Selbongen, Ostpreußen
Mein Name ist Heinz Grühn; ich bin am 6. Januar 1934 in Selbongen geboren, und meine Eltern sind: Vater, Otto Grühn und Mutter, Anna Grühn, geborene Fischer. Ich glaube meine Eltern sind 1923 in Selbongen getauft worden, so ganz genau weiß ich das nicht.
Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ist in Selbongen durch meinen Onkel, Fritz Fischer, einen der Brüder meiner Mutter, entstanden. Er selbst hat eine Kaufmannslehre in Berlin angetreten, dort lernte er eine junge Frau kennen, die Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage war und ihn zur Kirche brachte. Er ist dann auf eine Mission gegangen, als er von dieser Kirchenmission zurück kam, hatte er in Berlin keine Arbeit und ist nach Selbongen zurückgekehrt. Dort fragte er zuerst seine Familie und auch die anderen Einwohner Selbongens, ob er eine Sonntagsschule mit den Kindern durchführen dürfe, um die Kinder im Evangelium zu unterrichten. Die Eltern der Kinder waren natürlich interessiert und begleiteten sie zur Sonntagsschule und fanden Gefallen und Glauben an den vermittelten Glaubensgrundsätzen, so dass viele von ihnen sich später taufen ließen. Auch die Eltern von Fritz Fischer haben sich dann später taufen lassen und ebenso die übrige Verwandtschaft und auch meine Eltern zählten zum Kreis derer, die sich taufen ließen.
Als Kind hatte ich nicht sehr viel vom Evangelium verstanden; doch ich hatte von jeher eine gute Verbindung zum Himmlischen Vater. Ich habe den Himmlischen Vater schon als Kind gesucht, in dem ich Ihn im Gebet fragte: Lieber Gott, wo bist Du, ich möchte Dich gerne kennen lernen. Er hat sich mir zu erkennen gegeben und mir immer wieder geholfen. Er hat mich nie allein gelassen. Und das Vertrauen und das Zeugnis, das ich von Ihm habe, haben mich nie verlassen. Im Rückblick erkenne ich auch, dass ich einiges in meinem Leben nicht richtig gemacht habe; doch auch hier hat der Himmlische Vater mir immer den Weg gezeigt, um die jeweilige Situation meistern zu können.
1929 hat Adolf Kruska – das ist ein Schwager meiner Mutter – ein Grundstück der Kirche zur Verfügung gestellt, auf dem dann ein Gemeindehaus gebaut werden konnte. Unter der Leitung von August Fischer, ein Bauunternehmer und Landwirt, ebenfalls einer von den Brüdern meiner
Mutter, konnte dann das Gemeindehaus durch Eigenleistung und Eigenmittel der dort ansässigen Mitglieder erstellt werden. Dieses Kirchengebäude wurde 1929 fertig gestellt und war das erste Kirchengebäude der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Europa.
Dies war auch die einzige Kirche in unserem Dorf; es gab keine andere Kirche. Die Menschen, die der evangelischen oder katholischen Kirche angehörten, mussten dann von Selbongen aus in den fünf Kilometer entfernten Ort Nikolaiken, mit dem Zug, mit dem Fahrrad oder mit dem Pferdefuhrwerk fahren. Aber die Selbonger sind dann sonntags zu uns in die Kirche gekommen und zwar das ganze Dorf. Zu Weihnachten am Heiligen Abend hatten wir dann immer eine Weihnachtsfeier ausgerichtet, die etwa zwei bis zweieinhalb Stunden dauerte, und es kamen so viele Menschen, dass das Gemeindehaus fast aus allen Nähten platzte.
Ich selbst bin dann mit acht Jahren getauft worden. Mein Vater war Waldarbeiter, und er hat vom Bruder oder der Schwester meiner Mutter ein altes Haus gekauft und es dann völlig neu gestaltet. Es war so gelegen, dass wir es von dort aus nicht weit zur Kirche hatten, wir brauchten nur schräg über die Straße zu gehen und waren dann auch schon im Gemeindehaus.
Ich habe noch vier Geschwister, noch zwei Brüder und eine Schwester. Die älteste Schwester ist Gertrud, verheiratete Todebusch in Dortmund, und der ältere Bruder ist Gerhard. Er ist kein Mitglied, er ist ausgeschlossen worden, er lebt heute in einem Altersheim und ist dem Alkohol verfallen. Dann habe ich noch einen Bruder Siegfried Grühn, der wohnt und lebt in Lübeck. Dann sind da noch zwei weitere Geschwister: Herta und Kurt, die aber als Kleinkinder verstorben sind.
Vom Krieg selbst haben wir in Selbongen bis 1944 – 1945 nicht sehr viel mitbekommen. Zu dem Zeitpunkt war in der Kreisstadt einmal eine Bombe gefallen. Von der Zeit an wurden wir auch von der Schule aus verpflichtet, auf den Kartoffelfeldern beim Ernten, die Kartoffeln zu sammeln. Dabei sahen wir, wie ein feindliches Flugzeug in der Nähe von Nikolaiken abgeschossen wurde, und wir hörten den heulenden Ton des abstürzenden Flugzeugs und anschließend den Aufprall. Das war das Einzige, was wir miterlebt haben. Als dann die letzten deutschen Soldaten auf dem Rückmarsch durch unser Dorf zogen, empfahlen sie uns, dass wir uns doch aus Sicherheitsgründen lieber außerhalb des Dorfes auf den großen Höfen sammeln sollten. Aber wir mussten zwischendurch immer wieder ins Dorf, um das Viehzeug zu versorgen.
Mein Vater ist nie beim Militär gewesen. Er hatte sich als kleines Kind den linken Arm verbrüht, und der Heilungsprozess ist so ungünstig verlaufen, dass er in der Bewegung sehr eingeschränkt war und somit untauglich für die Wehrmacht. Jedoch 1940 hat man ihn dann zur Polizei eingezogen. Der Grund dafür war, bei uns gab es große Güter, und dort waren Kriegsgefangene untergebracht, um dort die anfallenden Arbeiten zu verrichten. Vater musste diese Gefangenen betreuen und beaufsichtigen. Das hatte zur Folge, dass wir unseren Namen von Grzybienski auf Grühn ändern mussten, weil Grzybienski sehr polnisch klingt, alles, was mit ska und ski endete, wurde als polnisch eingestuft. Die meisten Kriegsgefangenen waren Polen, aber es gab auch Russen.
Mein Vater ist dann 1945 in den Westen nach Iserlohn im Sauerland geflohen, weil es für Aufsichtspersonen und Polizisten gefährlich war, dort weiterhin unter den Polen und Russen zu leben, die jetzt dort die Regierungsgewalt hatten. Der deutsche Bürgermeister des Dorfes, ein Bauer, der auf seinem großen Hof ebenfalls Kriegsgefangene beschäftigt hatte, die auch nicht immer, wenn sie aufmüpfig waren, ganz sanft behandelt wurden; ist nach Kriegsende von denselben Gefangenen, die jetzt als polnische Miliz zurückgekommen waren, verschleppt worden, und man hat nie wieder etwas von ihm gehört.
Wir aber wussten nicht, wo mein Vater war bis 1947, da bekamen wir Post von ihm. Meine Mutter, meine Geschwister und ich, sind dann am 20. August 1947 mit einem Gütertransport, aus Seilbongen in den Westen. Das Ganze in einem Güterwagon mit ein wenig Stroh auf dem Boden, mit 31 Personen zusammen gepfercht, von Russen Tag und Nacht bewacht und verpflegt. Das war der erste Transport, der raus ging.
Im Dorf lebte bei einer Familie Fladda, ein Weißrusse, der aber nicht wie ein Gefangener behandelt wurde, sondern wie ein eigener Sohn. Er konnte sich völlig frei bewegen, aß mit der Familie am selben Tisch und unterlag keinen Einschränkungen, weder im Dorf noch auf dem Feld. Als die Russen ins Dorf einrückten und es besetzten, haben sie diesen noch im Dorf lebenden Russen im Januar 1945 festgenommen, ihn auf einen Schlitten gefesselt, durchs Dorf geführt und anschließend verhört. Sie fragten ihn: „Warum bist du nicht geflüchtet, als du die Möglichkeit dazu hattest“? Und er antwortete ihnen: „Nein, warum sollte ich, ich wurde wie einer der ihren behandelt, wurde geachtet und konnte mich überall frei bewegen und hatte keinen Grund zu flüchten. Außerdem war die Gefahr sehr groß, auf der Flucht erschossen zu werden“. Danach stellte sich auch noch heraus, dass es sein eigener Bruder war, der ihn gefangen genommen und verhört hatte. Doch nach Beendigung des Verhörs wurde er dann frei gelassen.
In der Dorfmitte, lebte ein Bauer, der auch Kriegsgefangene auf seinem Hof hatte, diese aber nicht immer fürsorglich behandelt hatte, und die Russen hatten davon erfahren. Als die Russen dann auf den Hof kamen, lag der Bauer in seinem Bett. Als erstes wollten sie ihm seine Taschenuhr abnehmen, aber als der Bauer dies nicht zulassen wollte, haben sie ihn erschossen. Seine Frau ist daraufhin weggelaufen und zwar über einen der drei zugefrorenen Seen, die um unser Dorf lagen und hat sich dann ganz in der Nähe von uns im Bienenwinterlager des Bauern, bei dem wir waren, versteckt. Die Russen haben die Frau verfolgt und kamen so zu dem Bauernhof, auf dem wir waren. Doch wir konnten den Russen nur sagen, dass die Frau nicht hier sei, weil wir ja auch nicht wussten, dass die Frau sich im Bienenwinterlager des Bauern versteckt hatte. Die Russen glaubten uns aber nicht, schossen erst einmal in die Decke des Raumes, in dem wir waren und wollten uns dann alle mit einer Handgranate töten. Doch der Weißrusse, der zuerst von den Russen gefangen genommen worden war, wusste, dass die Familie Fladda, bei der er gelebt hatte, ebenfalls unter uns war.
So kam es, dass er genau zu diesem Zeitpunkt, als die Russen die Absicht hatten, uns zu töten, mit Pferd und Kutschwagen, im Frack und mit Zylinder auf den Hof kam, um sich von uns, aber vor allem von seiner Familie Fladda zu verabschieden. Er fragte die Russen, natürlich auf Russisch, was ist hier los? Sie berichteten ihm daraufhin den Vorfall, woraufhin er zu ihnen sagte, wenn diese Leute sagen, diese Frau ist nicht hier, dann könnten sie es mit Sicherheit glauben; denn er hätte es selbst erfahren, diese Menschen würden nicht betrügen, und er wäre immer gut von ihnen behandelt worden. Durch die Aussage dieser Person, die von einer Familie unseres Dorfes gut behandelt wurde, wurden wir verschont und nicht getötet. Es wurden durch die russische Armee auch einige verschleppt und vergewaltigt. Auch meine Schwester wurde verschleppt. Auch mein Bruder wurde mitgenommen, um den Viehtransport zu begleiten. Beide kamen später wieder zu uns zurück.
Wie schon erwähnt, 1947 sind wir dann in den Westen nach Wolfen, von da aus sind wir dann nach Iserlohn zu meinem Vater, um als Familie wieder zusammen zu sein. Meine Schwester heiratete dann nach Dortmund. Mein älterer Bruder war lange Zeit Junggeselle, und mein jüngerer Bruder heiratete ebenfalls und zog nach Lübeck.
In Iserlohn gab es keine Gemeinde der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Wir mussten, um die Versammlungen zu besuchen, nach Dortmund fahren. Mein Vater war mit 50 Jahren schon Invalide, und unsere finanzielle Situation war so, dass wir es uns einmal im Monat erlauben konnten, die Versammlungen zu besuchen. In Dortmund selbst gab es auch noch kein eigenes Kirchengebäude, aber es waren Schulräume für die Versammlungen angemietet worden.
Im Dezember 1955 habe ich geheiratet und bin dann im Januar berufsbedingt nach Aachen gezogen. In Aachen haben wir dann von 1955–1973 gelebt.
Mit Präsident Benson gab es leider nur eine Versammlung, da die Polen uns große Schwierigkeiten machten. Der Michael Fischer, der zu der Zeit Zweigpräsident in Selbongen war, wohnte in Nikolaiken und man hatte mich und den Dieter Piatrowski gebeten, meinen Onkel von Nikolaiken zu holen, wir hatten noch keine Fahrräder und mussten die fünf Kilometer zu Fuß laufen. Doch als wir dort ankamen, war Präsident Benson mit einem Jeep bereits dort eingetroffen. Dieses hatte man uns aber nicht gesagt. Wir konnten mit dem Jeep nicht zurückfahren und mussten so auch die ganze Strecke wieder zu Fuß bewältigen und wurden unterwegs auch noch von Polen beschossen. Wir mussten uns verstecken und Schutz im Straßengraben suchen. Als wir in Selbongen ankamen, war die Versammlung zu Ende.
Aber noch zu Präsident Benson, er hat alle Namen der Mitglieder und Nichtmitglieder auf Listen erfassen lassen und ihre Umsiedelung in den Westen von den polnischen Behörden erwirkt, so dass alle ausgesiedelt werden konnten. Als Präsident Benson am nächsten Tag nach Warschau fuhr, fingen die Mitglieder an zu zweifeln und fragten sich, wo sie im Westen wohl hinkommen würden und was mit ihnen geschehen würde. Sie sagten sich: Hier haben wir ein Zuhause, ein Dach über dem Kopf, etwas zum Essen und können uns durch die Landwirtschaft erhalten. Eigentlich verhielten sich die Menschen hier so wie damals die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten. Sie hatten kein Vertrauen in den Herrn. Es gab doch einige, die diesen Einflüsterungen des Widersachers nachgaben und dort blieben. Doch viele hatten einen starken Glauben und waren voller Zuversicht und zogen mit in den Westen.
Aber was ich noch berichten wollte: Ein oder zwei Monate, nachdem Präsident Benson nach Amerika zurückgekehrt war, bekamen wir einen ganzen Güterwaggon voll Hilfsgütern aus Amerika. Wir mussten die Sachen per Handkarren von Hofebeck vom Bahnhof abholen, weil in Nikolaiken die Bahnbrücke zerstört worden war.
Auch in Iserlohn und in Dortmund haben wir viel Gutes durch das Wohlfahrtsprogramm der Kirche gehabt. Es gab auch viele Taufen zu diesem Zeitpunkt, ausgelöst durch das Wohlfahrtsprogramm. Aber als das Programm auslief, blieben auch viele der Neugetauften der Kirche wieder fern. Das waren die so genannten „Büchsen–Mormonen“
Deutsch-Österreichische Mission: Eine Kapelle unsrer Kirche in Selbongen eingeweiht
Der 14. Juli 1929 war für Selbongen ein viel bedeutender Tag; denn an ihm konnte man die dem Herrn errichtete Kapelle einweihen. Am 27. April 1929 hatte man unter Leitung von Bruder August Fischer auf dem der Kirche von Bruder Adolf Kruska geschenkten Landstuck den Grundstein für den Bau dieses Versammlungshauses gelegt. 600 Personen wohnten der Handlung bei. Und in der kurzen Zeit von 2½ Monaten war mit der Unterstützung der Mission und der Mitglieder der Bau vollendet. Der 14. Juli 1929 wurde mit einer Priesterschafts-Versammlung eingeleitet. Um 10 Uhr fand sodann die Sonntagsschule statt, in der von den Schülern ein gutes Programm gegeben wurde. 207 Personen besuchten diese Versammlung und erfreuten sich eines Geistes — „gleich Feuer und Flammen“.
Zur eigentlichen Einweihungsfeier versammelten sich die Teilnehmer um 2 Uhr nachmittags. Missionspräsident Valentin e weihte das Haus mit einem inbrünstigen Gebet zur Freude der Mitglieder ein. Der Geist des Herrn ruhte in reichem Maße auf der Versammlung, und Ihr Opfer wurde anerkannt. Auf 163 Personen belief sich die Zahl derer, die sich zur Einweihungsfeier eingefunden hatten. Im Verlaufe des Nachmittags wurde auch in einem der schönen Masurischen Seen eine Taufe abgehalten, durch welche zwei Seelen sich der Kirche anschlossen.
Nachdem fand eine Missionarversammlung statt, zu der außer den Missionaren des Königsberger Distrikts auch noch Präsident Wayland Hand, entlassener Distriktpräsident von Weimar. Präsident William Mottet vom Schneidemühler Distrikt, sowie Bruder Kurt Schulzke, der in seine Heimat zurückreiste, anwesend war. Auch die Abendversammlung war von dem Geiste des Tages getragen, und verschiedene Brüder bekamen Gelegenheit ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Zur Verschönerung aller Versammlungen trug der Chor viel bei. Auch der aufopfernden Liebe der Selbonger Geschwister soll an dieser Stelle besonders gedacht werden. Es war ein ereignisreicher Tag, der nicht so schnell in Vergessenheit geraten wird.
Hallo Herr Grühn,
mein Name ich Detlef Grüber und ich suche nach meinen Vorfahren, väterlicherseits kommen sie aus dem Kreis Sensburg und hießen früher Grzybi(e)nski. Möglicherweise können Sie mir Hinweise auf meinen Großvater und Urgroßvater (beide mit Vornamen Gottlieb) und deren Ehefrauen geben. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich über meine o.a. Emailadresse kontaktieren würden.
Viele Grüße
Detlef Grüber