Forst (Lausitz), Mark Brandenburg

Mormon Deutsch Helga Irmgard HenkelMein Name ist Helga Irmgard Henkel, geborene Gäbler. Ich bin am 21. Mai 1935 in Forst (Lausitz) in der Mark Brandenburg geboren. Mein Vater hieß Bruno Alfred Gäbler, meine Mutter war Martha Schreiber. Etwa zurück bis zum dritten Lebensjahr erinnere ich mich an meine Kindheit. Sie war zwar von Armut geprägt, aber trotzdem empfand ich sie als glücklich. Mein Vater war von Beruf Steinmetz und Bildhauer, als typische Berufskrankheit trug er eine Staublunge davon und konnte, als ich geboren wurde, nicht mehr arbeiten. Wir wohnten anfangs im Hinterhaus eines großen Mietshauses, das meinem Großvater gehörte. Die ganze Familie, ich war das siebente Kind, hatte ein großes Zimmer zur Verfügung. An dieses Zimmer erinnere ich mich nicht mehr, ich kenne es nur aus den Erzählungen meiner Geschwister. Ich hatte sechs Geschwister, wovon einer im Krankenhaus an Diphtherie und Scharlach gestorben ist, als meine Mutter mit mir schwanger war.

Als ich etwa drei Jahre alt war, hatten meine Eltern die Möglichkeit, in Forst-Berge ein Einfamilienhaus zu erwerben. Daran erinnere ich mich gut. Es war viel Platz außen herum vorhanden. Eine große Sandgrube war in der Nähe, aus der man den Sand bzw. Kies zum Bau der Häuser holte. Es war herrlich dort zu spielen. Nach der anderen Seite war Kiefernwald, wo ich mich sehr gern aufgehalten habe. Wirklich gehungert haben wir in den Kriegsjahren nicht. Aber wir mussten auf Vieles verzichten. Schokolade lernte ich erst kennen, als wir nach dem Krieg aus den USA (Utah) Pakete bekamen, wo jedes Kind eine halbe Tafel Schokolade bekam, da war ich zwölf Jahre alt. Wir hatten einen Garten. Meine Eltern hielten Ziegen, Schafe, Hühner und bauten Gemüse an, um die große Familie ernähren zu können. Für mich war es furchtbar, wenn ich von den Kohlköpfen die Raupen herunter sammeln musste. Aber da gab es kein Pardon, das musste ich tun.

Als meine Eltern bereits vier Kinder hatten, wollten sie eigentlich keine mehr. Aber eines Nachts hatte mein Vater einen Traum, der ihn sehr bewegte. Da stand vor ihm ein kleines Mädchen und sagte: „Ich will auch noch zu euch!“ Mein Vater war sehr gläubig und überredete meine Mutter noch ein Kind zu bekommen. Es war ein Junge. Danach überredete er sie noch einmal, es war wieder ein Junge, und erst das siebente Kind war ich, endlich das Mädchen. Mein Vater liebte mich sehr und hat mir kurz vor seinem Tod diese Geschichte erzählt. Jeder, der mich kennt, weiß, dass das schon so gewesen sein kann. Wenn ich etwas will, dann versuche ich alles so lange, bis ich es bekomme. Es könnte so sein, ich weiß es nicht.

In Deutschland herrschte seit 1939 Krieg. Die Front kam durch den Vormarsch der Russen immer näher in die Heimat. Als ich neun Jahre alt war, das war im Winter 1944, ging mein Bruder Zeitungen austragen, und ich ging oft mit ihm. Wir mussten etwa drei Kilometer laufen und dann die Zeitungen dort verteilen. Als die ersten Granaten in Forst einschlugen war mein Bruder Horst allein. Er bekam furchtbare Angst und lief in das Elternhaus meiner Mutter. Mein Großvater war bereits gestorben, aber die Großmutter, die Frau meines Onkels, Tante Dora, und meine Tante Anna wohnten noch dort. Er ging zu dieser Tante Dora und sagte: „Tante Dora, ich habe Angst!“ Und sie sagte: „Horst, ich bringe dich nach Hause.“ Sie zog sich nur eine leichte Jacke an, obwohl es Februar war, und lief mit meinem Bruder durch die Stadt. Sie mussten die Neißebrücke überqueren, und von dort waren es etwa noch zwanzig Minuten zu laufen. Als sie noch etwa fünf Minuten von unserem Haus entfernt waren fiel ein Schuss vor ihre Füße. „Stoi!“ rief es. Da kamen Russen aus dem Hinterhalt und hielten sie fest. Die Russen wollten sie nicht durchlassen. Tante Dora gab ihnen aber mit Händen und Füssen zu verstehen, dass sie meinen Bruder, der zu dieser Zeit zwölf Jahre war, zu den Eltern bringen wollte. Dann ließen die russischen Soldaten sie weitergehen. Sie kamen unversehrt in unser Haus. Alle saßen im Keller. Meine Mutter hatte Betten und Eingewecktes in den Keller gebracht. Auf Kohlebergen, die unten im Keller lagerten, hatte sie uns einen Platz geschaffen, auf dem wir liegen konnten. Die Russen begleiteten meinen Bruder Horst und Tante Dora bis in den Keller. Meine Eltern waren froh, dass mein Bruder da war, aber meine Tante ließen sie nicht mehr zurück. Sie musste bei uns bleiben. Sie konnte auch nicht Nachricht geben, denn Telefon gab es zu dieser Zeit nicht und sie hatte weder Geldbeutel noch Ausweise mitgenommen. Die Russen wollten immer „Papyri, Papyri“ sehen, und die hatte sie nicht bei sich. Dann haben sie sie immer wieder hoch geholt und verhört und wollten sie auch vergewaltigen, was zum Glück nicht geschah. Sie hat sich sehr gewehrt und sie haben ihr auch einmal die Pistole auf die Brust gesetzt, um sie gefügig zu machen, aber sie hat nicht eingewilligt. Ich kann mich erinnern, als es wieder einmal so schlimm war, sagte sie zu meinem Vater: „Bruno, bete für mich!“ Und er sagte: „Nein, das musst du selbst tun.“ Ich muss dazu erklären, sie war kein Mitglied der Kirche und hat meine Eltern oft angepöbelt. Zu mir war sie immer freundlich, auch zu meinem Bruder, aber dass wir bei der Kirche Jesu Christi waren, das hat ihr überhaupt nicht gefallen. Jedoch in ihrer Not hat sie laut gebetet, stotternd wie ich mich erinnere, aber sie hat es getan, und zumindest an diesem Tage wurde es ruhiger.

Dann ist etwas in diesem Keller passiert, was ich nie vergessen werde. Eine Granate schlug in unserem Hof ein und das Haus wackelte. Es war nur ein einfaches Einfamilienhaus. Oben gingen die Scheiben zu Buch und der Putz fiel zum Teil von den Wänden. Ich hatte Angst und sagte: „Papa, lass uns beten.“ Er sagte „Ja“, und dann haben wir das getan. Etwas später, wie lange das war, weiß ich nicht mehr, kam ein Russe die Treppe herunter getorkelt. Er war betrunken und rief: „Frau, komm!“ Alle hatten Angst. Wenn ich mich recht erinnere, hatte er auch ein Gewehr dabei. Plötzlich brach er auf der Treppe zusammen und schlief. Wir waren alle erstaunt. Mein Vater erzählte uns dann später, dass er gebetet hat: „Vater im Himmel, wir haben immer versucht, das Rechte zu tun, jetzt brauchen wir Deine Hilfe.“ Und er hörte eine Stimme die sagte: „Was du wünschst wird geschehen.“ Er hatte gewünscht, dass der Soldat auf der Stelle einschlafen möge, und das geschah. Als er aufgewacht war verlangte er aus dem Regal, in dem meine Mutter das Eingeweckte und die mit Wasser gefüllten Gläser zu stehen hatte, um notfalls etwas zum Trinken zu haben, ein Glas mit Wasser, weil er wohl dachte, dass Wodka darin wäre. Meine Mutter gab es ihm und er ging nach oben. Einige Zeit später kam er wieder herunter und das Gleiche wiederholte sich. Mein Vater wünschte diesmal, dass er dienstlich abberufen werden sollte. Die Tür ging oben auf und sein Vorgesetzter kam und rief ihn heraus. Zwar wehrte er sich, aber dann ging er doch. Es waren Erlebnisse, die mein Leben sehr geprägt haben.

Es war etwa am 21. oder 22. Februar 1945, da kamen die Russen herunter und sagten uns, wir müssten alle raus, wir müssten weg, es käme ein großen Angriff und dieses Haus werde wahrscheinlich nicht stehen bleiben. Wir müssten in ein größeres Haus. Damit war ein Geschäftshaus gemeint, in das wir häufig einkaufen gegangen sind. Das Haus hieß ironischer weise „Frieden“, und dort brachte man uns in den ersten Stock. Vor dem Haus stand die Stalinorgel. Von dort schoss man über das Haus in den anderen Teil meiner Heimatstadt. Es war furchtbar laut. Alle Scheiben gingen zu Bruch. Wir lagen da auf dem Boden und vor lauter Aufregung hatten meine Mutter und ich vergessen, mir etwas Warmes anzuziehen. Als wir dort ein paar Tage waren hat man uns auch dort hinausgetrieben und wir mussten uns mit den anderen Bewohnern aus unserer Strasse vor einem Haus aufstellen, in dem die Russen waren und ihr Maschinengewehr geputzt haben. Sie bewegten es so hin und her, als wollten sie uns alle erschießen. Es geschah jedoch nicht.

Man trieb uns weg in Richtung Osten. Wir waren etwa vierzig Personen und man wählte einen Führer, der uns wegbringen sollte. Wir liefen durch den Wald und sahen von Ferne, dass die ganze Stadt brannte. Der Himmel war feuerrot. Ich war so müde, dass ich bei einer Rast – ich hatte ja nächtelang nicht oder nur kurz geschlafen – mich auf einen Reisighaufen legte und einschlief. Meine Mutter weckte mich, ich war so müde, ich wollte nicht gehen. Aber ich musste mit. Nun begann eine Odyssee durch den Wald. Wir sahen viele tote Pferde, auch tote Soldaten. Einer davon war vor wenigen Tagen bei uns einquartiert gewesen und er hatte gesagt, wenn die Russen kommen werde ich mich erschießen

Wir hatte nichts zu essen. Ich sah, dass unser Treckführer bei einigen toten Pferden Stücke herausschnitt und wir ekelten uns furchtbar. Als wir dann in einer Turnhalle irgendwo zur Rast blieben, da hatte er das Fett ausgebraten und von irgendwo her auch Brot aufgetrieben. Jeder bekam eine Scheibe Brot mit diesem Fett. Das haben wir alle gegessen und keiner hat sich mehr geekelt. Er hatte auch ein Glas Eingewecktes, wovon jedes Kind einen Löffel voll bekam. Er ging so reihum und die Kinder bekamen so viel, bis das Glas leer war. Dort bleiben durften wir nicht. Man trieb uns weiter über Sorau (Żary), Sagan (Żagań). In Sagan blieben wir für eine Nacht in einer Wohnung. Mein Vater war sehr krank, deshalb war er nicht beim Militär.

Mein Bruder und ich mussten unter dem Tisch schlafen. Man legte eine dünne Decke darunter und ich habe fürchterlich gefroren. Wir hatten jedoch nichts anderes. Am nächsten Tag ging es weiter und letztendlich blieben wir in Petersdorf (Piechowice), das liegt etwa fünf Kilometer hinter Sagan. Das ist ein Straßendorf, wie es viele dort in der Gegend gibt. Erst gingen alle zu einem größeren Haus, das war eine Schmiede. Das Dorf selbst war menschenleer. Die Leute, die dort wohnten, waren alle geflüchtet und jeder suchte sich, so schnell es ging, eine Bleibe. Nur mein Vater blieb mit uns draußen stehen. Ich sagte: „Papa, was ist, wollen wir uns nicht auch ein Zimmer suchen?“ Er sagte: „Warte!“ Was ihn dazu bewegt hat, hat er mir nie gesagt. Aber dann gingen wir hinein und alle Zimmer waren belegt. Er ging ganz oben auf den Dachboden. Dort gab es ein kleines Kämmerchen und er sagte: „Hier werden wir hineingehen.“ Nachts hörten wir, wie die Russen kamen und wir hörten, wie die Frauen um Hilfe riefen. Wir hörten, dass sie bei uns vorbei gingen und bei der Tür suchten, um den Eingang zu finden. Es war ja dunkel, es gab keinen Strom. Aber sie fanden ihn nicht und wir blieben in dieser Nacht unversehrt.

Am nächsten Morgen gab es einen Aufruf, wer von den Einquartierten arbeiten könnte. Gesucht wurde eine Schneiderin, jemand der Schuhe besohlen könnte, und man suchte auch Leute, die auf der Straße arbeiten sollten. Mein Vater konnte nicht viel arbeiten, aber Schuhe besohlen konnte er, denn er hatte immer unsere Schuhe besohlt. Meine Schwester Ilse war Näherin und auch meine Tante Dora, die bei uns war, sagte sie könne nähen. So hat man uns aus dem Haus herausgeführt und uns in einem kleinen Bauernhaus einquartiert. Wir hatten auch dort nur ein Zimmer. Nebenan war noch ein kleines Zimmer. Darin war eine junge Frau mit ihrem Kind. Dann gab es eine ganz winzige komische Küche. Aber wir waren für uns. Allerdings war das an der Strasse und immer wieder bekamen wir Besuch von den Russen. Manchmal waren sie freundlich und haben uns Essen gebracht. Einmal so viel Fleisch, dass wir es gar nicht essen konnten. Aber sie haben uns auch immer wieder belästigt.

Da erinnere ich mich an eine Sache, wo sie sagten: „Frau, komm!“ Meine Mutter sagte zu meinem Bruder Horst und mir: „Geht raus und holt Hilfe.“ Wir wollten raus, aber ein Russe stellte sich breitbeinig vor die Tür und breitete die Arme aus, so dass wir nicht hinaus konnten. Ich biss ihn in die Hand, er zog sie weg und dann rannten wir hinaus und haben geschrien.

Die Russen durften es eigentlich nicht. Zumindest die Russen, die bei uns waren. Wenn sie bei einer Vergewaltigung erwischt wurden, hat man sie hart bestraft. Aber sie haben es natürlich trotzdem getan. Als wir so laut geschrien haben, bekamen sie Angst und sind rausgegangen. Mein Vater schrie: „Ilse, geh‘ ganz schnell weg!“ Sie schlief auf einem Sofa vor dem Fenster. Ilse gehorchte und in dem Moment fiel ein großer Stein durch das Fenster. Sie waren so wütend, dass sie sich auf diese Weise Luft machten. Aber dann hatten wir für diese Nacht Ruhe.

Etwas Lustiges ist auch passiert. Wenn Russen kamen und befahlen: “Rabota“, also arbeiten, musste man mitgehen, da konnte man sich nicht verweigern. So kamen sie auch eines Tages, und meine Schwester und meine Tante Dora gingen mit. Wir hörten sie von weitem schreien und meine Mutter sagte: „Kommt schnell, wir müssen nachsehen, was da passiert ist.“ Wir rannten hin und sahen meine Tante Dora und Ilse und noch andere junge Frauen auf dem Tisch stehen, und die Mäuse, die sich dort eingenistet hatten liefen voller Angst die Wände rauf und runter. Die Russen hatten es als Stall und Ablage benutzt. Es war sehr schmutzig und die Mäuse hatten sich vermehrt. Vor ihnen hatten die Frauen Angst. Wir waren also froh, dass es nichts weiter war als Mäuse, und gingen beruhigt wieder zurück.

Mein Bruder Horst und ich gingen durch das Dorf. Wir hatten einen kleinen Spielzeugwagen gefunden und durchsuchten die Häuser nach etwas Essbarem und nach Kleidung. Meine große Schwester Anni hatte dort ihr erstes Kind entbunden, den kleinen Peter, ohne Hebamme und ohne Arzt. Eine Bauersfrau stand ihr zur Seite und sie hatte natürlich keinen Kinder-Wagen. So durchsuchten wir den ganzen Ort und fanden auch einen Kinderwagen sowie ein paar Dinge, die man für das Baby benutzen konnte. Manchmal hatten wir Angst und mitunter haben wir uns auch versteckt. Hinterher hörten wir von unserem Treckführer, dass er uns gefolgt ist, um uns zu beobachten, was wir da treiben, und der dann unseren Eltern amüsiert erzählt hatte, was wir alles gemacht haben. Wir haben von allem gekostet, was herum lag, ob es schmeckt oder ob man es möglicherweise essen könnte. Manchmal sind wir an Waschpulver geraten, den wir für Puderzucker hielten. Wir tobten in den Scheunen herum, die es gab. Wir sprangen von oben runter in das Heu. Wir waren dort vom Februar bis zum Ende des Krieges im Mai 1945.

Viel Negatives ereignete sich, aber auch Geschehnisse, die wir als Wunder betrachteten, konnten wir erleben. Die Kommandanturen wechselten häufig. Wie ich beobachten konnte, haben sich manche der russischen Soldaten Axelstücke von meiner Schwester nähen lassen, um mehr zu scheinen als sie waren. Sie ließen sich auch Hosen nähen. Ich erinnere mich noch, dass ein Russe so eine Hose anprobierte. Sie gefiel ihm und er setzte sich voller Freude auf einen Stuhl, sprang aber sofort wieder auf. Meine Schwester hatte wohl eine Nadel darin vergessen und hatte nun Angst, dass er uns erschießen würde, aber zu unserem Glück lachte er nur. Als eine der Kommandanturen versetzt wurde, nahmen sie meine Schwester und meinen Vater mit. Die Schwester setzten sie auf einen Panjewagen, einen Pferdegespann mit diesen besonderen mittelgroßen ausdauernden Pferden. Mein Vater sollte laufen. Meinen Vater schickten sie bald wieder zurück, weil sie merkten wie krank er war. Meine Schwester Ilse war damals sechzehn Jahre alt. Sie hatte einen Rucksack gepackt und es gab Zeugen, die gesagt haben, sie hätten den Rucksack auf dem Wagen gesehen. Als sie weg waren ging meine Mutter hinaus. Sie war sehr traurig und weinte Tag und Nacht. Da sah sie den Rucksack im Flur. Keiner weiß, wie er dahin gekommen ist, und mein Vater sage: „Das ist ein Zeichen, sie wird wiederkommen!“ Sie war einige Zeit weg. Überraschender Weise brachte ein Russe sie wieder und sagte, er konnte es nicht mit ansehen, wie sie geweint hat, und erzählte uns, dass vor ihrer Tür immer Wachen standen. Es ist ihr nichts geschehen, obwohl sie allein unter Russen war.

Ich kenne keine vergleichbare Geschichte. Sie war hübsch, sie war jung, aber man hat ihr nichts angetan. Dieser Russe, der sie zurückbrachte, wurde wahrscheinlich hart bestraft. Er hat es heimlich gemacht, ohne den Vorgesetzten zu benachrichtigen. Was danach mit ihm geschehen ist, wissen wir nicht.

Auch das kam vor in dieser Zeit, dass die Russen hereinkamen und gerufen haben: „Heil Hitler“, um zu sehen, ob meine Eltern mit „Heil Hitler“ antworteten. Das war der geforderte Gruß in der „braunen Zeit“. Meine Eltern haben dem Russen aber nicht mit „Heil Hitler“ geantwortet. Der Russe sagte dann nur: „Hitler scheiße, Stalin scheiße.“ Wörtlich hat er das so gesagt.

Als der Krieg zu Ende war, durften wir wieder nach Hause laufen. Meine Schwester Anni hatte durch die unsachgemäße Entbindung furchtbare Rückenschmerzen und konnte nicht laufen. So haben wir den Kinderwagen geschoben und sie mit dem Handwagen gezogen. Mehrere Tage waren wir unterwegs und haben irgendwo geschlafen. Es waren sechzig Kilometer bis Forst. Wir waren froh, als wir endlich ein paar Schornsteine sahen. Forst war durch die ansässige Tuchindustrie eine reiche Stadt. Es gab auch eine Ingenieurschule für diesen Industriezweig. Als wir zurückkamen war die Innenstadt von Forst zu achtzig Prozent zerstört. Man hatte sechs Wochen lang um Forst gekämpft. Die Russen haben von der östlichen Seite geschossen und die Deutschen von der westlichen Seite. Als wir schließlich zu unserem Haus in Berge kamen, sahen wir, dass es bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Man hat uns erzählt, dass es nicht durch Kriegseinwirkungen geschehen ist, sondern durch die Polen, die einen furchtbaren Hass auf die Deutschen hatten und alles verbrennen wollten. Sie haben jedes zweite Haus angezündet in der Hoffnung, dass alles andere dann auch abbrennt.

Es sind nicht alle Häuser abgebrannt, aber unseres war eben dabei. Das war eines der traurigsten Erlebnisse meiner Kindheit. Daraufhin hatten wir uns in einem Nachbarhaus einquartiert, das noch stehen geblieben war. Mein Bruder und ich streiften wieder durch die Wälder, wo die Russen ihre Bunker und Unterstände hatten. Die hatten sie zum Teil mit Tischdecken und Bettlaken ausgekleidet. Diese Sachen holten wir zusammen und kamen dadurch zu einem notdürftigen Wäschehaushalt. Mein Vater hatte im Garten Bohnen angebaut. Wo er den Samen her hatte, weiß ich nicht. Vielleicht hatte er ihn im Haus gefunden. Ich weiß, dass sie geblüht hatten und schon kleine Bohnen daran waren. Vater und Mutter freuten sich, dass wir schon in einigen Tagen Bohnen ernten könnten. Ich war nicht zu halten. Immer habe ich mich draußen herumgetrieben, und da hat mir jemand gesagt: „Sag‘ deinen Eltern, sie sollen alles zusammenpacken. Ihr müsst hier raus!“ Ich bin schnell nach Hause gelaufen und habe meinen Eltern das gesagt. Sie haben es mir nicht geglaubt. Sie haben gesagt, das kann gar nicht sein, wir sind erst hier eingezogen.

Am nächsten Morgen gegen vier Uhr klopfte es ganz laut an die Haustür. „Raus, raus, raus!“ Den Polen war unsere Heimat östlich der Neiße zugesprochen worden. Innerhalb eine viertel Stunde mussten wir das Haus verlassen. Wir waren schlaftrunken, ich habe geweint. Meine Mutter konnte in der kurzen Zeit nicht viel zusammenpacken. Ich hatte so einen Puppenwagen, da hatten sie das Besteck verpackt, das meine Schwester als ihre Aussteuer mitgenommen hatte. Der Wagen war schwer, es hatte geregnet, ich schaffte es nicht, den Wagen zu schieben und heulte. Meine Puppe lag oben drauf. Die ganze Zeit hatte ich sie mitgetragen und dann kam ein Pole und nahm mir den Wagen weg. Er stieß mich weg, ich weinte und wollte wenigstens meine Puppe haben. Nein, er hat sie mir nicht gegeben. So mussten wir über die Neiße zurück in das jetzt deutsche Gebiet. Die Siegermächte hatten es so gewollt.

Wo sollten wir hin? Wir gingen wieder in das Elternhaus meiner Mutter zurück. Dort konnten wir erst einmal in der Wohnung meiner Tante Anna bleiben. Sie war nicht mehr da, mit meiner Großmutter war sie nach dem Westen geflüchtet. Die Großmutter hatte auf dem Handrücken eine dicke Geschwulst. Sie war aber nicht bereit zum Arzt zu gehen. So hatte man ihr dort, wo sie vorerst Zuflucht fanden, die Hand amputieren müssen und daran war sie gestorben. Schwester Inge Marten, ein Mitglied der Kirche, war auch dort. Sie sagte: „Keiner von den Flüchtlingen, die in diesem Krankenhaus operiert wurden, hat überlebt.“ Ob es gestimmt hat oder nicht, weiß ich nicht. Sie ist eine Schwester, die ehrlich ist. Ich glaube ihr. Ob es menschliches Versagen war oder Absicht lässt sich nicht nachvollziehen. So waren die Kriegs- und Nachkriegsereignisse.

Eines Tages stand ich auf dem Hof bei meinem Vater. Es war wahrscheinlich im Jahr 1947. Ich hatte furchtbar Hunger und sagte zu ihm: „Papa, werde ich mich je wieder satt essen können?“ Und er sagte: „Ja, es wird nicht mehr lange dauern!“ Wie lange es noch dauerte weiß ich nicht, aber wir bekamen dann vom Wohlfahrtswerk der Kirche Spenden; das waren große Kisten und Kartons, die bei uns zu Hause angeliefert wurden. Mein Vater war Gemeindepräsident und ich wollte natürlich gleich, dass wir sie aufmachten. Er sagte jedoch: „Nein, wir warten bis die gesamte Gemeindepräsidentschaft und auch die Frauenhilfs-Vereinigungsleitung zugegen ist. Ich möchte nicht in den Ruf kommen, mir irgendetwas genommen zu haben, was mir nicht gehört.“ Das war in Forst (Lausitz), inzwischen wieder unsere Heimatgemeinde. In den Kisten und Kartons waren Kleidung, Weizenschrot und Konserven. Meine Mutter kochte sofort Weizensuppe mit Pfirsich. Das war einfach herrlich. Man kann es sich heute (im Jahr 2009) gar nicht vorstellen. In den Dosen waren Pfirsiche, Tomaten, Apfelkompott und Schweineschmalz. Auch Vitamintabletten waren dabei, die wir in unserer Dummheit nicht eingenommen haben. Wir wussten gar nicht, was das ist. Und es schmeckte komisch. Ich denke heute, es war Vitamin B. Ich erinnere mich an den Geruch. Wenn meine Mutter genau gewusst hätte, was das ist, hätten wir es schon nehmen müssen. Diese Spenden aus dem Wohlfahrtswerk der Kirche haben uns wirklich vor dem Hungertod bewahrt.

Jahrelang bin ich nur in Kleidern aus diesem Wohlfahrtswerk gelaufen. Es war nicht immer das, was mir gepasst hätte, aber wir waren glücklich und ich hatte endlich etwas anzuziehen. Die Winter bei uns waren im Januar und Februar sehr hart. Es waren Temperaturen zwischen minus zehn und fünfundzwanzig Grad Celsius. Lange Hosen kannten wir gar nicht. Aber da waren Hosen für Jungen dabei, die habe ich angezogen, habe unten in das Hosenbein Schnur eingezogen und zusammengebunden und brauchte nicht frieren. Es waren teilweise sehr schöne Sachen dabei.

Wir sind in Forst geblieben. Ich bin von Präsident Gregory, der in Westberlin residierte, in der damaligen DDR auf Mission berufen worden. Präsident Burkhardt war als Ratgeber des Missionspräsidenten in der DDR tätig und hielt die Verbindung aufrecht. Meine Missionszeit ging von Oktober 1955 bis Sommer 1957. Sie begann in Magdeburg, dann ging es nach Stendal, wo wir auch Rathenow betreuen mussten, von dort nach Köthen in Sachsen-Anhalt mit Besuchen der Gemeinden Leipzig und Dessau. Anschließend war ich in Nordhausen im Harz. Von dort bin ich dann nach Hause entlassen worden Mein Vater lag in dieser Zeit im Sterben. Er hatte eine Landwirtschaft übernommen, dieses so genannte Bodenreformland. Hier möchte ich auf die Geschichte vom Traum meines Vaters zurückkommen, der noch auf ein Mädchen wartete. Der Bruder Siegfried, der statt meiner zuerst geboren wurde, ist mit fünf Jahren gestorben. Der nächste Bruder Horst hat die Landwirtschaft übernommen, weil mein Vater es gesundheitlich nicht schaffte. Obwohl Horst mit 14 Jahren noch sehr jung war, pflügte er mit einem Kuhgespann die Äcker. Das machte er so gut, dass sogar die Alteingesessenen ihn wegen seiner geraden Furchen bewunderten. Zu diesem Bruder hatte und habe ich noch ein sehr, sehr gutes Verhältnis. Man hielt uns sogar für ein Pärchen, was wir natürlich nicht waren. Wir haben alles zusammen unternommen. Später hat er meine Freundin geheiratet, die auch Helga hieß. Sie führen eine glückliche Ehe und haben sieben Kinder. Alle sind in der Kirche aktiv. Also, im Sommer 1957 musste meine Mutter meinen sterbenden Vater pflegen. Meine Schwägerin Helga, die üblicherweise in der Landwirtschaft mithalf, war hoch schwanger. Es war klar, dass sie die Arbeit nicht schaffen konnten. So bat ich dann den Missionspräsidenten Henry Burkhardt, ob man mich früher entlassen könnte, um bei der Landarbeit helfen zu können, was dann auch geschah.

Meinen Mann habe ich an Silvester 1954 bei einem Jugendtreffen in Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz) kennengelernt. Die Mitglieder in der ehemaligen DDR haben immer wieder am Rande der Legalität Veranstaltungen für Jugendliche organisiert. Meine Schwester wurde zu dieser Zeit von ihrer Mission entlassen und bat mich, sie in Karl-Marx-Stadt anlässlich dieses Treffens abzuholen und gleichzeitig daran teilzunehmen. Das habe ich getan. Manfred Henkel tanzte den ganzen Abend mit mir. Seine Cousine riet mir, ihn in Berlin zu besuchen. Ich erklärte ihr jedoch, wenn er was von mir will, dann soll er doch kommen. Es fügte sich, dass er etwa zur gleichen Zeit in der ehemaligen DDR auf Mission war wie ich. Hin und wieder haben wir uns kurz zu Missionarsversammlungen getroffen, die Bruder Burkhardt mit allen berufenen Missionaren durchführte. Nach der Mission, im September 1957, wollten wir heiraten, aber da starb mein Vater. So haben wir im Einvernehmen mit den Familien die Hochzeit auf den 13. November verschoben.

Mit vierzehn Jahren musste ich aus der Schule gehen. Ich hätte gern die Oberschule besucht, um später Musik studieren zu können. Als Kind habe ich mir das so sehr gewünscht, weil ich große Freude an der Musik hatte. In der Familie wurde häufig musiziert. Aber es war nicht möglich. Mein Vater sagte: „Ich kann es nicht bezahlen, und außerdem bist du ein Mädchen. Die Jungs konnten nicht studieren. Ich kann es dir nicht ermöglichen, heirate du und bekomme Kinder!“ Das war zur damaligen Zeit eine verbreitete Ansicht. Oft war es jedoch auch aus der Not geboren. Im Stillen war der Wunsch jedoch weiterhin lebendig. Nach unserer Flucht aus der DDR nach Esslingen in Baden-Württemberg wurde ich in der Gemeinde als Organistin berufen und lernte die Blockflöten spielen. Irgendwann kam eine Schwester aus der Gemeinde Esslingen auf mich zu und sagte: „Die Musikschule sucht einen Flötenlehrer, kannst du das nicht machen?“ „Inge, du spinnst, ich kann das doch nicht gut genug!“ „Aber besser als der, der es jetzt macht; also bitte tu es.“ Dann habe ich mit Zittern und Zagen angefangen Unterricht zu geben. Zumindest für mich habe ich gemerkt, dass ich nicht gut genug bin, und habe zielstrebig weiter gelernt. Schließlich war ich vier Jahre bei der Städtischen Musikschule Esslingen angestellt.

Später haben wir in Bretzfeld gebaut und gehörten nun zur Gemeinde Heilbronn. Dort wurde ich wieder Organistin. Zur Gemeinde gehörte eine junge Schwester, die in Trossingen Musik studiert hatte. Sie wurde später die Frau meines Sohnes Holger, meine Schwiegertochter. Zu der Zeit war jedoch nicht daran zu denken. Sie sagte: „Schwester Henkel, in der privaten Musikschule in Öhringen wird eine Gitarrenlehrerin gesucht. Sie können doch Gitarre spielen!“ Ich entgegnete: „Ich kann ein paar Akkorde, aber nicht viel.“ Darauf sie: „Das reicht.“ – Dass Geld konnten wir brauchen. Das Haus war teuer und wir hatten alle fünf Kinder noch zu Hause. So habe ich zugesagt: „Sagen Sie dem Leiter, ich werde sofort Unterricht nehmen. Ich bin sehr zuverlässig, ich liebe Kinder und kann sehr gut mit Kindern umgehen. Aber im Moment kann ich nicht viel. Wenn er sich darauf einlässt werde ich es machen.“ So kam es, dass ich auch noch Gitarrenunterricht gab. Ab sofort bin ich jede Woche einmal nach Esslingen gefahren zu Inge Vogel, die mich seinerzeit zum Flötenunterricht bewegt hatte. Sie hat selbst als verheiratete Frau mit drei Kindern Gitarrenmusik studiert und dann mich unterrichtet. Es war eine Gratwanderung. Ich war meinen Schülern immer vierzehn Tage im Voraus. Von Inge Vogel erfuhr ich, dass es in Hammelburg jedes Jahr für etwa zehn Tage Weiterbildungsmöglichkeiten für Lehrer gibt. Das nahm ich für einige Jahre in Anspruch. Dort erfuhr ich auch, dass man in Trossingen an der Musikakademie ein Fernstudium für Gitarre absolvieren kann. Ich habe mich angemeldet und bekam schließlich eine Zusage. Zu der Zeit war ich bereits fünfzig Jahre und die Dozenten waren nicht gerade begeistert davon, ich konnte aber einen guten Abschluss machen. Gleich danach habe ich mich für das Blockflötenstudium angemeldet. Beides ging insgesamt über vier Jahre. Seitdem bin ich offiziell legitimiert, Blockflöten- und Gitarrenunterricht zu geben.

Meine Schwägerin Karola sprach mich wegen meines vorgerückten Alters an: „Warum tust du das, du hast doch einen Mann, der für dich sorgt. Warum tust du dir das mit dem Studium noch an?“ Ich habe ihr gesagt, ich weiß nicht, ich weiß nur, dass ich es tun soll. – Im Mai war ich fertig und vier Wochen später brach mein Mann zusammen und hat seit dieser Zeit nicht mehr arbeiten können. Er hatte einen Tumor im Kopf und musste operiert werden. Jetzt wusste ich, warum ich das Studium machen sollte. Es war, glaube ich, die schlimmste Zeit meines Lebens, einen kranken Mann, meinen Haushalt und nachmittags Unterricht. Aber ich habe es geschafft! Wie, weiß ich heute nicht. Jeden Tag habe ich sechs bis acht Stunden unterrichtet und habe meinen Haushalt trotzdem in Ordnung gehabt. Ich habe im Garten gearbeitet; es ging. Für mich ist das auch ein Wunder.

Gegen Ende der Ausbildung hat man uns gefragt, wie viele Schüler wir schon unterrichten. Die einen sagten fünf, die anderen zehn, andere fünfzehn. Ich hatte während meines Studiums schon achtzig Schüler. Das konnte ich niemandem sagen ohne die Missgunst der anderen heraufzubeschwören. Nach dem Studium hatte ich bis hundertfünfzig Schüler, die jede Woche kamen. Ich habe so viel dazuverdient, dass wir die Raten für das Haus bezahlen konnten. Wir waren ja erst vor wenigen Jahren eingezogen. Ein Wunder? Das Haus ist inzwischen bezahlt. Wir haben keine Schulden. Wir konnten noch eine Wohnung kaufen, die zur Hälfte bezahlt ist. Sie ist vermietet. Mit der Miete kann der Kredit getilgt werden. Es gibt keine Verpflichtungen weiter. Wir haben fünf wunderbare Kinder. Eine Tochter, die sehr talentiert war, ist gestorben. Wir sind sehr traurig darüber, aber ich denke, wir werden sie wieder sehen. Alle Kinder sind sehr begabt und sie lieben uns, auch die angeheirateten Kinder, und sie sind uns willkommen. Zu uns gehören dreizehn Enkel und vier Urenkel. Ich denke, wir sind sehr gesegnet! Wir führen es auf das Zahlen eines ehrlichen Zehntens zurück.

Einige Sätze zu meinen Berufungen: Meine erste Berufung mit zwölf oder dreizehn Jahren war Lehrerin in der Kindergartenklasse. Sekretärin in der Sonntagsschule Organistin. Das ist eine interessante Geschichte. Mein Schwager Hans Vogt, der zweite Mann meiner Schwester Anni, war Organist. Er konnte gut spielen, aber er verstarb. Da ich mit acht Jahren ein Jahr Unterricht hatte, war mein Vater der Meinung, ich könnte die Kirchenlieder spielen. Ich sage ihm aber: „Ich kann es nicht.“ Er ließ nicht locker: „Doch, du weißt wo die Tasten sind und du kennst die Noten.“ „Aber ich kann es trotzdem nicht.“ Dann hat er gesagt: „Tu es!“ Ich habe es versucht und bin vor den Gottesdiensten ins Gemeindehaus gegangen, habe geübt, und nach den Gottesdiensten wieder. Ein Bruder Kollo, er konnte zwar nicht gut spielen, aber besser als ich, hat mir ein paar Tipps gegeben. Er meinte, man könne mit der linken Hand nur die Bässe spielen. Sie seien wichtiger als die Tenorstimme. Das habe ich dann auch getan. Ich war froh, dass mich die Gemeinde so toleriert hat, habe es dann aber doch noch einigermaßen gelernt. Was ich nicht vergessen kann, ist folgende Erfahrung: Wenn ich allein im Gemeindehaus saß und beim Üben konzentriert auf die Noten sah, hatte ich das Gefühl, die Tür gehe auf und es komme jemand herein. Aber wenn ich mich umdrehte um zu sehen, war niemand da. Ich bekam eine Gänsehaut und furchtbare Angst und hatte das Gefühl, meine Haare stünden zu Berge. Ich warf den Deckel des Klaviers zu und lief hinaus. Das ist mir mehrmals passiert. Trotzdem habe ich immer wieder geübt.

Weitere Berufungen in der Kirche waren Sekretärin, Lehrerin, Ratgeberin, Leiterin in der Frauenhilfsvereinigung; Lehrerin, Ratgeberin, Leiterin in der Primarvereinigung; Besuchs-Lehrerin, Arbeitsstundenleiterin, Lehrerin in der Jugendklasse der Sonntagsschule; Chorleiterin; seit mehr als fünfzig Jahren Organistin und zur Zeit wieder Primarvereinigungsleiterin.

Hier noch eine Geschichte meines Vaters, die er mir kurz vor seinem Tod erzählt hat. Eigenartigerweise hat er sie nur mir erzählt und nicht meinen Geschwistern. Ich weiß, dass er mich sehr liebte. Mein Vater war als junger Mann, Jahrgang 1896, im ersten Weltkrieg zwischen 1914 und 1918 im Ersten Weltkrieg als Soldat in Russland. Die Deutschen hatten eine Schlacht verloren und waren auf dem Rückzug. Seine ganze Kompanie rannte, um sich in Sicherheit zu bringen. Er lief mit, hörte aber eine Stimme: „Bruno bleib stehen.“ Er lief weiter, weil er niemanden sah. Dann hörte er die Stimme ein zweites Mal: „Bruno bleib stehen!“ Er schaute sich wieder um und sah niemanden. Er rannte weiter, und hörte die Stimme ein drittes Mal: „Bruno bleib stehen, du bist zu schade zum Sterben.“ Endlich blieb er stehen. Die Russen kamen und nahmen ihn gefangen. Einige Jahre war er in russischer Gefangenschaft und kam danach zurück. In seiner Heimat bekam er keine Arbeit. Sein Beruf war Steinmetz und Bildhauer. Er ging nach Forst in die Kreisstadt. Dort lernte er meine Mutter kennen. Sie heirateten und ein paar Jahre später lernten meine Eltern die Kirche kennen. Mein Vater war kein guter Redner und auch nicht sehr musikalisch. Eines Tages war er darüber sehr traurig. Er kniete sich nieder und bat den Vater im Himmel, ER möge ihm Kinder schenken, die diese Gaben hätten, die er an sich vermisste. Von seinen sieben Kindern sind sechs erwachsen geworden. Sie sind alle musikalisch und bis auf einen ganz passable Redner.

Meine Familie umfasst etwa hundertfünfzig bis hundertsechzig Personen. Fast alle sind in der Kirche aktiv. Es gab einen Distriktspräsidenten, Gemeindepräsidenten, Bischöfe, Organisten, Missionare aus drei Generationen. Sie alle haben vieles in der Kirche und in ihrem Heimatbereich bewegt. Rückblickend kann mal wohl verstehen, warum mein Vater nicht sterben sollte.