschont! Ein befreundetes Mädchen, „Rosemarie“ war ihr Name, hatte weniger Glück. Sie war so alt wie ich, aber größer und stärker. Eine Berlinerin. Sie kam einmal, als der ganze Spuk vorbei war zu uns, weinte und sagte: „Ick glaub ick krieg e Kind.“
Langsam kehrte wieder Ruhe ein, in die Stadt. Und am neunten Mai war der Krieg zu Ende und endlich Frieden! So Mitte Mai gab es einen Appell, dass wir alle, die wir aus dem nördlichen Ostpreußen stammen, also aus Memel und Umgebung, in ihre Heimat zurückkehren sollten. Dort gäbe es bereits Handel und Wandel. Also ein normales Leben. Wir Flüchtlinge bekamen jetzt auch keine Lebensmittelkarten mehr. So blieb uns nichts anderes übrig, als tatsächlich wieder nach Memel zurückzukehren. Außerdem meinte meine Mutter, wenn meine Brüder den unseligen Krieg überlebt haben, kommen sie auch in die Heimat wieder zurück, was natürlich nicht geschah. Einer meiner Brüder war bis 1948 bei Moskau in russischer Gefangenschaft und ließ sich später nach Ribnitz, wo wir zuletzt wohnten, entlassen. Mein anderer Bruder Herbert war in Russland bei Stalingrad verwundet worden. Die linke Hand wurde ihm abgeschossen, und er nach Graudenz ins Lazarett gebracht und später nach Freudenstadt ausgeflogen, wo er das Kriegsende erlebte und auch weiterhin dort blieb. Meine Mutter hatte zuvor eine jüngere Anverwandte getroffen, die mit ihren drei Kindern 12 Jahre, 10 Jahre, und eine 5 Jährige auch nach Ribnitz evakuiert waren. Sie wollte auch unbedingt nach Memel zurück. Sie besaß dort ein Häuschen und wollte dieses unbedingt wieder haben – falls es noch da war. Auch wollte sie dort auf ihren Mann warten, wenn er den Krieg überlebt hatte. Ob sich diese Wünsche erfüllen ließen? Wir wussten es damals nicht! Da uns jene Frau Labrenz die Heimkehr sehr schmackhaft machte, ging es also los!
Aus Ribnitz mussten wir raus! Es gab dann 1945 einen provisorischen Zug Richtung Osten. Den bestiegen wir mit sechs Personen und unserem Gepäck. Die meisten und auch schwersten Sachen hatten wir bei der Familie Straßburg, wo wir zuletzt wohnten, in Ribnitz zurückgelassen, um es später nachzuholen, woraus natürlich nie etwas wurde. Der Zug fuhr allerdings nur eine kurze Strecke. Dann war Schluss. Wir mussten auf Kohlewaggons und offene Loren umsteigen. Es ging im Schneckentempo weiter. Oft hielt der Zug sehr lange ohne ersichtlichen Grund! Wir Kinder stiegen dann aus, um Wasser und etwas Essbares zu suchen. So vergingen etliche Tage und wir kamen nur langsam weiter.
Einmal hielt der Zug in polnisch ländlichem Gebiet. Frau Labrenz und wir Kinder gingen Essen suchen. Mutter blieb allein zurück. Als wir wieder kamen, saß sie zwischen zwei Waggons auf einer Stufe zu einer Art kleinem Häuschen und weinte. Da waren zwei polnische Partisanen-Jungen gekommen und hatten sie bedroht, ihr mit einem Stacheldraht die Augen aus zu stechen, wenn sie nicht ihren goldenen Schmuck und ihre goldenen Zähne aus ihrem Gebiss abgibt! Sie gab ihnen das Verlangte und sie ließen sie in Ruhe. Als wir zurückkamen, waren sie natürlich weg, aber wir hätten den Raub auch nicht verhindern können.
Dann ging es mal wieder ein paar Kilometer weiter und wieder hielt der Zug. Ruck zuck kletterten polnische halbstarke Jungen auf unsere Loren. Uns gegenüber saß ein älteres deutsches Ehepaar. Der Mann war in Eisenbahnerjacke und hielt einen kleinen Koffer fest in seinen Händen. Zwei von den Jüngeren wollten ihm den Koffer entreißen. Aber der Mann hielt ihn fest. Da zog einer von den beiden eine Pistole aus der Hosentasche und hielt sie dem Mann an die Schläfe. Wir dachten alle, das sei nur eine Drohung, aber es war keine. Der Junge drückte ab! Der Schuss hallte laut durch die ganze Gegend. Der Mann ließ den Koffer los und fiel tödlich getroffen nach hinten. Seine Frau schrie und wir alle waren vom Schreck wie gelähmt. Der Mann wurde vom Waggon runter geworfen und bis auf die Unterwäsche ausgezogen und beraubt. Die Frau war vom Waggon geklettert zu ihrem toten Mann und der Zug fuhr mit uns allein wieder weiter.
Es ging nun bis Tilsit. Dann mussten alle den Zug verlassen und auf Lastwagen ging es weiter bis hinter Tilsit-Ragnit auf dem Lande, zu einem großen Gut. Dort war Endstation und wir waren im Gefangenenlager, wo schon viele andere Deutsche waren und wurden von russischem Militär bewacht und zur Landarbeit gezwungen. Außer Brot und Wasser gab es nichts und Memel noch gut 100 Kilometer entfernt. Aus war der Traum nach Memel zu kommen! Um unserer Freiheit Willen waren wir zu Fuß monatelang bis Mecklenburg geflüchtet. Jetzt gingen wir freiwillig zurück und gelangten in ein russisches Gefangenenlager und mussten hart arbeiten auf dem Feld bei der Ernte, das dann alles nach Russland gebracht wurde! Ironie des Schicksals.
Es war eine schwere und harte Zeit im Lager. Die Ruhr war ausgebrochen. Eine kleine, zierliche Frau starb daran. Ich weiß nicht mehr, wer sie beerdigt hat. Sie hinterließ 6 oder 7 kleine Kinder, die man danach fortbrachte. Wohin? Ich weiß es nicht. Auch wir alle bekamen die Ruhr. Es lag am Wasser und Obst und Beeren, die wir in den Gärten der Umgebung sammelten und aßen. Im August bekam ich Malaria. Hatte wechselnd sehr hohes Fieber und Anfälle von Schüttelfrost. Ein Militärarzt kam ins Lager und ich bekam eine Chinin Spritze. Das Fieber ging zurück und ich erholte mich, war aber nur noch Haut und Knochen.
Einmal hatte ein Junge, der mit uns war, einen Vogel gefangen. Daraus wurde eine Suppe gekocht, auf der zwei oder drei Fettaugen schwammen. Es war die erste Abwechslung nach trockenem Brot, Obst und Beeren. Der schöne warme Sommer neigte sich langsam dem Ende zu. Es wurde Herbst.
Wieder einmal waren zwei Jungens und ich unterwegs um Obst zu suchen. Wir hatten auch ein paar schöne reife Äpfel gefunden, als plötzlich auf dem Weg zu dem Garten eine Pferdekutsche anhielt, ein russischer Soldat ausstieg und in unseren Garten kam. Es war ein Fremder, nicht aus unserem Lager. Er deutete auf die Jungen, dass sie abhauen sollten, und kam auf mich zu. Ich ließ die Äpfel fallen und rannte im zick zack hinter die Scheune und weiter fort. Ich sah noch, dass der Soldat hinkte und mir deshalb nicht folgen konnte. Er schoss noch ein paar Mal hinter mir her; aber ich war zu weit weg und versteckte mich in einem leer stehenden Haus. Gerade, als alles still war und ich aus meinem Versteck heraus treten wollte, hörte ich Hufegeklapper und der Russe fuhr mit seiner Kutsche vorbei. Ich wartete noch ein Weilchen ab und trat dann den Heimweg an. Kam auch unbeschadet dort an. Die Jungen waren schon lange da. Alle hatten sich um mich Sorgen gemacht, aber mir war nichts passiert.
Es wurde Oktober und dann Anfang November. Im Lager und auf den Feldern war nichts mehr zu tun. Eines Morgens waren alle Soldaten und Offiziere abgereist! Nur noch zwei Posten als Bewacher waren da. Wir waren ein paar Tage alleine, da kamen eines Abends ein paar angetrunkene Soldaten und durchsuchten das Lager nach Frauen. Zu welchem Zweck ist wohl bekannt. Ein Soldat wollte in die Küche rein, wo wir gerade unser Brot aßen und Tee tranken. Die Küche war nicht abschließbar, aber meine Mutter stemmte sich gegen die Tür, bis wir fortgelaufen waren. Die Tür hatte oben ein Glasfenster. Natürlich war da schon lange kein Glas mehr drin. Da schlug der Russe mit einem Knüppel durch das Loch, meiner Mutter auf den Kopf, so dass sie die Tür frei gab. Die Russen schrien im Haus herum. Sie waren alle ziemlich stark angetrunken. Weil es stockfinster war, riefen sie nach Licht oder Kerzen, denn mit ihren Streichhölzern konnten sie nicht lange und gut sehen. Natürlich hatten wir keine Kerzen und die paar Glühbirnen, die in den Zimmern waren, hatten unsere Frauen ausgedreht und versteckt. Die Russen fluchten und polterten durch das ganze Haus. Ich hatte mich auf ein eisernes Bett unter einen Strohsack gelegt. Meine Mutter und die drei Kinder setzten sich darauf, doch vor Angst merkte ich ihr enormes Gewicht gar nicht. Luft bekam ich durch das Gitter des eisernen Bettes. Es dauerte nicht lange, da trat auch einer in unser Zimmer. Er fühlte die Kinder die fingen zu weinen an. Dann griff er meine Mutter und zerrte sie nach draußen. Aber sie kam bald wieder zurück, doch der Russe hatte sie vergewaltigt. Bald darauf verschwand die Horde auf nimmer wieder sehen, aber die Angst blieb noch lange in uns bestehen!
Später kamen zwei neue Bewacher. Es war Anfang Dezember 1945. Es wurde kalt. Es kam Frost und viel Schnee. Einer der Wachposten war sehr nett und mitfühlend. Er sagte meiner Mutter: „Seht zu, dass ihr abhaut, denn in Kürze kommen Lastwagen, die euch alle nach Sibirien bringen werden!“ Das Lager war noch voll von Deutschen. Aber diese Warnung hatte er nur meiner Mutter gesagt. Und wir nahmen sie sehr ernst und bereiteten gezielt unsere Flucht vor. Wir zogen uns sehr dick an. Mehrere Kleidungsstücke übereinander. Und einer nach dem anderen ging langsam raus, Richtung Plumpsklo und hinaus aufs Feld. Es war Mitternacht und kein Posten zu sehen. Sie waren irgendwo im Haus sich aufwärmen. Unser nötigstes Gepäck hatten wir an der hinteren Seite unseres Hauses aus dem Fenster in den Garten geworfen. Als wir alle sechs wieder beisammen waren, Frau Labrenz, ihre drei Kinder, meine Mutter und ich, gingen wir los, solange und so schnell uns unsere Füße nur trugen. Es war stockfinster, als wir losmarschierten, aber bald erschienen der Mond und die Sterne am Himmel und der Schnee leuchtete und glitzerte.
Vor uns lag nun ein Fluss, den wir überqueren mussten, denn auf der anderen Seite war ein Wald, der uns mehr Sicherheit bot. Der Fluss war ziemlich breit, aber zugefroren, so eilten wir hinüber. Es fing schon an hell zu werden. Der Mond war verschwunden und ein neuer Tag brach an. Wir hörten in der Ferne lautes Gebell und Schüsse. Es wurde tatsächlich nach uns gesucht und wir gingen tiefer in den Wald hinein, aber unsere Verfolger kamen nicht über den Fluss, wir waren schon auf litauischem Gebiet und in Sicherheit.
Am späten Nachmittag – es fing schon an wieder dunkel zu werden – kamen wir müde, total erschöpft und hungrig an ein kleines Bauernhäuschen. Es war eine kleine litauische Familie. Mutter und Frau Labrenz konnten noch von früher Litauisch, denn nach dem Ersten Weltkrieg, von 1923 bis März 1939 war das Memelgebiet an Litauen abgetreten worden und somit die zweite Amtssprache Litauisch. Alle Litauer sind katholisch und sehr gläubig. Ganz besonders natürlich die Landbevölkerung. Frau Labrenz klopfte nun beherzt an die Tür und wir baten um Essen und ein Nachtquartier. Man bat uns herein. Wir bekamen zu essen, konnten uns wärmen, bekamen ein Nachtlager auf Stroh und durften uns einen Tag danach noch ausruhen, um dann erholt und gestärkt am übernächsten Tag weiter zu marschieren. So erging es uns einige Tage lang.
Wir kamen verfroren, erschöpft und hungrig am Vormittag des Heiligen Abend in Heydekrug an. Kurz hinter Heydekrug lebte auf einem Bauernhof der Vater von Frau Labrenz mit seiner zweiten Frau, sie waren sehr freundlich zu uns. Es gab Abendbrot für alle. Es schmeckte köstlich in dieser kargen, harten Zeit, wo man für jeden Bissen, den man bekam, Gott und den Menschen sehr dankbar war. Über Weihnachten durften wir dann bleiben.
Nach Weihnachten gingen Mutti und ich so ungefähr zehn Kilometer allein weiter und fanden eine Unterkunft für den ganzen Winter. So verging der Winter wie im Fluge und es nahte der Frühling. Mutti blieb bei Frau Lilischkis, die eine sehr gläubige Baptistin war und die ich Tante Annchen nennen durfte. Sie war eine Seele von Mensch, mit einem großen Herzen für Arme und Not Leidende. Allmählich ging es wieder auf Weihnachten zu. Jetzt war ich bereits 18 Jahre alt und hatte von Tante Annchen schöne warme Kleidung bekommen. Aus meinen war ich herausgewachsen und zum Teil war sie aufgetragen. Wir hatten die Gastfreundschaft von Tante Annchen lange genug in Anspruch genommen und Mutti und ich wollten nun endlich nach Memel weiter wandern.
An einem sonnigen Morgen nahmen wir herzlichen Abschied von den uns so lieb gewordenen Menschen und zogen los. Bis Memel waren es gut 50 Kilometer. Als wir so die Hälfte geschafft hatten, hielt neben uns ein Leiterwagen mit zwei stattlichen Pferden. Der junge Litauer fragte meine Mutter, wo wir denn hin wollten. „Zur Stadt Memel“, sagte meine Mutter. „Was wollt ihr denn da?“ fragte der Junge entsetzt. „Da könnt ihr nur auf dem Bau arbeiten und zu essen gibt es da auch nichts. Da ist die Not noch zu groß. Kommt mit mir aufs Land in den Kolchos, da gibt es Arbeit und Essen genug. Der Boss ist Russe, aber der Verwalter des Gutes ist Litauer. Seine Frau ist Deutsche und viele Königsberger arbeiten bereits dort.“
Wir hatten nichts mehr zu verlieren, konnten höchstens etwas gewinnen, also stiegen wir auf den Wagen und es ging ein paar Kilometer weiter zu einem noch recht ansehnlichen Gut und bekamen auch gleich ein Zimmer für uns und Arbeit zugewiesen. Mutter sollte Köchin in der großen Küche sein, ich sollte Kühe hüten, weiden lassen und melken. Das Zimmer und Bett mit Strohsack, waren ja noch ganz in Ordnung, aber des Nachts an den Wänden kamen die Wanzen, die uns ganz grässlich bissen. Zehn schlug man tot, zwanzig waren gleich wieder da.
Meine Mutter hatte sich im Garten, als sie Küchenkräuter pflückte, an einem Stacheldraht das untere Bein aufgerissen und es blutete stark. Es heilte fast wieder zu, nur eine kleine Stelle blieb offen. Als sie mich ein paar Tage danach beim Kühehüten ablöste, kratzte sie aus Langeweile den Schorf über der Wunde ab und es fing erneut an zu bluten und heilte nun nicht mehr zu. Arzt und Medikamente oder Salben gab es nicht. So versuchte Mutter mit allerlei Heilkräutern und Hausmittel die Wunde zum Heilen zu bringen, was aber nicht gelang. Im Gegenteil, sie wurde immer größer und es wuchs wildes Fleisch drum herum.
Langsam ging es auf den Herbst zu. Über Nacht war unser litauischer Verwalter samt Familie verschwunden. Still und leise abgeholt, wie immer, damit niemand etwas merkte. An seiner Stelle trat ein russischer Offizier. Nun wehte ein anderer Wind! Vorbei das gute Essen. Alles wurde nach Russland geschickt – die ganze Korn- und Kartoffelernte. Wir bekamen jetzt viel Mehl und für unsere Arbeit etwas Geld, aber wir hatten keine Kartoffeln, kein Fleisch oder andere Dinge mehr.
Neben uns im Haus wohnte auch eine Frau aus Königsberg mit ihrer Tochter Ruth. Die war erst fünfzehn Jahre alt und ging bei Litauern in der Umgebung betteln und brachte auch immer etwas mit nach Hause. Ich schämte mich so zu betteln, so fanden wir einen anderen Weg an Esswaren zu kommen. Mutti gab mir von sich eine goldene Kette und den dazu passenden Ring. Diese Dinge tauschte ich bei den Bauern in einen großen Korb Kartoffeln und ein großes Stück Speck ein. Jeder von uns hatte im Frühjahr ein kleines Stückchen Land bekommen nach Belieben zu bepflanzen und jeder musste sich so selbst versorgen.
Muttis Fuß wurde schlimmer und die Wunde größer. Als Köchin wurde sie nicht mehr gebraucht und somit entlassen. Sie fuhr wieder zu Tante Annchen, denn inzwischen war der alte Herr verstorben und Tante Annchen allein. Dadurch blieb ich allein auf dem Kolchos.
Es war im Spätherbst 1947. Unser neuer Direktor war nicht schlecht. Er stand ja selber unter Druck und musste alles nach oben abliefern. Er war auch zu uns Deutschen ganz nett und gerecht. Nur einmal bekam ich ein großes Problem mit ihm. Er war tagsüber fort gewesen und kam abends sturzbetrunken in unser Zimmer. Seitdem Mutter fort war, schlief ich mit Ruth, die Königsbergerin und ihrer Mutter in deren Zimmer zusammen. Ruths Mutter musste im Stall und auf der Koppel auf die Pferde aufpassen. Als der Boss in unser Zimmer trat, ging sie pflichtbewusst raus zu den Pferden und Ruth verschwand mit ihr. Dann war ich mit ihm allein im Zimmer. Ich zögerte nicht eine Sekunde, öffnete das Fenster und sprang hinaus in den Garten. Mit einem Fuß sprang ich auf etwas Hartes, Spitzes und spürte einen stechenden Schmerz, rannte aber weiter. Ich blutete wie ein abgestochenes Schwein. Ich musste zum russischen Arzt damit, den es jetzt in der Nähe gab. Der säuberte die tiefe Wunde und verband sie. Am nächsten Tag legte ich die Kran Kilometermeldung im Büro auf den Schreibtisch und habe nichts mehr davon gehört.
Im Winter 1947 war ich bereits neunzehn Jahre alt und ging einige Male allein zur Stadt Memel. Dort traf ich auch ein paar Schulfreundinnen und etliche ehemalige Nachbarskinder, die schon in der Stadt wohnten. Natürlich nicht in ihren eigenen Wohnungen und Häusern, sondern in provisorischen Unterkünften und wir verabredeten uns, dass ich auch zur Stadt komme für immer. Im Frühjahr würde sowieso der Kolchos aufgelöst werden und ich konnte frei nach Memel gehen. Bekam auch gleich eine Stelle bei einer litauischen Familie mit vier kleinen Kindern.
Ende November kam ich zu einer anderen deutschen Familie, die sich aber auch als Litauer ausgaben. Wieder einmal hatte ich Glück und machte die Bekanntschaft einer reizenden, deutschen Dame. Der Mann war der Direktor vom Institut in Memel und Litauer. Frau Vera Schimkus war Lehrerin. Wir freundeten uns sehr herzlich an. Ich besorgte ihr immer deutsche Bücher und Romane zum Lesen und sie besorgte mir eine ganz tolle Stelle bei einer intelligenten russischen Familie, ganz in ihrer Nähe. Die Familie hieß Strechalow. Sie war Lehrerin und der Mann war stellvertretender Stadtkommandant. Er war zwar in der Partei und nach außen ein großer Parteibonze, aber zu Hause bekam ich doch mit, dass sein Herz anders dachte.
Um zwölf Uhr wurde in der Stadt durch Lautsprecher laut der russischen Hymne gespielt. Dann wurden die Geschäfte geschlossen und erst morgens um acht oder neun wieder geöffnet. So ging das Jahr 1949 vorüber. Ende August besuchte ich wieder meine Mutter und Tante Annchen. Mutter ging es schlecht. Die Wunde am Bein war fast bis zum Knochen offen und sie hatte große Schmerzen. Tante Annchen bat mich, sie nach Memel zu nehmen, da sie Angst hatte, dass wenn sie sterben würde, sie mit der Polizei Schwierigkeiten bekäme. So brachte ich Mutti Ende August 1949 mit dem Bus – der jetzt schon wieder verkehrte – nach Memel. Ich war ja selbst in Stellung und hatte kein eigenes Zuhause. Aber Frau Labrenz, mit der wir aus Ribnitz kamen, hatte eine kleine Dachwohnung. Ihr eigenes Haus war nicht mehr vorhanden und wäre es da gewesen, hätte sie es nie bekommen. Wir Deutsche waren damals rechtlos. Sie war aber bereit, Mutti wenigstens vorläufig aufzunehmen, wofür ich ihr sehr dankbar war. Ich arbeitete weiterhin bei Strechalow.
Meiner Mutter ging es sehr schlecht und sie musste ins Krankenhaus, aber das nahm sie nicht auf. Angeblich gab es keinen Platz. Nachdem mein Chef aber ein Donnerwetter losgelassen hatte, war sofort ein Platz vorhanden und ich brachte sie hin. Zwei Tage später ging ich sie besuchen, sie schlief aber gerade so fest, als ich kam, da wollte ich sie nicht wecken, da sie zuvor schon lange nicht mehr schlafen konnte, und ging zurück zu meiner Familie. Zwei Tage später ging ich wieder hin und betrat Mutters Krankenzimmer. Doch in ihrem Bett lag eine andere Frau. Ich war darüber erstaunt und als eine Krankenschwester das Zimmer betrat, fragte ich, wo denn meine Mutter ist. „Die ist gestern Abend verstorben.“ und ich rannte weg. Die Familie Strechalow tröstete mich sehr und gab mir eine Woche frei um die Beerdigung vorzubereiten. Mutti ist am 8. Oktober 1949 verstorben. Am anderen Tag konnte ich sie in der Leichenhalle sehen. Man hatte sie obduziert. Von oben bis zum Bauch aufgeschnitten und grob zusammengenäht. Das tat man damals mit jedem Toten. Auf dem Totenschein stand: „Gestorben an Herzwassersucht.“ Dort in der Leichenhalle besprachen wir auch mit dem Aufseher die Beerdigung. Es gab Särge zu 100 Rubel und einen Besseren für 150 Rubel und Mutti sollte zwei Tage später beerdigt werden. Ich sagte allen Freunden und Bekannten Bescheid. Auch einem evangelischen Pfarrer und bestellte einen wunderschönen Kranz für 50 Rubel. Dann fuhr ich mit dem Fahrrad zu Tante Annchen und holte Mutters Sterbehemd, ein weißes Laken und ein Kopfkissenbezug. Alles das brachte ich am anderen Tag dem Mann, der sie beerdigen wollte. Den anderen Morgen ging ich kurz vor der Beerdigung hin, um zu sehen, ob auch alles gut verläuft. Der Kerl sagte mir da unverfroren: „Wir haben Ihre Mutter schon gestern Abend beerdigen müssen.“ Es sei Vorschrift. Ich war wie vor den Kopf geschlagen und fragte nur noch, ob sie sie angezogen hätten im guten Sarg und noch weitere Fragen, worauf er sagte: „Na klar!“ und kam mit mir auf den Friedhof und zeigte mir den kahlen Erdhügel. Ich legte meinen schönen Kranz darauf und blieb allein, enttäuscht, verbittert und unendlich traurig zurück.
Strechalow’s wollten nach Moskau zurückkehren. Einige Tage später bot mir Frau Schimkus an, die Schule, an der sie lehrte, sauber zu machen. Die Stelle war gerade frei und ich bekam sie, musste aber jeden Abend immer allein in die Schule zum Saubermachen. Als ich die Klasse gleich neben der Flügeltür reinigte, da hörte ich wie jemand mit einem Gehstock den Korridor entlang ging – so wie meine Mutter in den Wochen zuvor. Ich erschrak und öffnete die Tür zum Korridor. Die Flügeltüren bewegten sich, aber es war niemand da. Ich arbeitete weiter. Und wieder gingen die Schritte laut den Flur entlang – tak – tak – tak. Ich riss die Klassentür auf und schaute entsetzt den Flur entlang. Niemand zu sehen, nur die Türen bewegten sich, als ob jemand durchgegangen war. Und es roch eigentümlich nach Krankenhaus. Es war eindeutig meine Mutter, die durch den Korridor bis zum Ende ging. Ich wusste dadurch, dass mit der Beerdigung meiner Mutter etwas nicht stimmte, die so voreilig, ohne meine Anwesenheit, stattgefunden hatte. Mutter wollte mir damit wohl ein Zeichen geben. Wie sich dann auch durch meine persönlichen Nachforschungen ergab, war sie nur einfach kurz unter der Oberfläche ohne Kleidung und ohne Sarg verscharrt worden. Ich hatte mich allerdings strafbar gemacht, die Leiche einfach auszugraben und konnte juristisch nichts mehr für meine arme Mutter tun.
Im Sommer 1950, ein gutes halbes Jahr nach Mutters Tod, lagen meine Freundin Inge und ich auf dem Friedhof auf einer Wiese um uns zu sonnen. Unweit davon war eine neue Grube ausgehoben wurden. Da hörten wir, dass ein Leichenwagen mit Pferd und zwei Männern angefahren kam. Auf dem Wagen ein Zinksarg und mein Leichenbestatter. Sie fuhren dicht an die Grube, öffneten den Sarg, und schwups wurde die Leiche in die Grube geschubst und der Sarg wieder auf den Wagen gebracht. Dann wurde zu geschaufelt. Als Schluss muss ich noch berichten, dass nach ein paar Jahren der Schurke seine gerechte Strafe doch noch bekam. 25 Jahre Sibirien! Es stand groß in der Zeitung. Er hatte dasselbe mit einem hohen russischen Offizier gemacht und war endlich aufgeflogen! Es war dies für mich eine kleine Genugtuung. Wieder war nun Sommerzeit. Schöne, warme und manchmal sehr heiße Tage. Ein typischer Sommer in Ostpreußen. Alles, was Zeit und Lust hatte, fuhr hinüber mit der Fähre zur Kurischen Nehrung – an die Ostsee zum Baden. Sobald es dunkler wurde, mussten alle zurück zur der Stadt Memel. Der Strand wurde dann abgeharkt und bewacht, damit keiner eventuell nach Schweden abhaute!
Auch ich war, zumindest am Sonntag, immer am Strand. Am Abend ging ich oft meine Freundinnen besuchen. Die Schwestern Martha und Irma. Dort traf ich eines Abends, Anfang August 1951, zwei junge Männer bei ihnen an. Ein Litauer und einen Deutschen. Der Litauer war schon länger Irmas Freund, aber der Deutsche sah sehr gut und gepflegt aus und sollte für Martha sein. Er hieß Alfred und ging auch mit ihr aus, interessierte sich aber mehr für mich. Da er aber direkt für Martha mitgebracht worden war, mischte ich mich da nicht ein und ging nach Hause, obwohl Alfred mich bat, doch auch mit ins Kino zu kommen.
Zwei Wochen später traf ich Alfred zufällig in der Stadt. Er war allein. Er hatte mit Martha Schluss gemacht, denn er hatte herausgefunden, dass sie am Abend zwar mit ihm ausging, am Tag sich aber mit einem anderen Freund traf. Ja, sie sah sehr gut aus und hatte deshalb immer viele Freunde — das war allgemein bekannt. Für Alfred war sie die erste Freundin und sie war nicht treu, darum war es jetzt aus. Wir unterhielten uns sehr lange. Gingen auch danach ein paar Mal spazieren oder ins Kino, so circa zwei Monate. Ich sah Alfred wieder und wir gingen wie gewohnt aus. An meinem Geburtstag, den 13. November, gingen wir ins Kino. Ich wurde 23 Jahre alt, war also drei Jahre älter als Alfred. Er schenkte mir einen Kuchen, den ich im Kino langsam auf aß. Es war auch mein erstes Essen an dem Tag. Ich war ja nicht mehr in Stellung – wegen meines Krankenhausaufenthaltes und so schlief ich mal hier, mal da, bei meinen Freundinnen und die hatten oft selber nichts zu essen. So vergingen viele Wochen und Monate und wir waren froh, unbeschwert und recht glücklich zusammen, aber es wurde 1951 ein eisiger Winter.
Dann kam Frühling und der schöne Sommer. Ich hatte auch schon lange wieder eine gute Stelle im Haushalt. So waren wir nun 1952 bereits ein Jahr zusammen. Natürlich nur an den Wochenenden. Alfred arbeitete ja, und ich auch. Alfred arbeitete am Hafen und baute als gelernter Radiomechaniker in Schiffen die Funkanlage ein und verdiente sehr gut. Wir wollten heiraten, aber wir bekamen keine eigene Wohnung. Im August 1952 wurde ich schwanger. Alfred freute sich und sagte: „Hoffentlich wird es ein Mädchen!“ sie sollte dann Roswita heißen, wie seine kleine Schwester, die er kurz nach dem Krieg durch Krankheit verloren hatte. Wohnraum war noch immer sehr, sehr knapp. Aber wir hatten die Hoffnung, als werdende Eltern, durch seine Arbeitsstelle eine Wohnung zu bekommen. Wir warteten immer noch auf die versprochene Wohnung, als Alfred Ende November 1952 die Einberufung zur russischen Armee bekam. Am achten Dezember sollte er dann für drei Jahre weg, irgendwo ins tiefe Russland. Nun mussten wir schnell heiraten und das auch ohne Wohnung. Am anderen Morgen, den 4. Dezember 1952 wurden wir dann auch ruck, zuck getraut, ohne Trauzeugen und all dem sonstigen Klimbim. Vier Tage später musste er los. Früh morgens, an einem kalten, grauen Dezembertag. Ich stand auf dem Bahnhof, bis der Zug abfuhr und er erst – nach etwas über drei Jahren als total veränderter Mensch wieder kam. Den Alkohol liebend und Kommunist geworden.
Im Januar 1956 war es dann soweit, dass mein Mann nach Hause kommen sollte. Wie wird er sein nach dem Kommunisten Drill? Ich konnte es mir nicht vorstellen, sollte es aber bald erfahren. In allen meinen Erinnerungen war er immer nur der große, blonde, etwas schüchterne, liebe Junge, aber jetzt hatte er sich total verändert und das nicht zum Guten. Er war für mich ein Fremder geworden. Das russische Militär hatte ihn geprägt und es dauerte sehr, sehr lange, bis wir wieder ein normales Leben führten. Fast zwei Jahre war es eine schlimme Zeit für mich, bis Alfred allmählich wieder der Alte wurde. Doch zeitweilig trank er zu viel Alkohol, er schien es zu brauchen.
Am Sonntagmorgen, den 12. Januar 1958 wurde unsere zweite Tochter Sigrid im Krankenhaus von Memel geboren. Eingewickelt wie eine Mumie, nur das Gesichtchen war frei. Das war damals in Russland so üblich. 1959 fing an mit vielen Ausreisen nach Deutschland. Die meisten unserer Freunde und Bekannten waren schon weg. Es wurden wöchentlich immer weniger Freunde um uns herum. Auch wir wollten auswandern, doch vorsichtig, wie mein Mann war, wollte er erst die Briefe unserer Freunde abwarten, ob sie auch wirklich in Deutschland angekommen sind und nicht in Sibirien gelandet waren. So reichte ich dann erst im Herbst 1959 auch unsere Papiere für die Ausreise nach Deutschland ein. Alfred hatte einen Bruder in West-Berlin und ich einen in der DDR und einen in Hamburg. Da Hamburg aber auch am Wasser liegt und die Ostsee nicht weit entfernt, also ähnlich unserer Heimatstadt Memel, entschieden wir uns für Hamburg.
Ich konnte nun nach Moskau fahren, um die drei Visa zu besorgen. Polnische Botschaft: Durchreise, DDR: Durchreise und Einreisepapiere von der westdeutschen Botschaft:. Am Vormittag kamen wir in Moskau an. Schnell hatten wir die Polnische und die DDR-Botschaft gefunden und die Visa beantragt und erhalten. Dann ging es in die Westdeutsche Botschaft. Auch da ging alles reibungslos vonstatten. Auf der Straße, auf dem Weg in unser Hotel, wurden wir aber von zwei Polizisten angehalten und höflich gebeten mit zu kommen. Wir folgten ihnen auch brav ohne zu fragen, warum. Wir wussten bereits von all den anderen Deutschen, dass jeder, der aus der Westdeutschen Botschaft kommt, zum Verhör mitgenommen wird! Etliche vor uns sind im zick zack durch Moskau gefahren, es hat ihnen aber nichts genutzt. Geschnappt wurde irgendwann jeder. Dazu funktionierte das System viel zu perfekt. Natürlich wurden wir einzeln verhört. Warum, wozu, weshalb ausreisen? Ob es uns denn hier nicht gefiele? Ob wir Arbeit, Wohnung oder sonst etwas brauchten? „Nein“, sagte ich. „Alles gut.“ Nur will ich mit meinem Bruder als Familie zusammen sein! So konnten wir nach einer Weile endlich unbehelligt raus und uns Moskau ansehen. Im größten Kaufhaus „GUM“ am roten Platz, kauften wir ein wenig ein. Dort gab es alles, aber auch alles zu kaufen. Dann standen wir am Kreml an, um Stalin und Lenin zu sehen, aber die Menschenschlange davor war uns zu lang, Es war alles voller Schnee bei klirrendem Frost. Mitte Februar ist in Moskau noch tiefster Winter und so wichtig waren uns die Kommunisten Herrscher auch wieder nicht. dass wir uns deswegen frostige Hände und Füße holen wollten. Also fuhren wir in unser Hotel zum Übernachten und am anderen Morgen mit dem Zug nach Memel wieder zurück.
Am 15. März 1960 stiegen wir nun in den Zug nach Wilna, der Hauptstadt Litauens. Das Flugzeug ging von dort nach Ost-Berlin, am Morgen des 18. März war es endlich soweit. Es war Mittagszeit zwölf Uhr. Knapp waren wir in die DDR-Propeller-Maschine gestiegen, zeigte die Uhr zehn Uhr Deutsche Zeit! Die Moskauer Zeit war zu Ende für uns und somit auch das russische Leben mit all seiner Angst, mit seinem Schrecken und den Verfolgungen. Wir waren in Freiheit und damit FREI! Für uns hatte der Krieg zwanzig Jahre gedauert.
Von Ost-Berlin fuhr uns ein Bus nach West-Berlin und von da ein Taxi zu Alfreds Bruder. Drei Tage darauf ging es mit dem Zug weiter zum Auffanglager „Friedland“. Dort läuteten die Glocken als wir eintrafen. Das tat man bei allen Neuankömmlingen, die aus dem fernen Osten kamen. Das war schon herzergreifend. Wir wurden alle ärztlich untersucht, bekamen neue Papiere und man wollte uns dann ins Rheinland umsiedeln. Doch mein Hamburger Bruder erschien im Lager und hatte Erfolg. Nun durften wir doch nach Hamburg. Ein ganzes Jahr wohnten wir im Lager Finkenwerder, bis wir hier nach Harburg kamen und eine Neubauwohnung erhielten. Schon gleich im April fing mein Mann an zu arbeiten. Beim Flugzeugbau in Finkenwerder, wo er auch bis zu seiner Pensionierung blieb – 38 Arbeitsjahre! In Memel baute er Funkanlagen in Schiffe ein, hier machte er dasselbe in der Pilotenkanzel verschiedener Flugzeugtypen.
1963 war der Winter auch hier in Hamburg sehr streng. Großer Frost und viel Schnee. Am 10. Januar war es besonders kalt. Die Fenster waren bis oben hin zugefroren. Es gab noch keine Thermopanescheiben und der Kachelofen in der Wohnung brannte den ganzen Tag. Da wurde unser letztes Kind Peter, am 10. Jan. 1963 in Hamburg geboren.
1965 hatten wir in unserer Wohnung zwei Mormonen Missionare mit aufgenommen. Sie wohnten bei uns ein ganzes Jahr zur Untermiete. Eine Freundin von mir hatte sie uns vermittelt. Sie hatte sie kennen gelernt und sich taufen lassen. 1968 hatten wir dann wieder einmal Missionare aufgenommen. Dieses mal für neun Monate. Es war eine schöne, fröhliche Zeit mit ihnen. Im November 1968 – ich war gerade 40 Jahre alt geworden, kam der Missionar, der bei uns zuletzt gewohnt hatte, aus Berlin zurück, wohin er versetzt worden war. Jetzt war er in Hamburg im Missionsbüro tätig. So kam er fast täglich um uns mit einem anderen Missionar zu besuchen und fing an uns zu missionieren und dass mit Erfolg! Am 20. Dezember 1968 wurden dann Roswita und ich getauft. Sigrid am 4. Januar 1969, als sie auf Weihnachtsurlaub aus dem Internat bei Mannheim, zu uns auf Besuch kam. Wir nahmen sie auch aus dem Internat heraus, denn sie hatte sowieso Heimweh nach Hause gehabt. Als Letzter wurde dann noch mein Mann am 10. Januar 1969 getauft. Es begann damals eine gute Zeit für uns. Wir hatten ein schönes Familienleben das so fünf Jahre anhielt. Mein Mann trank nicht mehr, aber später wurde es umso schlimmer mit ihm. Es war dann aber nicht mehr zu ertragen. Bis zur Scheidung 1984 betrank er sich jedes Wochenende!
thank you for sharing this peter. Your mother lived a wonderful life. Thank you for sending this history. I very much enjoyed reading it. Your family gave me man of my favorite lifetime memories. Hope you’re all well..