Dresden, Sachsen
Mein Name ist Elly Gerda Hanspach, geborene Rinkefeil. Ich bin in Dresden am 20. September 1924 geboren. Mein Vater war Paul, Martin Rinkefeil. Er war von Beruf Tierarzt. Meine Mutter war Olga, Ella Georgi, Hausfrau und Mutter. Mein Vater ist früh verstorben, wahrscheinlich an den Folgen eines Unfalls. Ich war damals sieben Jahre alt, und mein Bruder war vier Jahre alt. Wir waren sehr arm, weil mein Vater erst wenige Jahre beruflich tätig war und noch nicht lange genug in die bayrische Ärzteversorgung eingezahlt hatte. Somit hatte meine Mutter keinen Anspruch auf Witwenrente. Da hat mein Großvater, der Vater meines Vaters, eine einmalige Summe eingezahlt, dass meine Mutter wenigstens eine Mindestrente bekam. Die Waisenrente betrug pro Kind RM 5.00, und es gab RM 160.00 Witwenrenten. Mein Vater hatte eine Praxis in Bayern, in Unterfranken.
Meine Mutter hat dann mit sehr viel Strenge, aber auch mit sehr viel Liebe, uns großgezogen. Vieles habe ich erst verstanden, als ich selbst erwachsen war. Sie hat uns viel ermöglicht. Sie hat zum Beispiel von dem wenigen Geld gespart, um mir ein Klavier zu kaufen und mir Unterricht geben zu lassen. Sie hat uns auch beide auf die höhere Schule geschickt. Wir hatten natürlich ein Stipendium, aber DM 5.oo mussten trotzdem an Schulgeld gezahlt werden. Das war viel Geld damals. Ein drei Pfund Brot kostete zu der Zeit 39 Pfennige. Ein Pfund Butter kostete 90 Pfennige. Ein Liter Vollmilch kostete 24 Pfennige. Doch wenn der Monat um war, fehlte auch oft dieses Geld, um einzukaufen. Dann hieß es: „Habt ihr noch etwas in der Sparbüchse?“ Im Jahre 1938 hat sie wieder geheiratet, wieder einen Tierarzt, der ein Kommilitone meines verstorbenen Vaters gewesen war. Er war auch Witwer und brachte ebenfalls zwei Kinder mit in diese Ehe. So waren wir dann vier Kinder. Er hieß Karl Arthur Rudert. Durch diese Heirat sind wir nach Sachsen ins Lengenfeld, Vogtland, Sachsen gezogen. Dort gingen wir weiter auf die höhere Schule. Wir mussten mit dem Bus fahren, der schon um sechs Uhr morgens losfuhr. Nachmittags um drei Uhr kamen wir nach Hause zurück.
1933 begann die Hitlerzeit. Ab 1936 war es Pflicht, in den Jugendorganisationen aktiv zu sein. Das war für die Mädchen der Bund Deutscher Mädchen. Und ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich begeistert war. Jede Woche einmal am Nachmittag traf man sich. Es wurden Lieder gelernt, gesungen, politisch erzogen, Wanderungen gemacht, Theater gespielt, Literatur nahe gebracht. Ja, ich war begeistert.
Nach dem „Einjährigen“ bin ich von der Schule abgegangen, weil die englische Sprache mir zum Verhängnis wurde. Ich bin aus Bayern gekommen und hatte Französisch gelernt. Dann kam ich nach Sachsen und musste drei Jahre Englisch nachholen. Dann kamen noch drei Jahre Latein hinzu, die ich auch nachlernen sollte. Ich hatte wohl Nachhilfeunterricht. Aber ich war Fahrschülerin, das heißt, dass ich viel Zeit auf dem Schulweg verbrachte. Und dann hatte ich noch Konfirmandenunterricht. Die BDM-Dienste kamen auch noch dazu. Es war einfach zu viel auf einmal. Ich wäre wohl zum Abitur zugelassen worden, denn ich konnte zwar das, was ich jetzt gelernt hatte, aber ich hatte keine Grundlage. Im Zeugnis gab man mir eine „vier“, damit mein Zeugnis nicht so schlecht aussah. Dann kam das Pflichtjahr, das jedes Mädchen und Jungen zum Arbeitsdienst bei Hitler gehen musste. Die einen kamen zum Bauern, und ich kam in einen privaten Haushalt mit zwei Kindern, für ein Jahr. Danach musste ich in den Arbeitsdienst gehen. Hier habe ich beim Bauern gearbeitet. Normalerweise musste man nach dem Arbeitsdienst in der Munitionsfabrik arbeiten. Aber während meines Arbeitsdienstes habe ich einen Beruf kennen gelernt, der sich damals „Krankengymnastik“ nannte. Mit dem ältesten Sohn der Familie, bei der ich tätig war, musste ich zur Krankengymnastik gehen. Dieser Beruf gefiel mir so gut, dass ich gesagt habe: „Das möchte ich auch werden.“
Hitler brauchte im Lazarett diese Leute, und daher brauchte ich nicht in die Munitionsfabrik zu gehen, sondern konnte mein Studium beginnen. Von 1942-1944 hatte ich meine Ausbildung in Leipzig. Im Jahre 1943 wurden wir in Leipzig ausgebombt. Dann kam ich nach Chemnitz in ein Lazarett, weil die Ausbildungsklinik zerbombt war, und 1944 habe ich das Staatsexamen gemacht. Danach begann meine Arbeit in einer privaten orthopädischen Praxis in Halle an der Saale. In dem Lazarett, in dem wir vorläufig untergebracht waren, habe ich auch meinen späteren Mann kennengelernt. Er war Mediziner und war in diesem Lazarett Famulus. Kurz vor Kriegsende im Jahre 1945 haben wir geheiratet. Der Name meines Mannes ist Ernst Wolfgang Hanspach. Mein Mann hatte durch den Krieg das Notabitur gemacht. Er ist 1920 geboren und kam 1939 gleich nach Polen, als der Krieg ausbrach. Er durfte aber im Krieg studieren. Er hat sein Studium erst nach dem Krieg beendet.
Lengenfeld war zuerst von den Amerikanern besetzt worden. Wenige Wochen später wurde dieser Teil des Landes gegen Teile von Berlin ausgetauscht. Ohne Voranmeldung wurden wir über Nacht russisch. Dadurch haben Amerika und Frankreich und England den anderen Teil von Berlin erhalten. Sonst wäre Berlin vollkommen den Russen zugesprochen worden. Mein Mann war gerade fertig mit der Ausbildung und bekam zunächst keine Anstellung. Der Russe hatte einen Beruf erfunden, der sich „Hygienearzt“ nannte.
Mein Mann kontrollierte Gaststätten, Cafés, Mühlen, Metzgereien, also alles, was besonderen Sauberkeitsvorschriften unterliegt. Durch diese Tätigkeit meines Mannes zogen wir nach Altenburg in Thüringen. Ich war in Halle in einer Privatpraxis tätig gewesen. Im August 1945 bekam ich mein erstes Kind, 1947 mein zweites und 1948 im September mein drittes. Meine Tochter, die 1945 geboren wurde, heißt Gerda Angela, mein Sohn heißt Ernst Frank, und die Jüngste heißt Martina Gerlinde, Martina nach meinem Vater Martin.
Bis 1954 wohnten wir in Altenburg. Im Jahre 1949 hatte mich mein Mann verlassen, und ich war mit den Kindern alleine. Mit der Familie, in der ich mein Pflichtjahr absolviert hatte, bestand noch freundschaftlicher Kontakt. Diese Familie ging nach Berlin und sagte: „Was willst du alleine hier, komm mit uns.“ Und so bin ich mit drei Kindern, drei Koffern und drei Rucksäcken nach Berlin gegangen.
Es war ja schwierig, aus der russisch besetzten Zone in den Westen zu gehen. Aber am 17. Juni 1953 war der Arbeiteraufstand in Berlin gewesen, der mit Panzern niedergeschlagen wurde, und danach war es leichter. Ich war also kein Flüchtling, sondern ich bin wirklich zur Polizei gegangen, habe meinen Ausweis abgegeben, meine Lebensmittelkarten und habe gesagt: „Ich mache eine Fortbildung im Westen“, was auch stimmte. Und ich habe die Genehmigung bekommen und konnte ganz legal ausreisen. Allerdings bin ich dann nicht zurückgegangen. Es war ein Wunder, dass das damals möglich war. Eine Folge des 17. Juni. Auch dort erhielt ich eine Anstellung als Angestellte in einer Praxis. Dort arbeitete ich ein Jahr lang, und dann machte ich mich selbständig. Das heißt, ich kaufte eine Praxis und eröffnete diese in Westberlin. Diese führte ich von 1955 bis 1975. Dann bin ich im Angestelltenverhältnis in ein Krankenhaus gegangen und bekam dort eine leitende Position, in der ich die physikalische Abteilung übernahm. Dort blieb ich bis 1985 bis ich in Rente ging. Damals war es noch möglich, mit sechzig Jahren in Rente zu gehen. Dieses Krankenhaus wurde von der Arbeiterwohlfahrt unterhalten.
Bei Hitler bekamen wir schon Lebensmittelkarten, aber die waren im Vergleich, zu denen nach dem Krieg, gut. Als werdende Mutter bekam man wirklich ausreichend Milch und Nährmittel, man war gut versorgt. Aber nach dem Krieg war es sehr schlimm. Ich weiß nicht mehr alle Werte. Aber für den Normalverbraucher gab es täglich fünf Gramm Fett, einhundert Gramm Brot und fünfundzwanzig Gramm Fleisch. Es war sehr wenig von allem. Hinzu kam das Anstehen, wenn es etwas zum Kaufen gab. Wenn man dann endlich an der Reihe war, konnte es sein, dass alles ausverkauft war. Der Schwarzmarkt blühte. Jeder versuchte, auf irgendeine Weise zu Lebensmitteln zu kommen. In der Zeit wurde auch fürchterlich geklaut auf den Feldern. Wir haben unter die Erde gegriffen, die Kartoffeln herausgeholt und das Grüne stehen lassen. Auch Rüben haben wir geholt. Was sollten wir machen?! In den Wald sind wir auch gegangen und haben Bäume umgelegt. Wir brauchten ja auch Brennholz. Auch unser Gartenzaun wurde verheizt. Alles, was brennbar war, wurde verheizt. Der Winter 1946/1947 war furchtbar kalt gewesen. Ich habe meine Tochter im Hause angezogen mit Mütze und Handschuhen und in eine Decke eingewickelt. Es war so furchtbar kalt. Das Wasser ist im Eimer eingefroren, der im Hause stand. Es blieb uns nichts anderes übrig, als zu stehlen. Aber es war Mundraub. Ich glaube, dass Gott es verziehen hat. Es war eine sehr schlimme Zeit. Normal Verbraucher erhielten täglich 800 Kalorien. Die Kinder bekamen in der Woche ein halbes Pfund Obst oder Gemüse. Das war wirklich sehr wenig. Auch der halbe Liter Milch pro Tag.
Mein Mann war so dünn, dass man dachte, dass er das Ganze nicht überstehen wird. Er war Arzt und musste auch in den Nachtdienst in der Klinik. Er wurde gerufen und hat es wohl nicht gehört, weil er so erschöpft war. Die Folge war, dass er entlassen wurde. Als der Schichtwechsel kam, war der Notfall nicht versorgt. Es war nicht seine Schuld. Er war einfach total erschöpft. Es war eine furchtbare Zeit, eine wirklich furchtbare Zeit.
Hier in Berlin habe ich die Kirche kennengelernt. Es ist eine sehr lange Geschichte. Wenn ich zurückblicke, ist mir die Kirche zum ersten Mal mit neunzehn Jahren begegnet. Ich habe in Leipzig studiert. Wenn ich durch eine bestimmte Straße ging, kam ich an einem Haus vorbei, an dem ein Emailleschild an der Haustür war, auf dem stand: Rinkefeil, Steuerberater.
Dort bin ich hineingegangen und habe gefragt, ob wir verwandt sind. Die Antwort war: „Das weiß ich nicht, gehen sie zu dem alten Buchhändler, der betreibt Ahnenforschung, der weiß es.“ Zu dem bin ich hingegangen. Der schenkte mir einen Stammbaum, der bis 1595 zurückging. Diesen Buchhändler sehe ich noch wie heute vor mir stehen. Er hatte die Hände erhoben und sagte: „Und dann kam ein Engel vom Himmel.“ Das weiß ich noch. Und da dachte ich: „Geh bloß fort, der Mann ist verrückt.“ Wenn ich später darüber nachdachte, kam mir in den Sinn, dass er Mormone gewesen sein muss. Als ich dann begann, mich mit der Genealogie zu befassen, musste ich feststellen, dass schon viele getauft worden waren. Ich nehme an, dass dieser Mann dafür gesorgt hat.
Als mein Mann mich dann verlassen hatte, meine jüngste Tochter war noch kein Jahr alt, suchte ich natürlich nach Hilfe. Mein Mann konnte uns auch nicht viel Geld geben, da er selber keines hatte. Da war zum Beispiel eine Religionslehrerin – evangelisch – die mich ein bisschen aufgebaut hat. Aber ich habe immer gesucht. Ich habe wieder Anschluss gefunden an die evangelische Kirche. Ich nahm auch an Seminaren teil. Es gab eine sogenannte „Ruferbewegung“. Diese Leute haben versucht, Menschen zu Christus zu bringen, überkonfessionell. Auch da habe ich mitgemacht und habe dort auch Halt gefunden.
Dann ist aber folgendes eingetreten. Meine älteste Tochter hat Krankenschwester gelernt. Sie lernte im Krankenhaus einen arabischen Arzt kennen, einen Moslem. Diesen Mann wollte sie heiraten. Ich war natürlich außer mir und habe alles versucht, um diese Heirat zu unterbinden. Alles, was ich ihr geschrieben habe, das hat sie nicht einmal gelesen. Und da war der einzige Ausweg, mich an Gott zu wenden, damit ich mehr Ruhe und Trost erhielt. Das geschah 1967. Zu dem Zeitpunkt bekam ich auch Zweifel an der Richtigkeit der evangelischen Kirche. Hier wurde immer zu Jesus gebetet, von Gott war überhaupt nicht die Rede. Ich suchte dann die Kirche Gottes. Vielleicht geschah dieses auch durch meinen Schwiegersohn, der sehr gläubig ist. Er behauptete, dass seine Kirche die Kirche Gottes sei. Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte. Und da habe ich gebetet. Es war Silvester als ich darum betete, dass der Vater im Himmel mir doch zeigen möge, wohin ich mich wenden soll.
Da kamen zwei junge Menschen an meine Tür, und die waren Mormonen. Die habe ich fortgeschickt. Ich sagte mir: „Nein, so etwas nicht.“ Dann hatte ich plötzlich eine Patientin, die Mormonin war. Danach folgten zwei weitere Patientinnen gleichen Glaubens, und dann hatte ich zwei Angestellte, die ebenfalls Mormonen waren. Ich war plötzlich eingekreist von Mormonen. Es war richtig lustig. Na ja, dann habe ich wieder gebetet: „Vater, der jetzt kommt, zu dem gehe ich.“ Und wer kam? Mormonen. Und der Missionar, der zuerst bei mir war, der war einer davon. Im August 1971 habe ich mich dann taufen lassen. Meine Kinder sind sogar mitgegangen.
Meine große Tochter ist Muslimin geworden. Meine beiden anderen Kinder lehnen alles total ab. Aber trotz allem sind wir nicht zerstritten. Die Kinder haben gesagt: „Lass uns in Ruhe. Wir respektieren was du tust, aber lass uns in Ruhe.“ Und ich musste natürlich auch das annehmen, was meine Große für sich entschieden hatte. Für die Familie war es gut, dass sie Muslimin geworden ist. Es ist eine wunderbar intakte Familie. Ich habe einen wunderbaren Schwiegersohn, ich könnte mir keinen besseren wünschen. Sie sind alle sehr gläubig, wenn auch Muslime.
Seit 1985 bin ich Rentnerin. In der Kirche hatten wir einen sehr klugen Bischof, der mir sofort eine Berufung gegeben hat. Ich war Sekretärin in der Sonntagsschule. Er sagte, dass ich durch meine Arbeit mit Patienten ein gutes Namensgedächtnis haben müsse. Bis auf eine leitende Berufung habe ich fast alles gemacht. Als Kind hatte ich das Klavier spielen gelernt, hatte dann aber keine Gelegenheit mehr zum Spielen. Dann habe ich wieder geübt, und da wir keine Organistin hatten, habe ich in der Gemeinde Klavier gespielt. Ich war erste Ratgeberin, ich war zweite Ratgeberin, ich war Sekretärin, ich war Lehrerin in der PV und auch in der FHV und ich war Pfahlbeauftragte, ich habe die Lehrerfortbildung gemacht, ich war fast alles. Jetzt bin ich nur noch Besuchslehrerin. Ich habe den Tempel in der Schweiz besucht. Wir sind elf Stunden mit dem Sonderzug dorthin gefahren. Jetzt gehe ich in den Tempel in Freiberg.