Moshi, Tanzania, Afrika
Ich heiße Vera Grünauer, geborene von Hill. Ich bin am 20. August 1937 in Moshi, Tansania Geboren. Der Name meines Vaters ist Heinz Hilmar von Hill, verheiratet mit Jelka von Sedlar. Sie war eine Österreicherin, kam damals aber aus Sarajewo. Mein Großvater war ein K.u.K [kaiserlich und königliche] Pionieroffizier, ein Ingenieur in der österreichischen Armee.
Mein Vater ist 1928 nach Afrika ausgewandert. Er war von Beruf Landwirt. Er hatte aber kein Land, und er wollte eine Frau heiraten, die auch kein Land hatte. Deshalb ist er nach Afrika gegangen. Dort hatte er sich Land gekauft und wollte eine Kaffeeplantage errichten. Es hat sich dann aber in den ersten 2-3 Jahren herausgestellt, dass Kaffee dort nicht wächst. Der Boden war durch einen früheren Flusslauf verseucht und salzhaltig, und es wuchst dort nichts. Sie haben dann Mais angebaut; aber dann kamen die Heuschrecken. Daraufhin hat mein Vater gesagt: „Jetzt bin ich kein Landwirt mehr, jetzt verkaufe ich Autos.” Er hat dann bei der Ford-Niederlassung in Mosche gearbeitet. Dann kam der Krieg, und die Briten haben alle Deutschen in Lagern interniert. Die Frauen kamen in ein Lager nahe bei Mosche, und die wehrtüchtigen Männer kamen auf eine Insel vor Ost-Afrika. Ich weiß leider den Namen der Insel nicht mehr. Dort sollten sie alle für die Zeit des Krieges sein, damit sie sich nicht der deutschen Armee anschließen konnten.
Dann hieß es aber auf einmal, es gäbe zwei italienische Schiffe, und wer wolle, der könne damit nach Europa fahren. Meine Eltern konnten sich untereinander verständigen und haben entschieden, nicht im Lager zu bleiben, sondern nach Europa zu fahren. So haben sie diese Gelegenheit genutzt und sind jeder mit einem kleinen Köfferchen, denn man durfte nicht viel mitnehmen, nach Europa, und zwar in die Heimat meines Vaters gefahren. Wir waren vier Kinder; ich bin das jüngste Kind.
In der Heimat meines Vaters, das ist im ehemaligen West-Preußen, hat mein Vater dann eine Anstellung im Elektrizitätswerk in Bromberg als kaufmännischer Leiter gefunden. So haben wir dann die Kriegsjahre in Bromberg gelebt. Mein Vater wurde dann zum Militär eingezogen. Er hatte sich zwar mehr oder wenig freiwillig gemeldet, als er merkte, dass die Russen immer näher rückten. Er wollte sein Vaterland verteidigen. Sie haben ihn dann zu einer Einheit geschickt, wo er Soldaten ausbilden sollte. Doch er hat gesagt: „Um mein Vaterland zu verteidigen muss ich selber etwas tun. Ich will kämpfen.” Daraufhin haben sie ihn nach Warschau versetzt. In Warschau musste er dann diese Judentransporte überwachen, und das war eine Aufgabe, die ihm überhaupt nicht gefiel!
Während eines Urlaubs hat er einmal zu meiner Mutter gesagt, dass es ganz schrecklich sei, was dort passiere; dass die anderen Kameraden, die dort sind, völlig verrohen und ganz schreckliche Witze erzählen und dass er dort nicht mehr bleiben könne noch wolle. Er ist dann zu seinem Vorgesetzten gegangen und hat gesagt: „Ich mache diese Arbeit nicht mehr.” Da wurde ihm aber gesagt: „Sie müssen!” Und er hat geantwortet: „ Ich tue es aber nicht mehr!” Die früher geplante Arbeit war nicht in einem Konzentrationslager; sondern es ging damals nur um Transporte. Ihm wurde dann gesagt: „ Sie wissen aber, was das für sie bedeutet; denn ich kann sie nur dadurch davon entbinden, indem ich sie von hier direkt an die Front schicke. Sie müssen nach Stalingrad.” Meine Eltern haben natürlich verstanden, was das heißt. Denn das war die Front, an der so viele Soldaten gestorben sind. Sie waren dort nichts Anderes als Kanonenfutter. Aber die Alternative wäre ein Kriegsgericht gewesen, und das wäre für die Familie auch gefährlich geworden. Er ist dann an dir Front gefahren.
Ich kann mich noch an seinen letzten Besuch erinnern. Er ist mit uns Schlitten gefahren, und wir hatten viel Freude miteinander. Doch als er wieder abreisen musste und wir ihn zum Bahnhof brachten, ich war damals noch klein, sechs Jahre alt und einfach fröhlich, dass mein Papa da war, da hat meine Mutter geweint. Und das hat mich ganz eigenartig berührt. Ich hatte meine Mutter noch nie weinen sehen. Ich habe immer gedacht: „Meine Mutter ist stark. Sie ist eine Frohnatur, und sie kann mich immer stützen und trösten. Und jetzt weint sie.” Wir sind dann nach Hause gegangen. Und als Kind, das ich war, habe ich dieses auch wieder vergessen. Aber in demselben Winter hat meine Mutter dann keine Post mehr bekommen, und Weihnachten war sehr still. Nach Weihnachten kam ein Mann und läutete bei uns. Er sagte, er heiße Hill. Er war aber kein Verwandter von uns. Er sagte dann: „Ich habe Post bekommen, und diese betrifft mich nicht, weil niemand mit diesem Namen bei uns bekannt ist. Aber ich habe nachgeforscht und herausgefunden, dass die Post für Sie ist.” Meine Mutter hatte dann schon gesehen, was das für eine Post war. Es war der Bescheid, dass mein Vater gefallen war. Er ist innerhalb von fünf Tagen, die er dann an der Front war, gefallen. Der Post hatte man auch den Ehering beigelegt. Meine Eltern hatten unter einander ausgemacht, dass sie den Ring nur hergeben würden, wenn es zu Ende war. Von da an, das war Weihnachten 1944, waren wir allein. Dann begann das Jahr 1945, und nach den Weihnachtsferien fing die Schule nicht wieder an.
Es hieß: „Die Schulräume können nicht geheizt werden. Die Ferien werden verlängert.” Meine Mutter hat uns Kinder dann zu den Verwandten meines Vaters auf deren Rittergüter geschickt, die in West-Preußen lagen. So hat unsere Mutter uns alle auf die verschiedenen Verwandten meines Vaters verteilt. Am einundzwanzigsten Januar war meine Mutter auf eines der Güter zu meiner älteren Schwester gefahren, die an diesem Tag Geburtstag hatte. Dort hat mein Onkel ihr dann gesagt, er habe Nachricht erhalten, dass alle Deutschen den Korridor (so wurde West-Preußen genannt) verlassen müssten. Darauf sagte meine Mutter: „Zuerst will ich alle meine Kinder zusammen holen.” Doch mein Onkel sagte, dass dafür jetzt keine Zeit sei. Es wurde ein Bote nach Konopat, das war das Gut auf dem wir beiden jüngeren Schwestern waren, mit der Botschaft gesandt, dass wir sofort aufbrechen müssten und zu dem Gut nach Premin reisen müssten, wo unsere Mutter uns zusammen rief. Der Krieg würde zu Ende gehen, und wir müssten fliehen.
Wir haben natürlich nicht verstanden, was das alles bedeutet. Aber wir wurden in einen Schlitten warm verpackt und fuhren im Eiltempo zu dem Rittergut, auf dem unsere Mutter war. Wir, meine Mutter und wir drei Schwestern sind dann noch am selben Tag aufgebrochen, um zu dem Rittergut zu fahren, auf dem mein Bruder war, der zu der Zeit vierzehn Jahre alt, und der älteste von uns war. Dort war ein Bahnanschluss, von dem aus wir nach Bromberg zurück fahren wollten. Als wir dann am Morgen im Zug saßen und losfuhren, hielt der Zug, nach dem wir wenige Kilometer gefahren waren, wieder an, und es hieß: „Wir könnten nicht weiterfahren, die Bahngleise sind bombardiert worden.” Meine Mutter müsse aber nach Bromberg. Außerdem hatte sie die Verantwortung für ihre vier Kinder und eine alte Frau, für die sie ebenfalls Verantwortung übernommen hatte. Dann hieß es, sie könne für Geld mit einem der zwei zur Verfügung stehenden Fuhrwerke nach Bromberg fahren. Meine Mutter entschied sich dann, alleine mit dem Fuhrwerk nach Bromberg zu fahren und uns mit dem Zug zurück zum Rittergut zu unserer Tante zu schicken. Meine älteste Schwester versuchte noch, sich dagegen zu wehren und meinte an unsere Mutter gewandt: „Du kannst uns doch nicht alleine lassen!” Doch sie sagte: Ich hole die alte Frau und dann treffen wir uns wieder. Und wir gehen gemeinsam auf die Flucht.” Doch als das Fuhrwerk, auf dem unsere Mutter saß, losfahren wollte, da brach die Deichsel, und das Fuhrwerk war nicht mehr benutzbar.
Alle sollten dann auf das andere Fuhrwerk umsteigen. Doch meine Mutter sagte sich: „Nein, ich gehe nicht auf das andere Fuhrwerk. Der Vater im Himmel hat mir ein Zeichen gegeben, dass ich nicht mit dem Fuhrwerk fahren soll.” Wir sind dann alle zurück zu meiner Tante gefahren, und die hat uns dann mit auf die Flucht genommen. Von dem Gut oder von dem Dorf wurden dann so und so viele Pferdewagen zu einem Treck zusammengestellt. Und so ist man dann in einer Gruppe auf die Flucht gegangen. So haben wir uns auf den Weg in den Westen begeben. Unterwegs konnten wir uns einer Wehrmachtskolonne anschließen, die auch eine Gulaschkanone mit sich führte. Wir haben es dann bis Stettin geschafft, ohne das es uns richtig schlecht gegangen ist. In Stettin hat meine Mutter gesagt: „Ich will nach München, dort habe ich einen Bruder.“
Wir sind dann mit dem Zug über Berlin nach München gereist. Die Tante hatte uns in zwei Säcken Betten, Silberbestecke und weitere Dinge, von denen sie meinte, dass wir sie brauchten hinein gesteckt. Außerdem hatten wir von ihr warme, mit Fell gefütterte Mäntel bekommen. Wir mussten häufiger umsteigen oder die Züge hielten auf freier Strecke. Dabei war die Gefahr sehr groß, dass wir voneinander getrennt würden. Es war nicht so einfach, dass alle fünf beisammen blieben und eine Trennung durfte auf gar keinen Fall passieren. Unsere Mutter hatte ganz streng von uns gefordert, dass wir ganz eng beieinander bleiben sollten. Die beiden großen Kinder, die Annemarie und der Hans-Hubertus, die mussten zusammen hinterher gehen, da wir nicht alle in einer Reihe gehen konnten und durften die Mutter nicht aus den Augen verlieren. Die Mutter hatte auch noch besonders betont: „Lasst niemanden dazwischen, ihr müsst auch, wenn es erforderlich ist, euch mit den Ellenbogen Platz verschaffen, so dass ihr immer direkt hinter mir bleibt. Denn wenn wir getrennt werden, finden wir einander nicht wieder.”
Zu der Zeit hat die deutsche Wehrmacht die Züge noch kontrolliert und betreut. Und wenn sie sahen, dass eine Mutter mit mehreren Kindern unterwegs war, hat man ihr einen besonderen Schutz zuteilwerden lassen. Meine Mutter hatte das sehr schnell erkannt und immer gleich erwähnt: „Ich bin eine Mutter mit vier Kindern.” Dann wurde ihr immer gleich geholfen. So sind wir dann zuerst nach Berlin gekommen. Dort gab es ein besonderes Erlebnis, von dem ich gerne berichten möchte.
In Berlin war es damals so, dass, wenn man dort ankam und in eine andere Richtung weiter fahren wollte, man mit der Stadtbahn zu einem anderen Bahnhof fahren musste, von wo aus die Züge in die Richtung, in unserem Fall Richtung Süden, dann weiter fahren würde. Wir sind also in Berlin angekommen, und es hieß: „Es fährt kein Zug, keine Untergrundbahn, einfach nichts. Es ist Fliegeralarm, und es ist kein Luftschutzbunker mehr zu haben oder zu erreichen.” Wir müssten also auf dem Bahnhof bleiben oder sogar dort übernachten, bis ein Anschlusszug wieder fährt. Meine Mutter hatte aber erkannt, dass das sehr gefährlich war. Es war strenger Winter, und die Kinder könnten erfrieren. So hat sie unsere große Schwester neben uns gesetzt und ihr gesagt: „Du musst den Kleinen immer Geschichten erzählen. Sie dürfen nicht einschlafen.” Mit meinem Bruder ist sie dann losgegangen, um etwas zu finden, wo wir dann doch noch Unterkunft haben könnten.
Dabei trifft sie einen Mann. Er hat einen Leiterwagen, und er fragt sie, ob sie Hilfe brauche, und sie sagt: „Ja!” Sie erzählt ihm, was ihr Problem ist. Er sagt: „Hier, nehmen Sie den Leiterwagen und laden ihr Gepäck auf. Ich werde hier außerhalb der Bahnschranke auf Sie warten. Sie können dann mit mir nach Hause kommen und bei mir übernachten.” Meine Mutter hat uns dann geholt, und wir sind mit ihm zu seinem Wohnplatz gegangen, wo es schön warm war. Er hat uns Eierkuchen gebacken, und wir durften baden. Das war wie das Paradies für uns. Wir haben dann lange bis in den Morgen geschlafen, und am frühen Abend hieß: „Es gibt jetzt einen Zug in Richtung München. Wir müssen aufbrechen.” Ich kann mich noch erinnern, dass ich zu meiner Mutter sagte: „Warum müssen wir hier weg? Hier ist es doch schön.” Doch sie erklärte mir, dass der Mann uns nicht immer hier behalten könnte. Später hat sie mir dann erzählt, dass sie den Mann gefragt hatte, wie er dazu gekommen sei, sie zu fragen, ob sie Hilfe benötige. Wir hatten auch gesehen, dass alle Häuser ringsherum zerbombt waren, nur dieses eine Haus stand noch dort. „Wissen sie, ich bin so beschützt. Schauen sie sich um, alles ist zerbombt, mein Haus steht. Ich habe noch eine warme Wohnung, und ich denke mir, es ist meine Pflicht, anderen zu helfen.” Er fügte dann noch hinzu, dass er jeden Abend nach dem Fliegeralarm heraus gehen würde um zu sehen, ob jemand Hilfe benötige. Und diesmal waren wir es.
Wir sind dann wieder mit dem Zug gefahren und schließlich in Tegernsee gelandet, wo mein Onkel war. Der hatte aber keine Wohnung, sondern nur ein Zimmer. Die Frau, bei der er dieses Zimmer hatte, konnte uns auch nicht aufnehmen. Meine beiden älteren Geschwister sind dann in so genannte KV-Lager gekommen, das waren Lager von der Hitlerjugend oder BDM [Bund deutscher Mädchen]. Aber wir zwei Kleinen waren noch keine zehn Jahre alt und dafür zu jung. Doch in der Nähe gab es ein Kinderheim. Die Frau, bei der mein Onkel sein Zimmer hatte, hat mit dem Kinderheim telefoniert und der Heimleitung die Situation meiner Mutter geschildert. Aber sie bekam zur Antwort: „Nein, wir haben überhaupt keinen Platz.” Sie hat dann überlegt und gesagt: „Mein Nachbar, der fährt Kohlen aus, ich werde mit ihm reden. ”Dieser Nachbar hat nach dem Gespräch mit der Zimmervermieterin meines Onkels bei dem Kinderheim angerufen und gefragt: „Und Sie haben keinen Platz für diese beiden Flüchtlingskinder?” Und man sagte auch ihm, es wäre kein Platz für diese beiden Kinder, woraufhin er antwortete: „Ich denke, dann habe ich das nächste Mal auch keine Kohlen für Sie.” Dann meinte man: „Ja, wir können sie noch in einer Wäschekammer unterbringen.“ Wir haben dieses Angebot auch angenommen.
Es wurde dann April und das Ende des Krieges war jetzt wirklich abzusehen. Meine Mutter hat auch jetzt wieder die Initiative ergriffen. Und bevor die Lager aufgelöst wurden, hat sie Verbindung zu entfernten Verwandten aufgenommen. Sie war zu ihnen gefahren, hatte um Hilfe gebeten und sie auch erhalten. Sie hat sich auch bei der deutschen Wehrmacht gemeldet und dort erklärt: „Ich bin eine Kriegswitwe mit vier Kindern. Sie sind alle in Heimen verteilt. Und ich will mit meinen Kindern eine Unterkunft. „Wo sollen wir ihnen eine Unterkunft beschaffen? Es ist alles zerbombt.” Doch meine Mutter sagte: „Ich will gar nicht in die Stadt, sondern ich möchte aufs Land. Sie können uns ins aller letzte Dorf schicken; aber auf das Land möchte ich.” So sind wir dann in ein ganz kleines Dorf hinter Rosenheim bei Wasserburg am Inn angekommen. Dieses Dorf hatte nur sechs oder sieben Häuser. Dort gab es bei einem der Bauern ein so genanntes Altenteil, auf dem die Bauern wohnten, nachdem sie den Hof ihrem Nachfolger übergeben hatten.
Unten in diesem Gebäude, befanden sich der Hühnerstall und der Raum mit dem Backofen. Oben hatten wir zwei Räume, die uns zur Verfügung gestellt wurden. In einem der Räume war ein Herd. Das Wasser mussten wir uns mit dem Eimer nach oben tragen. Der Grund, warum meine Mutter auf das Land wollte, war, dass Tegernsee ein reines Touristengebiet war. Es gab dort überhaupt keine Landwirtschaft. Wenn der Krieg zu Ende sein würde und alles zusammengebrochen, dann würde eine Hungersnot ausbrechen. Wir wären dort am Tegernsee verhungert.
Unsere Mutter hatte uns darauf hingewiesen, wir dürften auf gar keinen Fall hochmütig sein. Wie die Bauern dort auch sein mögen, wir müssten bereit sein, zu helfen. Die ältere Schwester musste Gänse und Kühe hüten. Aber wir Kleineren konnten noch nicht viel tun. Aber meine Mutter konnte ein wenig nähen. Sie ist zu den Bauern gegangen und hat gefragt, ob sie eine Nähmaschine hätten. Sie könne nähen, und man hat ihr eine geliehen. Alle haben etwas zum Nähen gebracht und uns dann mit Naturalien für das Nähen bezahlt. Eine ehemalige Schulfreundin meiner Mutter hatte ihr auch später noch eine Nähmaschine geschenkt. So sind wir dann über das Kriegsende hinweg gekommen. Obwohl es uns nicht immer rosig gegangen ist, wirkliche Not haben wir eigentlich nicht gelitten.
Wir waren sehr an Nachrichten interessiert. Später bekamen wir dann auch ein Radio. Ich habe es gerne angehört. Und mittags nach den Nachrichten waren immer diese Vermisstenmeldungen. Jedes Mal, wenn ich diese gehört habe, wurde mir bewusst, wie tüchtig doch meine Mutter war und verhindert hat, dass wir auseinander gerissen worden sind. Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, und es hat mich lange bewegt. Wir haben in diesem Ort vier Jahre gelebt. Mein Bruder hat bei den Bauern als Knecht gearbeitet. Meine ältere Schwester wurde von einer Gärtnerfamilie in Stuttgart aufgenommen. Dieser Familie war durch den Krieg kein großer Schaden zugefügt worden. Aus Dankbarkeit dafür, dass ihre drei Töchter und die Gärtnerei keinen Schaden genommen hatten, haben sie ein Flüchtlingskind aufgenommen. Das war meine Schwester, die von dort aus, die höhere Schule besuchen konnte.
Wir anderen sind in die Dorfschule gegangen, aber nicht in Irelham, wo wir wohnten, sondern in dem Nachbarort Wang. Als es so weit war, dass auch wir in die höhere Schule gehen konnten, hat meine Mutter für meine Schwester Jutta, die ein wenig älter war als ich, eine Möglichkeit gefunden, dass sie bei einer Familie unter der Woche übernachten konnte, um von dort aus die höheren Schule zu besuchen. Als ich dann in dem Alter war, gab es dort zwei höhere Schulen. Ich erinnere mich noch, ich hatte mein schönstes Kleid angezogen und bin mit meiner Mutter zu diesen beiden Schulen gegangen. Aber keine hat mich aufgenommen. Es gab dort auch keine Unterkunft für mich. Ich erinnere mich noch, als wir so am Inn entlang gingen, merkte ich, dass meine Mutter mit den Tränen kämpfte. Und ich auch. Aber ich wusste genau, wenn ich weinen würde, dann könnte meine Mutter ihre Tränen auch nicht mehr zurückhalten. Und ich habe mich dann überwunden. Doch meine Mutter hat mir später erzählt, dass sie auch so gedacht hatte. Wir sind dann weiter am Inn entlang gegangen, und sie sagte zu mir: „Wir werden einen Ausweg finden, der liebe Gott wird uns schon einen Weg aufzeigen.”
Es wurde auch einen Weg gefunden: Eine ehemalige Nachbarin, deren Eltern in Hamburg ansässig waren. Sie hatte eine Wohnung, und weil sie selbst krank und leidend war, hatte man ihr ein weiteres Zimmer für eine Haushaltshilfe zugestanden. Sie hat es dann so eingerichtet, dass das Dienstmädchen bei den Kindern schlief. So konnte meine Mutter das Dienstmädchen-Zimmer haben. Weil meine Mutter jetzt einen Wohnplatz nachweisen konnte, war es ihr möglich, mit einem Kind in Hamburg (Englische Zone) Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.
Aber sie konnte nur mit einem Kind in Hamburg leben. Mein Bruder ist in Irlham geblieben, meine Schwester in Stuttgart, die Jutta bei meiner Mutter, und ich durfte zu dem Onkel nach Niedersachsen gehen, der selbst keine Kinder hatte und ein Jahr bei ihm wohnen. In einem Nachbarort gab es einen Grafen Grothe, mit einer Tochter in meinem Alter. Sie hatte Privatunterricht an dem ich teilhaben durfte. Die Eltern waren froh, dass das Mädchen Gesellschaft hatte. Nach diesem Jahr bei meinem Onkel durfte meine Mutter ein weiteres Kind zu sich nehmen. In Hamburg habe ich dann bis 1956 gelebt. Ich hatte schlechte Zeugnisse und wollte die Schule unbedingt verlassen. Meine Mutter hat es mir schließlich erlaubt. Ich bin dann für ein Jahr nach England als Au pair Mädchen gegangen, um Englisch zu lernen. Danach wollte ich nach Frankreich gehen. Dort würde ich Französisch lernen, um dann vielleicht eine Fremdsprachenkorrespondentin zu werden.
In England habe ich dann meinen ersten Mann, Mustafa Zaidi, kennen gelernt. Er kam aus Pakistan und war ein pakistanischer Beamter vom Secret Service, der in England nur zu einer Schulung war. Ich bin dann nach Sialkot in Pakistan gereist, wo mein Mann stationiert war. Dort haben wir dann auch im Jahr 1957 geheiratet. Mein Mann war ein Civil Servant im höheren Dienst. Daraus ergab es sich, dass wir immer wieder versetzt wurden und er dann in dem jeweiligen Distrikt die Leitung hatte. Es war immer so, dass ich mit in die Leitung eingebunden war und das Amt der Präsidentin der All Pakistan Women’s Association innehatte. Wir haben uns darum bemüht, im Besonderen den armen Frauen zu helfen, zu einem Einkommen zu kommen oder ihnen zu helfen, ihre Kinder in Gesundheit zu erziehen. Derartige Aufgaben haben wir in verstärktem Maße wahrgenommen. Diese dort wahrgenommenen Aufgaben haben mir dann später sehr in der Kirche geholfen; denn in der Frauenhilfsvereinigung ist die Aufgabenstellung sehr ähnlich.
Ein untergebener Beamter machte große Schwierigkeiten, selber berühmt berüchtigt korrupt berichtigte er Mustafa der Korruption. Ein Militär Gericht verurteilte Mustafa und er wurde suspendiert. Da auch weitere bedrohliche Dinge passierten, wollten wir die Kinder in Sicherheit nach Deutschland bringen. In April 1970 reiste ich mit den Kindern nach München. Mustafas Pass wurde eingezogen und Ausreise verweigert. Im Oktober 1970 ist Mustafa gestorben: wir glauben es war Mord.
Ich war natürlich sehr traurig nach München mit meinen Kindern gegangen. Bei der Post hatte ich dann eine Arbeitsstelle als Telefonistin, wo ich abends arbeitete. Ich habe viel geweint. An einem Sonntag, nachdem die Kinder und ich zu Mittag gegessen hatten und ich sie gebeten hatte, in ihr Zimmer zu gehen, um mich selbst ein wenig zurück zu ziehen, klingelte es an der Tür. Als ich öffnete, standen dort zwei Elders und wollten mir etwas von den Mormonen erzählen. Ich habe gedacht: „Vielleicht ist es besser, mir das anzuhören, was die beiden jungen Männer mir zu erzählen haben, als mich in mein Zimmer zurück zu ziehen, um letztlich wieder zu weinen.” Über die Mormonen hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt nur etwas in der Schule erfahren. Nachdem ich sie herein gebeten hatte, begannen sie mit dem Erzählen. Und ich habe mir angehört, was sie zu sagen hatten. Die Kinder merkten dann, dass ich mit jemandem rede und sind dazu gekommen. So begann dann die Belehrung. Ich wurde etwa nach der dritten Lektion gefragt, ob ich mich taufen lassen wolle. „Nein, das habe ich nicht vor. Ich bin evangelisch und möchte es auch bleiben.” Die Missionare sagten dann, ich hätte doch gesagt, dass ich glaube, dass es wahr ist, was sie über Joseph Smith berichtet haben. Ja, das stimmt schon. Ich glaubte nicht, dass sie mich anlügen würden; aber taufen lassen wollte ich mich auch nicht. Sie waren dann sehr traurig.
Wir haben dann mit den Kindern zusammen etwas gegessen. Sie haben mit den Kindern noch ein wenig gescherzt und sind dann gegangen. Als sie sich verabschiedeten, fragten sie noch, ob sie wiederkommen dürfen. Ich sagte ihnen: „Ja, aber sie sind doch Missionare, die Leute finden sollen, die sich taufen lassen wollen. Und ich weiß nicht, ob das bei uns noch Sinn hat.” Aber sie meinten, sie würden gerne wieder kommen. Ich sagte ihnen, dass das in Ordnung sei. Sie kamen dann wieder und haben mir weiter erzählt vom Evangelium. Dann und wann ließen sie die Tauffrage einfließen. Meine Tochter, die damals zehn Jahre alt war, meinte dann, als die Missionare gegangen waren: „Mutti, lass dich doch taufen. Ich lasse mich dann auch taufen.” Ich sagte dann zu ihr: „So einfach ist das nicht.” Und der Junge meinte: „Nein Mutti, lass dich nicht taufen. Wenn ihr euch habt taufen lassen, dann geht ihr zur Kirche. Und was mache ich? Ich bin dann alleine!” Ich erwiderte ihm: „Das machen wir auf gar keinen Fall. Wir lassen dich doch nicht alleine.” Daraufhin sagte er: „Na gut, wenn ich dann nicht ausgeschlossen bin von euch, dann lässt du dich halt taufen.”
Ich habe mich am 19. August 1971 taufen lassen. Die Kinder wurden inzwischen auch belehrt, nach dem man mich um die Einwilligung gebeten hatte. Nach einiger Zeit sagten die Missionare zu mir, dass die Kinder bereit wären, sich taufen zu lassen und ob ich einverstanden wäre. Ich sagt dann: „Das Mädchen ja, aber der Junge will doch nicht.” Doch, er will.” Aber ich meinte, dass ich selber mit ihm unter vier Augen noch reden müsse. Ich habe ihn dann gefragt: „Warum willst du dich jetzt taufen lassen? Du wolltest doch erst nicht.” Er antwortete mir: „Ich habe heraus gefunden, dass es wahr ist und möchte mich jetzt wirklich taufen lassen.” Auf diese Weise sind wir Drei dann im Sommer – Herbst 1971 zur Kirche gekommen.
Meinen jetzigen Mann habe ich kennen gelernt, als er zu uns als Hoher Rat in die Gemeinde kam. Mein Sohn war zu der Zeit schon auf Mission. Vorweg muss ich noch eine kleine Ungehörigkeit von mir erwähnen. Wir hatten davor einen Hohen Rat, der kam aus Nürnberg und hat so ganz langweilige Ansprachen gegeben. Ich weiß noch, dass ich dort gesessen und gedacht habe: „Vater im Himmel, hilf ihm doch, dass er ein wenig interessanter vermittelt. Doch wenn das nicht möglich ist, dass ich mehr Geduld habe.” Der neue Hohe Rat hatte eine schöne Stimme. Seine Sprechstimme und auch das, was er gesagt hatte, hat mir sehr gut gefallen. Es machte Sinn, was er sagte. Ich hatte das Gefühl: „Es ist eine Botschaft da.” Ich habe mich gefreut, dass wir jetzt jemanden hatten, der die die Sprache beherrschte. Und das war einfach schön. So habe ich mich immer schon gefreut, wenn der Sonntag heran nahte, an dem der Hohe Rat kam und zu uns sprach. Aber das war zu dem Zeitpunkt auch alles.
Dann ist Rudolfs Frau gestorben. Wir lernten uns kennen und verabredeten uns am 30. Dezember verabredet; Rudolf und ich haben einen Tag zusammen verbracht. Die Nacht zum einunddreißigsten Dezember hat er dann im Hotel verbracht. Am Sonntag war er dann bei uns in der Gemeinde. Nach den Versammlungen am Mittag habe ich dann zu ihm gesagt: „Jetzt musst du aber nach Hause fahren, denn die Kinder werden auf dich warten. Silvester ist ein Familienfest. Du musst zu deinen Kindern fahren.”
Er ist dann gefahren, und ich bin in die Kirche gegangen, um an den Nachmittags-Versammlungen teilzunehmen. Der Bischof hatte die Jugendlichen für den Abend zu sich eingeladen, damit sie nicht in eine Gesellschaft gerieten, die ihnen nicht zuträglich sein könnte. Nun war ich alleine. Aber ich wusste schon, was ich tun werde. Ich bin in ein Orgelkonzert gegangen. Es gab damals einen ganz bekannten Bach Interpreten, Karl Richter. Der gab ein Orgelkonzert in der Stadt München. So bin ich dort hingegangen und habe auch noch eine Karte bekommen und habe dem Orgelkonzert gelauscht. Unterwegs, als ich zu dem Konzert ging, habe ich gebetet und den Himmlischen Vater gefragt: „Was soll ich machen? Ich glaube, dieser Mann möchte mich heiraten. Soll ich darauf eingehen oder nicht? Ich kann ihn nicht hinhalten. Er hat fünf Kinder. Er hat eine Praxis. Er hat einen Haushalt. Er kann nicht immer hin und her fahren, um mit mir ins Theater zu gehen. Ich muss mich entscheiden.”
Als ich dann aus dem Konzert kam, war es schon Mitternacht. Ich bin zu Fuß nach Hause gegangen. Die Glocken läuteten. Alles war hell erleuchtet, und auch in mir wurde es ganz klar: Alles, was ich wissen muss ist, ob ich ihn lieb haben kann, so dass ich seine Frau werden kann. Alles andere ist unwichtig. Und wenn ich dieses so fühle, dann ist alles in Ordnung. Ist es nicht so, dann muss ich es ihm sagen. Am Neujahrsmorgen hat er dann angerufen und ein Frohes Neues Jahr gewünscht und mich gefragt, ob ich am Abend kommen könne, um auch seine Kinder kennen zu lernen. Ich habe dem zugestimmt, aber gesagt, dass ich nicht alleine kommen werde, sondern meine Tochter mitbringen würde. Dann habe ich meine Mutter angerufen, ihr auch ein gutes neues Jahr gewünscht und ihr mitgeteilt, dass ich nicht zu ihr kommen, sondern nach Salzburg fahren würde. Ich habe ihr dann von Rudolf berichtet, und sie sagte mir, sie habe sich das schon gedacht; denn ich wäre in der letzten Zeit so ein bisschen anders gewesen. Ich habe ihr dann gesagt, ich hoffe dass es dir recht sei. Sie antwortete: „Ja, ich habe die ganze Zeit schon darum gebetet, dass du jemanden finden mögest.” Dann bin ich nach Salzburg gefahren, und danach waren wir eigentlich schon verlobt.
Ich möchte noch kurz berichten: Die Kinder von Rudolf hatten auch den Wunsch, dass ihr Vater wieder heiraten möge. Und wie Kinder so sind, haben sie überlegt, wen er denn heiraten könne. Es gib immer genügend Schwestern in den Gemeinden. Die älteste Tochter Eva, die hatte mich in der Frauenhilfsvereinigung gesehen, und der habe ich gefallen. Bei einem Familienrat haben die Kinder dann gesagt: „Vati, du musst wieder heiraten!” Und er hat gesagt: „Ich glaube das auch.” Sie sagten daraufhin zu ihm: „Wir haben auch schon eine Frau für dich.” „So, da bin ich aber gespannt, wen ihr für mich ausgesucht habt.” „In München, da gibt es eine Schwester Zaidi.” Er hat gesagt: „ Ja, meint ihr!?” Und gedacht hat er: „Die habe ich mir auch schon ausgesucht“. Mein Mann Rudolf hat mir auch berichtet, als er seiner jüngsten Tochter erzählt hat, dass wir uns einig geworden sind, ist sie vor Freude gehüpft. Und das war auch schön für mich, das zu hören.