Breslau, Schlesien
Ich bin Winfried Hanke und wurde am 12. März 1940 in Breslau geboren. Ich bin der Sohn und das zweite Kind von Herbert Hanke und Anna Konschak. Ich hatte noch eine vier Jahre ältere Schwester, sie hieß Rita. An meinem dritten Geburtstag kam die Nachricht, dass mein Vater im Krieg gefallen sei, so dass meine Mutter mit ihren zwei Kindern alleine blieb.
Im Januar 1945 mussten wir Breslau verlassen und sind in eine ungewisse Zukunft gezogen. Die erste Etappe ging bis nach Görlitz. Dort lebten wir ein paar Tage, dann mussten wir mit dem Zug weiterfahren. Bis zu diesem Zeitpunkt waren wir noch keine Mitglieder der Kirche.
Auf diesem Treck, der nach Osten weiterging, hatte ich, als vierjähriger Junge, Hunger. Ich saß in einem Sportwagen und habe geweint. Eine junge Dame, die mit in dem Waggon war, kam und gab mir ihr Brot. Meine Mutter war sehr erstaunt, dass in dieser ungewissen Zeit, in dem Zug, wo keiner wusste, wann der nächste Halt sein wird, jemand sein letztes Brot weggab. Meine Mutter erkundigte sich, warum sie das tat und bekam zur Antwort, dass sie fastete. So hatten wir die erste Bekanntschaft mit der Kirche. Auf dieser Bahnfahrt konnte meine Mutter von der Kirche erfahren und freundete sich mit dieser jungen Dame an.
Da meine Mutter nicht wusste, wohin sie fahren sollte, sagte diese junge Dame zu ihr: „Kommen sie mit nach Halberstadt, dort wohnt mein Schwager und meine Schwester. Wir werden für sie sicherlich auch einen Platz finden“. So sind wir mit nach Halberstadt gefahren, wo ich dann meine Kindheit verbrachte. Als wir in Halberstadt ankamen, waren laufend Angriffe. In Halberstadt bekamen wir eine Wohnung, ein Zimmer, bei einer Tierärztin. Dort lebten wir vielleicht vier Wochen, bis der große Angriff kam und wir in den Keller mussten. Alles bebte und zitterte, man hörte die Bomben pfeifen und das Schreien in den Nachbarhäusern. Plötzlich kam die Nachricht in den Keller, dass die ganze Straße brenne. Meine Mutter wollte mit uns raus. Die anderen Leute, die auch im Keller waren, riefen: „Bleiben sie drin, bleiben sie drin, sie überstehen das nicht“. Aber meine Mutter hatte ein Gefühl, sie musste raus. Wir waren die Einzigen, die rausgegangen sind. Mit einem Tuch vor dem Mund sind wir durch Phosphorbomben brennende Straßen gelaufen und wurden irgendwie beschützt, so dass wir die Stadt verlassen konnten. Wir waren die einzigen Überlebenden aus diesem Haus. Nach diesem Angriff, als sich alles beruhigt hatte, gingen wir zurück und versuchten Unterkunft zu finden. Wir haben in Gaststätten auf Fußböden geschlafen, bis eine Schwester der Kirche sagte, dass sie Platz hätte, dass sie ein Kinderzimmer frei hätte, wo wir reinziehen könnten. Wir lebten viele Jahre bei dieser Schwester. Das haben wir bis zum heutigen Tag nicht bereut.
Diese Freundin, Johanna Schmidt (Hannchen), die uns das Evangelium zuerst erklärte, ist nicht lange in Halberstadt geblieben, sie ist weitergezogen. Wir wohnten ja nun bei Tante Mieze, Schwester Kühne. Dort hatten wir ein gutes Auskommen und wir haben uns mit ihr gut vertragen. Wir hatten wenig Geld gehabt. Meine Mutter musste arbeiten gehen, obwohl sie krank war. Wir sind aber gut zurechtgekommen.
Als wir nach Halbestadt kamen, war Bruder Anton Larisch Gemeindepräsident. Später wurde Bruder Pöcker Gemeindepräsident und danach kam Bruder Jürgen Pawelke als Gemeindepräsident. Bruder Pawelke war viele Jahre mein Gemeindepräsident. Von Bruder Pöcker wurde ich getauft, als Missionar ordiniert von Bruder Henry Burkhardt und von Bruder Pawelke wurde ich zum Ältesten ordiniert.
Später gingen meine Schwester auf Mission und ich ein paar Jahre später auch, in der Ostdeutschen Mission. Meine Missionszeit war von 1959 bis 1961. Wir hatten etliche Missionspräsidenten, wir hatten verschiedene Missionen gehabt, Norddeutsche Mission, Berliner Mission, das hat immer gewechselt. Bis dann zum Schluss die Dresdner Mission kam. Bruder Burkhardt war unser Ansprechpartner.
Ich bin zuerst nach Mittweida auf Mission berufen worden. Das war damals, in unseren Augen, eine selbständige Gemeinde. Sonst waren Missionare nur in Gemeinden gekommen, die nicht alleine existieren konnten, die Verstärkung brauchten. Mit Bruder Zwirna waren wir in Mittweida die ersten Missionare. Bruder Zwirna hat sich mächtig gefreut, dass er das erste Mal in seinem Leben richtig Missionarsarbeit machen konnte, von Tür zu Tür gehen – das haben wir auch getan. Uns wurde gesagt, dass wir in den Betrieben Gesprächsthema Nummer Eins waren. Sehr viele Menschen haben uns angehört. Das ging ungefähr ein viertel Jahr lang, bis dann ein Polizist an unsere Tür klopfte und uns aufforderte, innerhalb vierundzwanzig Stunden die DDR zu verlassen. Da wir Bürger der DDR waren und wir das Recht auf Glaubensfreiheit hatten, haben wir gesagt, dass wir das nicht machen werden. Wir kamen in das Büro zu einer Aussprache und dort wurde uns mitgeteilt, dass wir gar keinen Zutritt hatten und dass wir doch die Stadt verlassen sollen.
Wir sind dann nach Döbeln gegangen und dort wurden wir auch von zwei Männern in Zivil verfolgt, die uns auch einluden, in ihr Büro zu kommen. Uns wurde mitgeteilt, dass wir die Stadt verlassen sollten und dass es in zwei Jahren in der DDR keine Kirchen mehr geben würde, das sagte der dortige Beamte. Wir waren anderer Meinung was nicht von Gott ist wird kläglich vergehen, das haben wir deutlich kennengelernt.
Mein nächstes Arbeitsfeld war Gotha. Dort war ich mit Bruder Schumann zusammen. Dann wurde ich nach Mecklenburg versetzt. Mit Bruder Frank Apel haben wir dort die inaktiven Mitglieder besucht und sind Empfehlungen nachgegangen. Mein letztes Arbeitsfeld war Weimar. Ich gehörte zu den letzten Missionaren, die in der DDR tätig waren.
Ich bin nicht in Halberstadt geblieben. Als meine Mission zu Ende war, kam die nächste Mission, eine Ehefrau suchen. In Mittweida habe ich ein Mädchen kennengelernt, für das ich mich interessiert habe. Sie hat damals bei ihrem Schwager im Haushalt geholfen. Wir haben uns weiter angefreundet und so bin ich dann nach Großhartmannsdorf gekommen, weil sie dort wohnte. Dort haben wir geheiratet und unser Wohnsitz hieß Großhartmannsdorf. Wir haben drei Kinder bekommen.
Einen Monat nach unserer Eheschließung wurde ich zur Armee einberufen und habe eineinhalb Jahre dort gedient, was mir gar nicht gefallen hat. Wir haben diese Trennung aber doch irgendwie überstanden.
In der Armee wurde ich als Funker beim Stabschef eingesetzt. Als der Stabschef mitbekam, dass ich nicht in der FDJ war und auch nicht in der Partei, sagte er, dass wir uns trennen müssen, er dürfte mich nicht bei sich behalten. So bemühten sich sechs Offiziere, mich in die Partei zu bringen. Aber ich gab mein Zeugnis und habe gesagt: „Ich bin ein Mitglied der Kirche, ich stehe zu meiner Sache, und ich habe in meiner Missionszeit erfahren, dass alle, die in der Partei waren, nicht in die Kirche gehen durften. Aus diesem Grund werde ich nicht in die Partei eintreten.“ Eineinhalb Stunden hat man mich bearbeitet, bis man dann sagte: „Überlegen sie es sich doch noch einmal“. Ich habe gesagt: „Ja, ich kann es mir überlegen.“ Ich habe gemerkt, dass alle tief durchgeatmet haben. Sie haben mir einen Antrag gegeben und sich freundlich von mir verabschiedet. Niemand mehr hat nach diesen Antrag gefragt. Ich bin bis zum letzten Tag beim Stabschef geblieben und wir hatten ein sehr gutes Verhältnis gehabt.
Ich war in Mühlhausen bei Eisenach in der Armee. Das westlichste Objekt, also an der Staatsgrenze. Als die Frage vom Stabschef kam: „An der Staatsgrenze West, würden sie schießen?“ Ich habe geantwortet: „Ich bin ein Christ, ich kann nicht schießen“. Alle, die vor mir gefragt wurden, haben gesagt, dass sie schießen würden. Und alle, die nach mir gefragt wurden, haben gesagt, nein, sie würden auch nicht schießen. In dem Gespräch, das er hinterher mit mir führte, sagte ich, dass ich ein Christ bin. In den zehn Geboten heißt es auch, dass wir nicht töten sollen. Dann erklärte ich, dass mein Vater im Krieg gefallen sei und dass es in der Nationalhymne heißt: „Damit nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint“. Ich führte einige Gründe an, warum ich nicht schießen würde. Seltsamerweise nahm er mir diese Äußerung nicht übel und sagte: „Wir werden uns am Ende ihrer Dienstzeit weiter darüber unterhalten“. Ich hatte nie Probleme deswegen gehabt. Im Gegenteil, als ich mich mit ihm dann in seinem Arbeitszimmer über eine Stunde lang über die Kirche unterhalten habe, sagte er zu mir: „Wenn sie einmal Probleme wegen ihrer Kirche während ihrer Dienstzeit haben, kommen sie zu mir, ich helfe ihnen“.
Ich habe in meinem Leben gemerkt, dass der Herr und ich immer in der Mehrheit waren, in jeder Situation. In der Armeezeit hatte ich über meinem Bett ein Bild von meiner Frau und eine Postkarte vom Schweizer Tempel hängen. Man rief mich „Tempeldiener“. Eigentlich ein schöner Name. Mein Zugführer hat es den anderen verboten, mich so zu nennen. Er stand mir bei. Ich hatte einen guten Stand bei der Armee. Als ich entlassen wurde, sagten sie zu mir: „Solche wie sie hätten wir gerne noch mehr bei uns“.
Während des Politunterrichts in der Armeezeit gab es oft Selbststudium und alle mussten in Armeezeitschriften lesen. Zu mir kam der Zugführer immer mit der Bibel der Kommunisten, mit der Grundlage des marxistischen Leninismus. Er zeigte mir, was Lenin über die Kirchen gesagt hat, dass Kirchen Opium für das Volk sei, dass die Kirchen sagen, die Welt wurde aus nichts geschaffen usw. Alle Punkte konnte ich ihm widerlegen, dass das unsere Kirche gar nicht lehrt. Er stand da, schüttelte mit dem Kopf und hat gesagt: „Es ist komisch, bei anderen Christen kommt ein Punkt, wo sie nicht weiter wissen. Den gibt es bei ihnen nicht“. Ich sagte ihm, dass wir auch an das Weiterleben glauben und dass Einstein das auch behauptet, dass keine Energie verloren gehen kann. Er sagte: „Da haben sie eigentlich recht. Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht“. So habe ich wegen meines Glaubens und meiner Einstellung keine Probleme gehabt.
Von Beruf bin ich Elektriker. Ich hatte in einer PGH – Produktionsgenossenschaft – gearbeitet. Später bin ich in eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft als Betriebs-Elektriker gewesen. Kurz vor der Wende habe ich dort gekündigt. Meine Kollegen sagten zu mir: „Du bist ganz gescheit. Bevor alles unter geht, hörst du hier auf“. Ich habe dann im Tempel als Gärtner angefangen. Bis dahin wusste aber noch niemand etwas von der Wende. Man hat geahnt, dass irgendetwas kommen muss, aber keiner wusste etwas.
Der Tempel ist etwas Besonderes. Es war eigentlich für uns ein Traum, in den Tempel zu gehen. Einige Geschwister hatten die Möglichkeit, in die Schweiz zu fahren. Das wurde später auch wieder verboten. Es war für uns immer ein Traum gewesen.
Am Vorabend der Pfahlgründung waren die Beamten zu Interviews ins Regionsbüro eingeladen worden. Dort hatte ich das kürzeste Interview in meinem Leben. Elder Hales fragte mich damals: „Bruder Hanke, bereiten Sie sich auf den Besuch des Tempels vor?“ Niemand wusste, dass in der DDR ein Tempel gebaut werden sollte. Ich war ein bisschen schockiert und sagte: „Ja“. „Halten Sie zu ihrer Frau?“ „Ja“ Mehr Fragen kamen nicht bei dem Interview. Das kürzeste Interview meines Lebens. Dann wurde ich Pfahl-Finanzsekretär.
Es ging dann weiter mit dem Tempel. Damals habe ich in der LPG gearbeitet. Eines Tages rief mich der LPG-Vorsitzende zu sich ins Büro und sagte: „Mit dir muss ich einmal reden. Wir haben in der Parteiversammlung davon gesprochen, dass ihr in Freiberg einen Tempel bauen wollt“. Wir als Mitglieder wussten noch nichts. Er sagte: „Wir wurden gefragt, ob wir etwas dagegen haben. Aber da gibt es doch gar nicht dagegen zu sagen“. So habe ich erfahren, dass in Freiberg ein Tempel gebaut werden soll, hintenherum.
Meine Frau hat eine Cousine, die zu ihr sagte: „Du, ich arbeite in der Stadt und wir haben die Unterlagen für einen Tempel in Freiberg von eurer Kirche“. Wir als Mitglieder wussten noch nichts. Die Ämter hatten die Unterlagen schon. Wir haben uns dann gefreut, dass wir diesen Tempel hatten, dass er gebaut wird.