Radschütz/Köben an der Oder, Wohlau, Niederschlesien
Mein Name ist Rudolf Günther Eberhard Heumos und bin am 07. Juni 1936 in Radschütz (Radoszyce), Standesamt Köben an der Oder [Chobienia], Kreis Wohlau [Wolów] in Niederschlesien geboren. Ich bin das dritte Kind von Rudolf Wilhelm Heumos und seiner Frau Ella Selma Gertrud, einer geborenen Strohwald. Mein Vater war römisch katholisch und meine Mutter evangelisch. lutherisch. Wir sind insgesamt neun noch lebende Kinder. Das zehnte Kind ist schon 90 Minuten nach seiner Geburt gestorben. Nur die ersten sechs Geschwister sind in Schlesien geboren. Die vier anderen hingegen in Neudorf und Spiegelau, Landkreis Grafenau, heute Freyung-Grafenau, im Bayerischen Wald und zwar nach dem Krieg.
Die ersten sechs Jahre meines Lebens verbrachte ich in Radschütz. 1942 zogen wir auf die andere, die rechte (östliche) Oderseite, und zwar nach Irsingen (Iradze). Verwaltungsmäßig gehörte Irsingen zu Herrnlauersitz (Luboszyce), Kreis Guhrau (Akrau). Guhrau liegt kurz vor der ehemaligen deutsch/polnischen Grenze. In Irsingen gab es eine Brauerei, einen Gutshof und ein Schloss, auch einen Kleinbauern, die Schule und einen Kindergarten. An eine Einkaufsmöglichkeit kann ich mich nicht erinnern, aber daran, dass wir in die Bäckerei nach Herrnlauersitz gehen mussten oder mit der Bimmelbahn nach Guhrau fuhren, um dort einzukaufen.
Die Brauerei war nicht in Betrieb, aber der Gutshof war noch bewirtschaftet und das Schloss, es gehörte einem preußischen Junker, diente dem BDM (Bund Deutscher Mädchen) als Unterkunft. Die Mädchen waren im Landeinsatz und halfen überall dort, wo sie gebraucht wurden. Da wir eine kinderreiche Familie waren, hatten wir auch so ein Mädchen als Helferin im Haus.
Wir wohnten nicht direkt im Ort Irsingen, sondern etwa zwei Kilometer nordwärts im sogenannten „Lenschloch“. Kam man von Irsingen nach Lenschloch, so standen etwa 100 Meter vor dem ersten Haus, an der linken Straßenseite, zehn riesige Eichen und eine Schwarzpappel. Lenschloch war eine für Kleinbauern errichtete Siedlung mit fünf baugleichen Höfen und einem alten Bauernhof am Ende, rechts des Weges. Von den Kleinbauernhöfen war nur noch der erste Hof rechts bewirtschaftet und der alte Bauernhof am Ende der Siedlung. Die anderen waren verlassen und standen zum Kauf. Nach dem Krieg wollten meine Eltern den Hof kaufen, auf dem wir wohnten, allerdings ohne die dazugehörenden Felder. Vater schwärmte immer von einer großen Hühnerfarm. Das Wohnhaus war fast quadratisch, bestehend aus Erdgeschoss und erster Stock, mit Flachdach. Die eine Hälfte des Hauses war bewohnbar und die andere bestand aus einer Wasch- und Futterküche mit anschließender Stallung. Darüber war Platz für Heu und Stroh. Wir hatten nur eine Ziege und Kaninchen. Wegen des hohen Grundwasserspiegels war das Haus nicht unterkellert.
In der Waschküche gab es zwar eine Handpumpe, aber die war defekt und so musste das Wasser aus dem Brunnen geschöpft werden. Ab und an entglitt uns der Strick und der Eimer ging unter. Es musste dann immer der Nachbar kommen und mit einer langen Stange, an deren Ende ein Haken angebracht war, den Eimer wieder heraus fischen. Auf dem von uns bewohnten Hofgrundstück gab es aber nicht nur das Wohnhaus mit Stall und den Brunnen, sondern auch eine große Scheune, ein Zwei-Kammern-Tiefsilo (ca. 5 x 5 x 4 m je Kammer) und einen gemauerten Hühnerstall. Im Garten, der zwischen Straße und Haus lag, gab es einen Pflaumenbaum, einen Apfelbaum und am Haus als Spalier, einen Pfirsichbaum und jede Menge Beerensträucher sowie Rhabarber.
Der letzte wirkliche Bauernhof gehörte einem gewissen Pissner. Die Familie Pissner waren die einzigen Katholiken in der ganzen weiten Umgebung. Aus diesem Grund wurden sie immer etwas gemieden und die Kinder in der Schule vom Lehrer schikaniert. Der Pissnervater muss wohl mal den Lehrer an der Gurgel gepackt oder als Parteibonzen beschimpft haben, weil er ins Gefängnis musste. Etwas Genaueres ist mir aber nicht bekannt. Zum Pissnerhof gehörte auch ein relativ großer und tiefer Teich, in den wir im Sommer zum Baden gingen. Als die Flucht angeordnet wurde, beauftragte man den Pissnervater mit der Führung des Flüchtlingstrecks.
Im Lenschloch wohnte noch ein pensionierter Polizeibeamter, der stets mit einem kleinen Sachsmotorrad unterwegs war. Er hatte an uns immer etwas auszusetzen. Die Fenster waren nie so gut verdunkelt, dass nicht irgendwo noch ein Lichtstrahl nach außen gedrungen wäre. Dies war für ihn schon Anlass genug, um Mutter bei der aktiven Polizei anzuschwärzen.
Ab Herbst 1943 hatten wir kaum noch Schulunterricht, weil man in der Schule den Reichsarbeitsdienst einquartiert hatte. Die sogenannten Schanzer mussten Schützengräben ausheben und Befestigungen für die Wehrmacht bauen. Einer dieser Männer hat im Pissnerteich einen großen Hecht gefangen, mit 110 cm Länge. Mit den Ausländern, in der Regel Polen, hatten wir des Öfteren Probleme, weil sie frech und anmaßend waren. Ein Junge von etwa 15 Jahren sagte mal, dass er uns allen die Hälse durchschneiden werde, wenn wir den Krieg verlören. Die Prügel, die er dafür bezog, waren bestimmt nicht von schlechten Eltern. Dagegen kamen wir mit den Kriegsgefangenen Russen, die bei uns zur Landarbeit eingesetzt waren, gut zurecht.
Als Verbindung zur Außenwelt hatten wir ein kleines, altes Radio, einen „Volksempfänger“. Da wir nur die Deutschen Sender hören durften, wussten wir vom Kriegsgeschehen relativ wenig. Dadurch, dass die Nachrichten fast ausschließlich von Siegen berichteten, kam niemand auf die Idee, dass wir uns auf eine Flucht vor den Russen vorbereiten sollten. Erst in den Abendstunden des 20. Januar 1945, kam Tante Hertha aus Guhrau, sie war dort in Stellung, wie es damals hieß und wollte zu den Eltern auf die andere Oderseite nach Bartsch. Sie war ganz überrascht, dass wir noch nichts gepackt hatten, da doch alles aus dem Osten nach Westen flüchtet. Es wurde sofort mit den nötigen Vorbereitungen begonnen. Wertsachen wurden vergraben, soweit dies bei der Kälte möglich war und die Kaninchen geschlachtet. Wir Kinder mussten ins Bett und die beiden Frauen schufteten wahrscheinlich fast die ganze Nacht.
Sehr spät am Abend, ich glaube mich daran zu erinnern, kam der Josef Pissner, Senior und klopfte ans Fenster, um uns mitzuteilen, dass am nächsten Morgen, um 06.00 Uhr in der Früh, ein Fuhrwerk aus dem Gut kommen würde, um uns und zwei weitere Familien zur Flucht vor den Russen abzuholen.
So begann für uns am Sonntag, 21. Januar 1945, 06.00 Uhr, die Flucht vor den Russen und es hieß: „In 14 Tagen seid ihr wieder zu Hause.“ (Diese 14 Tage sind noch immer nicht zu Ende.)
Als das Fuhrwerk vor unserem Haus hielt, waren schon zwei Familien mit ihren Habseligkeiten aufgeladen. Es waren dies ein Kind und zwei Frauen sowie ein älteres Ehepaar. Unsere Mutter hat alles, was irgendwie ging aufladen lassen, vor allem die Federbetten, in welche die jüngeren Geschwister eingebettet wurden. Es war bitterkalt, einer der kältesten Winter, an die ich mich erinnern kann. Es sollen – 42°C gewesen sein. Der endgültige „Treck“ wurde in Irsingen zusammengestellt.
Ein Kleinbauer hatte nur ein Gespann mit zwei Kühen. Ein Kalb, das erst einige Tage alt war, hatte er hinten auf den Wagen gebunden, wo es erfror. Die Gutsbesitzerin thronte allein auf einem Wagen, in Pelze eingehüllt. Endlich setzte ich der Treck in Richtung Oder in Bewegung. In Züchen war die nächste Fähre, um über die Oder zu gelangen, mit der hätten wir übersetzen wollen. Leider war sie eingefroren und so mussten wir einige Kilometer stromaufwärts bis Köben an der Oder, wo man die Fähre mit weniger Aufwand freibekommen hatte. Von Köben an der Oder aus ging es dann wieder Oder abwärts, doch nicht den Fluss entlang und so kamen wir gegen Abend in Kotzenau an. Etliche Familien wurden hier bei einem Bauern einquartiert. Der Bauer war auch schon zur Flucht gerüstet und schlachtete alles, was er an die durchziehenden Flüchtlinge verkaufen konnte. Wie er das alles bewältigen konnte, weiß ich nicht. Jedenfalls war es gar nicht so einfach, weil jedes Stück Vieh, ob groß oder klein, registriert war. Die Lebensmittel waren ja rationiert und jeder konnte nur das kaufen, was er laut Lebensmittelkarte zugeteilt bekommen hatte.
Mutter hat auch ein halbes Schwein gekauft. Es wurde in einen großen Reisekorb gepackt und bei der Kälte bestand keine Gefahr, dass es hätte verderben können. Bei dem Bauern in Kotzenau blieben wir ein paar Tage und setzten uns dann vom allgemeinen Flüchtlingstreck ab. In Raudten bestiegen wir schließlich einen Zug. Mutter wollte mit uns sechs Kindern zu Verwandten nach Plottendorf, bei Altenburg in Thüringen. (Plottendorf ist heute kein selbständiger Ort mehr. Es ist heute ein Ortsteil von Treben zwischen Altenburg und Leipzig gelegen.) Dort lebte eine Schwester vom Vater, Tante Gretl, wie wir sie nannten. Mit vollem Namen hieß sie Margarethe Heinicke, da sie mit Kurt Heinicke verheiratet war. Onkel Kurt war fast blind und wenn er zur Arbeit musste, fuhr Tante Gertl mit dem Fahrrad vorweg und hatte hinten am Gepäckträger eine rot leuchtende Karbidlampe befestigt und diesem roten Schein folgte Onkel Kurt. Seine Arbeit bestand darin, Feldloren zu beladen und dazu brauchte er nicht viel zu sehen. Seine Arbeitskameraden stellten eine leere Lore hin und Onkel Kurt schaufelte sie voll. Seine Arbeitskameraden tauschten dann jeweils die volle Lore gegen eine entleerte aus.
Leider kamen wir einen oder zwei Tage zu spät dort an, denn die anderen Verwandten aus Breslau waren schon da und hatten alle verfügbaren Räume belegt. Wie lange wir trotzdem in Plottendorf waren, weiß ich heute nicht mehr, doch von dort kamen wir nach Leipzig. In Leipzig lebte auch eine Schwester von Vater, die Tante Liesl (Elisabeth). Hier wurden wir bei einem Arzt einquartiert. Tante Liesl hatte diese Wohnung für uns besorgt. Ich kann mich noch an das Zimmer erinnern, weil es abgerundete Ecken hatte. Für uns Kinder vom Land war Leipzig natürlich ein Erlebnis und wir drei ältesten Jungs waren ständig in der Stadt unterwegs. Wie wir es geschafft haben, immer wieder nach Hause, zu Mutter und Geschwister, zu kommen, ist mir heute noch ein Rätsel. Tatsache ist, dass wir stets unversehrt dort ankamen. Wenn Fliegeralarm gegeben wurde, mussten wir die Straße verlassen und in den nächstgelegenen Luftschutzkeller gehen und auf Entwarnung warten. Welche Ängste Mutter ausgestanden haben musste, weiß ich heute eher einzuschätzen als damals. Wir trieben sogar mit Kriegsgefangenen einen kleinen Handel. Es war verboten und gefährlich, doch wir tauschten Brot gegen Zucker. Ob wir mehr Zucker hatten oder mehr Brot, das weiß ich heute nicht mehr. Ich nehme aber an, dass wir Zucker im Überfluss hatten, weil wir als Kinder keinen Zucker mochten.
Zu dieser Zeit hatte die Stadt schon etliche Fliegerangriffe erlebt und überall gab es Ruinen. Wir durften sie eigentlich nicht betreten, weil es zum einen viele Blindgänger (nicht explodierte Brandbomben) und zum anderen auch Plünderer gab. Uns interessierten mehr die Blindgänger. An eine Ruine kann ich mich noch sehr gut erinnern. Sie hat mich fasziniert, weil nur noch der Kamin dastand und alles andere rundherum eingestürzt war. Es muss ein dreistöckiges Haus gewesen sein und oben, in der ehemaligen dritten Etage, stand eine Kaffeekanne auf einem kleinen Kaminsims. Heute würde ich sagen: „Spitzweg hätte es nicht besser zeichnen können.“
Lassen sie mich noch ein Wort zu den Blindgängern sagen. Es handelte sich um Bomben, die nicht explodiert waren und in den Ruinen oder im Parkrasen steckten. Wir hatten bald herausgefunden, wie man so einen Blindgänger zur Explosion bringen konnte. Ein Stecken mit einem Nagel am Ende diente als Werkzeug. Mit dem Nagel wurde ein kleines Rädchen am Ende der Bombe in Bewegung gesetzt und dann hieß es laufen, so schnell es die Beine schafften. Keiner von uns kannte die Gefahr und keiner wusste, wie weit der Zeitzünder schon abgelaufen war. Wir müssen ein ganzes Regiment an Schutzengeln beschäftigt haben, denn keiner von uns wurde je verletzt. Munition lag komischerweise überall umher, und wie man das Geschoss von der Hülse trennen konnte, um an das Pulver zu kommen, haben wir von älteren Jungs erfahren, die Solches bei der HJ (Hitlerjugend) gelernt hatten. So sprengten wir eines Tages eine Straßenbahn aus den Schienen. Der Sprengstoff war das Pulver, welches wir aus der Munition gewonnen hatten und als Sprengkapsel benutzten wir eine leere Patronenhülse. Pulver und Hülse wurden auf die Schiene gepackt, und als die Straßenbahn darüber fuhr, explodierte das Zeug und die Straßenbahn stand neben den Schienen. Wir haben die Männer vom Volkssturm und die Polizei, soweit es sie gab, ganz schön auf Trab gehalten.
Eines Tages gab es schon morgens um 10.00 Uhr Fliegeralarm und alles verschanzte sich in die Keller. Nicht alle Keller waren wirkliche Luftschutzbunker. Sie stürzten teilweise genauso ein, wie das übrige Gebäude auch, dann mussten die Verschütteten wieder befreit und die Toten geborgen werden.
Die Luftschutzwarte steckten ab und zu mal die Nase raus und erzählten dann, dass es Tiefflieger waren, welche die Stadt bombardierten. Dieser erste große Tieffliegerangriff auf die Stadt Leipzig dauerte bis gegen 14.00 Uhr. Erst hinterher durften wir aus dem Keller und was wir sahen war entsetzlich. Die ganze Stadt stand in Flammen. Die Feuerwehren waren hoffnungslos überfordert und löschten in der Regel nur dort, wo hohe Parteigenossen wohnten. Unsere Unterkunft hatte ebenfalls etwas abbekommen und so durften wir nicht mehr ins Haus, sondern wurden in eine Schule ausquartiert. Hier wurde alles gesammelt, was kein Dach mehr über dem Kopf hatte. Angefangen bei den Flüchtlingen, über die Mädchen vom BDM (Bund Deutscher Mädchen), sowie Flagg-Helferinnen oder von der Front zurückkehrende Soldaten, alles wurde hier gesammelt, verpflegt und betreut. Die unschönen Dinge erzähle ich hier lieber nicht.
Was wir dort auch bekommen hatten, waren Kleiderläuse. Eine Mutter mit sechs Kindern, im Alter von 2 ½ bis 12 Jahren, völlig verlaust. Zur Entlausung brachte man uns in eine Baracke der Wehrmacht und unsere Kleidung wurde in eine Art Backofen gesteckt, in dem die Läuse und die Nisse (Eier der Läuse) durch Erhitzen abgetötet werden sollten, während wir in die Badewanne mussten, wo man uns mit Schmierseife schrubbte. Ich habe den Geruch der Schmierseife noch heute in der Nase und werde ihn wahrscheinlich niemals ganz loswerden. Die Kleiderläuse wurden wir ebenfalls nicht ganz los.
Nach dieser Prozedur kamen wir nicht mehr zurück in die Schule, sondern wurden gleich in einen Zug verfrachtet, der uns aus der Stadt bringen sollte. Im Zug waren nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Menschen, die obdachlos geworden waren und viele alte Leute. Keiner wusste, wohin es ging. Es wurde auch keine kontinuierliche Bahnfahrt, sondern eine Etappenfahrt. Es mangelte an allem und die Wehrmacht hatte stets Vorrang. So geschah es, dass wir irgendwo im Wald anhielten und stundenlang standen. Die Lokomotive wurde irgendwo anders gebraucht. Die Kohlen waren ebenfalls knapp und ohne Heizmaterial fuhren die Züge damals nicht. Irgendwann sickerte die Nachricht durch, dass wir nach Bayern gebracht wurden. Niemand wusste so recht, wo Bayern lag.
In Hof verließen wir Thüringen und betraten bayerischen Boden. Weiter ging es über Regensburg und ich glaube die alle Zuginsassen sangen das Lied: „Als wir jüngst in Regensburg waren!“ Aber unser Ziel war Grafenau im Bayerischen Wald. Über Plattling ging es nach Zwiesel. Hier wurde der Waggon, in dem wir waren, abgekoppelt und in Richtung Grafenau umrangiert. Der Rest des Zuges fuhr weiter nach Bayerisch Eisenstein und mit ihm unser bisschen Hab und Gut: Ein Drahtgitter-Kinderbett auf Rädern und darin waren unsere sämtlichen Habseligkeiten. Gesehen haben wir davon nie wieder etwas. Es hieß zwar, wir könnten unsere Sachen am anderen Tag in Bayer. Eisenstein abholen, doch als Mutter mit Siegfried, unser ältester Bruder, dort ankam, gab es da keinen Zug mehr.
Vom Bahnhof Grafenau ging es mit einem Holzgaser (LKW, der keinen Benzintank hatte, sondern einen Kessel, in dem Holz verbrannt und Gas erzeugt wurde) nach Neudorf, ca. 4 Kilometer entfernt. Hier wurden wir im Gasthof einquartiert. Grafenau war damals eine kleine Kreisstadt und wurde bei der Gebietsreform mit dem Landkreis Wolfstein zusammengelegt. Diese Verwaltungseinheit nennt sich jetzt Landkreis Freyung-Grafenau. Schon am ersten Abend nach unserer Ankunft gab es mit den Jungs aus dem Dorf Ärger. Wir sollten beim Bürgermeister Milch holen und wurden angepöbelt. Die Jungs vom Bürgermeister waren die Frechsten. Wir ließen uns nicht ungestraft anpöbeln und so bezogen die Bürgermeisterjungs eine ordentliche Tracht Prügel. Der älteste Sohn des Bürgermeisters meinte, ich hätte nicht gedacht, dass die „Preißn“ solche Kraft hätten. Der Bürgermeister hieß übrigens Josef Fischer und der älteste Sohn wie sein Vater. Später ließ man uns weitgehend in Ruhe und es wurde auch die eine oder andere Freundschaft geschlossen.
Die anderen Familien, die mit uns gekommen waren, verließen nach und nach den Gasthof und schlossen sich anderen Flüchtlingsgruppen an oder den Heimatvertriebenen aus der Tschechoslowakei (Böhmen). Wir hatten nichts mehr und so mussten wir notgedrungen bleiben. Nach ein paar Wochen waren wir nur noch allein in der Gaststube des Wirtshauses. Da kam eines Tages der Älteste von uns, Siegfried, heim und beklagte sich wegen Juckreiz am ganzen Körper. Mutter wusste gleich, dass die Kleiderläuse wieder bei uns Einzug gehalten hatten. Mutter fand auch einige in den Nähten der Kleidung. Die Erfahrung von der Entlausung in Leipzig sagte, dass die Kleider ins Backrohr mussten. Jetzt galt es besonders darauf zu achten, dass es nicht zu heiß wurde, damit die wenigen Kleidungsstücke nicht zu Schaden kamen. Das war das endgültige Aus für die Kleiderläuse. An deren Stelle traten jetzt die Kopfläuse. Die hatte hier so gut wie jedes Kind und auch die Erwachsenen waren nicht frei davon. Als im Mai die Amerikaner kamen, lebten wir noch immer in der Gaststätte. Das Gasthaus wurde als Kommandantur gebraucht und wir mussten zu einem Bauern, Namens Schopf, auf die andere Straßenseite ziehen.
Was erwähnt werden sollte, ist die Tatsache, dass wir keinerlei finanzielle Unterstützung bekamen, da es hier über die Männer, die in der Wehrmacht dienten, keinerlei Unterlagen gab. Wir lebten von unseren Ersparnissen. Zum Glück hatte Mutter bei der Flucht die Sparbücher mitgenommen. Schon vor der Währungsreform waren unsere Sparbücher leer und wir mussten mit den 40,– DM Kopfgeld zu Recht kommen. Wir Flüchtlingskinder durften auch keine Schule besuchen. Erst nachdem sich das Leben unter der Führung der Amerikaner etwas normalisiert hatte, durften wir wieder zur Schule gehen.
Nachdem die amerikanische Armee die Kommandantur aufgegeben hatte, zogen wir wieder ins Gasthaus zurück. Weihnachten 1945 feierten wir noch in der Gaststube. Inzwischen hatten wir etwas Wohlstand erreicht. So schliefen wir nicht mehr auf dem Fußboden auf Stroh, sondern in richtigen Betten, die uns der örtliche Schreiner gefertigt hatte. Das Stroh befand sich jetzt in den Strohsäcken. Die beiden Bettgestelle waren natürlich nicht ausreichend, aber mehr brachten wir in dem Raum nicht unter und so schliefen wir zu dritt oder gar zu viert in einem Bett. Zwei oben, zwei unten.
Erst im Laufe des Jahres 1946 bekamen wir eine Zweizimmerwohnung in der Dorfmitte beim Bauern Blöchinger. Der Hausname war „Brunnenbauer“. Wir wurden im sogenannten Austraghäuschen untergebracht. Wir Jungs schliefen im Zimmer neben der Küche, immer noch vier Personen in zwei Betten und Mutter, mit den beiden Mädchen, in der Küche.
Der Bauer war nicht gerade das menschenfreundlichste Wesen und so hatten wir im Sommer, wenn es längere Zeit nicht regnete, kein Wasser. Die Brunnen waren nicht tief genug und eine zentrale Wasserversorgung gab es damals nur in den Städten. Die Bauern hatten alle ihre eigenen Brunnen, mit von Hand betriebener Pumpe. Unser Bauer nahm den Pumpenschwengel weg und so saßen wir auf dem Trockenen. Siegfried hatte bald herausgefunden, wo der Pumpenschwengel versteckt war und so warteten wir stets eine günstige Zeit ab, wenn der Bauer gerade nicht im Hof war, und holten uns einen oder zwei Eimer voll Wasser. Manchmal schickten wir den Weber Michl zum Wasser holen und der brachte immer welches, weil ihm keiner der Bauern etwas verwehrte.
Der Weber Michael war ein junger Mann von etwa 20 Jahren, der an Epilepsie litt. Außerdem war er mondsüchtig. Er hatte nie die Schule besucht und lief den ganzen Tag im Dorf herum und erledigte kleine Arbeiten für die Bauern und andere Dorfbewohner. Dafür bekam er ein Zehnpfennigstück oder etwas zu essen. Wenn er einen epileptischen Anfall bekam, fiel er einfach um und blieb mit Schaum vor dem Mund liegen bis er wieder aufwachte. Für ein „Zehnerl” (Zehnpfennigstück), hüpfte er in die Hände klatschend die Dorfstraße rauf und runter und sagte laut vor sich hin: „I spinn, i spinn . . .“. Uns nannte er „die neuen Leute“ und Mutter gab ihm fürs Wasser holen immer eine Scheibe Brot mit Marmelade. Es durfte kein Fleckchen frei sein, da er dann böse und unberechenbar wurde. Manchmal kam er auch einfach so und bettelte um ein Stück Marmeladenbrot. Der Gemeindeschreiber benutzte den Michl als Boten, wenn eine Nachricht schnell im Dorf verbreitet werden musste. Die Botschaft wurde in einen, speziell für diesen Zweck gefertigten, Hackl geklemmt und der Michl trug ihn von Haus zu Haus und bekam in jedem Haus ein Geldstück. Er konnte die Geldwerte schon unterscheiden. Gelegentlich ging er auch in die Gemeindekanzlei und bat um den Hackl, weil er ihn durchs Dorf tragen wollte, um etwas Geld zu bekommen oder weil ihm ganz einfach langweilig war. Gab es keine Nachricht, schrieb der Gemeindesekretär auf einen Zettel „I spinn“ und der Michl trug brav diese Nachricht von Haus zu Haus. Sein Onkel, ein gewisser „Süß“ hat ihn immer verprügelt, wenn er ihn im Dorf antraf und hat ihn anschließend heimgeschickt. In seiner Mondsüchtigkeitsphase konnte es schon einmal passieren, dass er bis ins Nachbardorf Lichteneck ging und dort irgendwelchen Unfug anstellte. Einmal wurde er nachts in einem Pferdestall angetroffen, als er gerade dabei war, die Pferde von der Kette zu lassen. Der Michl konnte auch ganz gezielt mit Steinen werfen. Selbst auf größere Entfernungen traf er noch sicher sein Ziel. Doch im Großen und Ganzen war er ein armer, bedauernswerter Mensch.
Noch ein Wort zu Herrn Süß: Kam man von Grafenau nach Neudorf, so war das erste Haus auf der linken Seite der Straße, das Anwesen von Herrn Süß. Von einer Frau Süß habe ich nie etwas gehört. Herr Süß war Mitglied der NSDAP und lief nur in seiner Uniform herum. Er schikanierte alle Leute im Dorf und so brachte er am Tage des Einmarsches der Amerikaner in aller Herrgottsfrühe noch den sogenannten Volkssturm auf die Beine und sie bauten ein paar Hundert Meter vor Lichteneck eine Panzersperre, quer über die Straße. Soweit ich mich noch erinnern kann, war das Begilde etwa 1,5 Meter hoch und 2 Meter breit, aus Baumstämmen oben und unten und dazwischen mit Steinen ausgefüllt. Ein Steinbruch befand sich links der Straße, kam man aus Richtung Grafenau. Für die amerikanische Armee wäre es ein leichtes gewesen, dieses Hindernis zur Seite zu schieben, doch die Amerikaner holten Bewohner von Lichteneck und ließen das Hindernis beseitigen. Das verwendete Material lag noch lange rechts und links der Straße. Der Vormarsch der amerikanischen Truppen wurde nur für kurze Zeit aufgehalten und als die ersten Fahrzeuge von Neudorf aus sichtbar wurden, war Herr Süß der Erste, der eine weiße Fahne schwenkend, den Amerikanern entgegen lief.
An das genaue Datum des Einzugs der Amerikaner kann ich mich nicht mehr erinnern. Es war aber auf jeden Fall im Mai 1945. Auch weiß ich nicht mehr, wann sie das Dorf wieder verließen. Für uns Flüchtlinge waren die amerikanischen Soldaten ganz einfach Menschen wie wir auch, nur dass wir ihre Sprache nicht verstanden. Wenn sie in ihren Jeeps durchs Dorf fuhren, warfen sie fast immer angerauchte Zigaretten aus dem Fahrzeug. Heute würde ich sagen provokativ, denn sie wussten genau, dass wir uns auf die Kippen stürzen würden. Das Kippensammeln war damals üblich und nicht nur die Flüchtlingskinder waren scharf darauf, sondern auch die Bauern. Die noch glimmenden Zigarettenstummel löschten wir und schnitten den angebrannten Teil ab, lösten den Tabak aus dem Papier und sammelten ihn in einer Büchse (Konservendose), um ihn, wenn die Menge groß genug war, bei den Bauern gegen Schmalz oder Eier einzutauschen. Für Tabak bekam man damals fast alles. Es waren auch ausgesprochen nette Soldaten dabei, die schon mal eine ganze Schachtel Zigaretten aus dem Jeep warfen. Diese Zigaretten waren für uns Goldwert. Dafür konnte Mutter auch manchmal ein Stück Speck eintauschen. Natürlich versuchten wir uns auch mit dem Rauchen, aber wenn wir dabei erwischt wurden, gab es Ohrfeigen.
Während der „Besatzungszeit“ gab es eine Ausgangssperre. Die Dorfbewohner mussten beim Dunkelwerden zuhause sein und durften die Häuser nicht mehr verlassen. Da Mutter oft schon frühmorgens losging, um irgendetwas Genießbares zu erbetteln oder einzutauschen, wussten wir nie, ob sie bis zum Einbruch der Nacht wieder zurück sein würde. Sie hat es aber immer geschafft, rechtzeitig zurück zu sein. Das war für sie bestimmt nicht immer ganz so einfach, wie sich das heute so liest, denn wir waren ja erst im März ins Dorf gekommen und im Mai waren die Amerikaner schon da. Viel Zeit war da nicht, um sich in der weiteren Umgebung zurechtzufinden.
Die Soldaten buddelten meist außerhalb des Dorfes Mulden, in denen sie die Küchenabfälle und andere Dinge entsorgten. Meistens wurde das Zeug mit Benzin übergossen und angezündet. Kaum waren die Soldaten weg, fischten wir mit längeren Stecken die noch brennenden Lebensmittel aus dem Feuer, löschten sie und brachten sie nachhause. Das machte unseren Speiseplan abwechslungsreicher. Wir haben auch schon mal ein Hühnchen in einer Konservendose vor Ort gekocht und gleich gegessen. Was wir sehr schätzten waren die Kekse und der Käse in Dosen. Er schmeckte zwar angekohlt, doch wir fanden ihn köstlich.
An eine Begebenheit kann ich mich noch sehr gut erinnern. Wir Jungs standen an der Abfallmulde und suchten nach noch brauchbaren Überresten. Da kam ein größerer Jeep und warf frische Sachen in die Mulde. Wir wollten gleich einiges in Sicherheit bringen, aber einer der beiden Soldaten ließ es nicht zu. Es war ein „Weißer“, während der andere dunkelhäutig war. Der im Dienstrang höhere war aber der Farbige. Er winkte uns hinter das Fahrzeug und gab uns eine relativ große Schachtel mit Keksen, die wir Freude strahlend annahmen, worauf wir uns bedankten und aus dem Staube machten. So wie wir damals in Leipzig keine Probleme mit den Gefangenen hatten und mit ihnen Handel trieben, so hatten wir auch mit den amerikanischen Soldaten keine Berührungsängste. Für uns war die Besatzungszeit eine positive Zeit und wir konnten uns sozusagen auch nicht beklagen.
Unsere Ernährung bestand damals überwiegend aus Kartoffeln und „Mehlsuppe“. Ich meine mich daran erinnern zu können, dass ein ca. fünf Liter fassender Topf mit Wasser gefüllt und auf dem Ofen gestellt wurde, bis das Wasser kochte. Mutter hat in einer Tasse Wasser und Mehl verquirlt und den Brei in das kochende Wasser im Topf gerührt. Diese Suppe wurde etwas gesalzen und dazu gab es trocken Brot. Die amerikanischen Kekse waren eine wahre Delikatesse und bereicherten unseren Speiseplan. Im Sommer ging es uns besser, weil wir Beeren und Pilze sammeln gingen, die wir zum Teil verkauften und zum Teil selbst verbrauchten. Für den Winter wurden Heidelbeeren und auch Pilze getrocknet.
Hinzu kamen die Dinge, die wir mit unseren Lebensmittelmarken im Kolonialwarengeschäft kaufen konnten. Die Lebensmittelkarten wurden einmal im Monat ausgegeben und waren in der Gemeindekanzlei abzuholen. Die zugeteilten Mengen waren auf den Kalorienbedarf der Menschen abgestimmt. Stillende Mütter oder Schwerarbeiter bekamen Sondermarken. Wer sonst noch Sondermarken bekam weiß ich nicht. Wenn wir Lebensmittelmarken abholen gingen, standen die Leute meist schon Schlange. Wir achteten stets darauf, dass wir hinter einem Mädchen mit Zöpfen zu stehen kamen, weil wir uns wegen der Läuse amüsierten, die an den Zöpfen auf und ab marschierten.
Die zugeteilten Fleischrationen waren sehr knapp bemessen und alle freuten sich, wenn es auf der „Freibank“ Fleisch ohne Marken gab. Die Freibank war in Grafenau, 4 Kilometer von Neudorf entfernt. Die Nachricht von „Freibankfleisch“ verbreitete sich stets wie ein Lauffeuer durchs Dorf und die ärmeren unter den Dorfbewohnern, es waren ja nicht alles Bauern, gingen schon sehr früh nach Grafenau und stellten sich bei der Freibank an, um möglichst weit vorne in der Reihe zu stehen. Es konnte schon mal sein, dass man umsonst anstand, weil der Wartende vor einem das letzte Stückchen von dem heiß begehrten Fleisch bekommen hatte.
Die Tiere, die in der Freibank geschlachtet wurden und deren Fleisch man verkaufte, waren verunglückte oder kranke Tiere. Manchmal war das Fleisch schon vorgekocht, um mögliche Krankheitserreger abzutöten. Das Fleisch, das wir sonst gelegentlich im Kochtopf hatten, stammte in der Regel von Jungvögeln, die wir aus dem Nest geholt und geschlachtet hatten. Wählerisch durfte man da nicht sein. Ob der Jungvogel hätte eine Krähe werden sollen oder eine Elster, eine Turteltaube oder sonst irgendetwas, spielte dabei keine Rolle. Es befand sich manches Mal selbst eine Katze in der Bratpfanne. Die Bauern wunderten sich dann, wieso es bei uns so gut nach Braten roch. Irgendwann bekamen wir von einem jugendlichen Dorfbewohner junge Kaninchen und bald hatten wir keine so großen Sorgen mehr, was Fleisch betraf. Das Vorhandensein von Kleinvieh wurde bei der Zuteilung der Lebensmittel berücksichtigt. Dazu kam der Gemeindediener gelegentlich in alle Höfe und zu allen Einwohnern, um das vorhandene Vieh zu zählen und in Listen zu erfassen.
1946 wurde der Bayerische Wald zum Missionsgebiet der katholischen Kirche erklärt. Die Pater oder Mönche gingen von Haus zu Haus und predigten. Da wir evangelisch waren, hatten wir damit nichts zu tun. Eines Nachmittags kam doch so ein Pater zu uns und gab Mutter Eier und Speck und einiges andere. Mutter war überrascht und meinte, dass wir ja evangelisch seien und daher kein Anrecht auf Unterstützung durch die katholische Kirche hätten. Der Pater meinte, dass sie so viel geschenkt bekämen, dass sie es selbst nicht alles verwerten könnten. Beim Verzehr würde der Glaube nicht so wichtig sein, weil ein Protestant ebenso Hunger hat, wie ein Katholik. Die Bauern drängten uns immer, dass wir uns doch dem katholischen Glauben zuwenden sollten, dann hätten wir es leichter. Mit dem evangelischen Pfarrer, er hieß Riepl, hatten wir ständig Ärger. Mutter war eine recht resolute Frau und ließ sich nicht so schnell einschüchtern.
Wir Kinder beschlossen fast einstimmig, dass wir zum Katholizismus wechseln wollten. In der Dorfkapelle von Neudorf wurden wir dann an einem Abend katholisch getauft. Der für Neudorf zuständige Kooperator, ich glaube, er hieß Gscheiter, vollzog die Taufe. Ein Kind nach dem anderen hielt den Kopf über das Taufbecken und er goss aus einem Kännchen das geweihte Wasser über die Stirn und was sonst noch dazu gehörte. Nur Siegfried, der Älteste von uns Kindern, ließ sich nicht taufen, weil er bereits evangelisch konfirmiert war und nicht den Glauben wechseln wollte. Im Verhalten der Landbevölkerung uns gegenüber hat sich aber so gut wie nichts verändert. Nur wenige wurden dadurch zugänglicher.
Nach Ostern 1947 sollten wir dann alle die Firmung erhalten. Die Mädchen waren noch zu klein und so blieben nur drei Jungs zur Firmung übrig. Gerhard, der Zweite und Manfred der Vierte der Kinder fanden einen Firmpaten, doch für mich war keiner aufzutreiben. Ich wurde nie gefirmt. Trotz unseres Übertritts zum katholischen Glauben, hörten wir gelegentlich die Worte: „Is Zuagroasten, geht’s doch hie, wos herkumma seits!“ Hätten wir auch gerne getan, wenn es uns möglich gewesen wäre.
Am Ostersonntag 1947, am Vormittag, waren wir alle in der Wohnküche versammelt, als ein Mann an den beiden Fenstern vorbeiging. Er trug einen braunen Mantel und einen Seesack auf dem Rücken. Ich hatte sofort erkannt, dass es unser Vater war, der da an den Fenstern vorbei gegangen war, und rief es auch sogleich aus. Niemand wollte mir glauben, aber Augenblicke später stand er in voller Lebensgröße in der Tür. Das war ein Hallo und es wurde eines der schönsten Osterfeste, an die ich mich erinnern kann.
Vater war in Großbritannien in Kriegsgefangenschaft, obwohl er von amerikanischen Soldaten gefangen genommen worden war, aber wegen Minengefahr wurden die Gefangenen nicht nach Amerika verschifft, sondern nach Großbritannien gebracht. Anfangs waren die Gefangenen im Ernteeinsatz bei den britischen Bauern und später arbeitete Vater im Camp in der Küche. Entsprechend wohlgenährt kam er auch bei uns an. Aus seinem Mantel und den anderen Sachen wurden für uns Kinder Anzüge geschneidert, damit wir zur Firmung standesgemäß gekleidet sein konnten.
Im Laufe des Jahres 1947 gründete sich in Grafenau eine gemeinnützige Baugenossenschaft, die mit Hilfe des Marshallplanes Unterkünfte für die Flüchtlinge bauen sollte. Vater und auch Siegfried, er kam 1947 aus der Volksschule, bekamen Arbeit bei der gemeinnützigen Baugenossenschaft in Grafenau. Sie bauten eine Holzhaussiedlung und ein Musterhaus in Grafenau. Dieses Musterhaus wurde aus selbst gefertigten Lehmziegeln gebaut. Es war ein Doppelhaus und in die eine Hälfte zog der Architekt der Baugenossenschaft mit Familie ein. Die andere Familie weiß ich nicht mehr. Als das Projekt Grafenau abgeschlossen war, wurde in Spiegelau eine Siedlung in Angriff genommen und wer sich für eine Wohnung beworben hatte, musste 3000 Arbeitsstunden leisten und einen Genossenschaftsanteil erwerben, damit er auch berücksichtigt wurde. Wie die Eltern das geschafft haben, ist mir bis heute ein Rätsel. Von Neudorf bis Spiegelau waren es etwa 12 Kilometer und einfach zu weit, um täglich heimzukommen. So blieben die beiden ‚Männer‘ immer die ganze Woche in Spiegelau und waren nur am Sonntag zuhause. Fünf-Tage-Woche oder 40 Stunden-Woche gab es damals noch nicht. Der Verdienst war auch nicht gerade berauschend.
Bei der Baugenossenschaft schulte mein Vater, auf Anraten des Architekten, von Bäcker und Konditor, auf Maurer um und Siegfried erlernte ebenfalls das Maurerhandwerk. Beide machten die Gesellenprüfung. Die 3000 Arbeitsstunden waren bald geleistet und so siedelten wir am Gründonnerstag 1949 um, von Neudorf nach Spiegelau. Als wir einzogen, war das Haus noch nicht ganz fertig. Es konnte nur das Erdgeschoss genutzt werden. Es gab noch keine Treppe nach oben. Die Treppe zur Haustüre war ebenfalls noch im Bau. Meine Eltern haben das Haus später gekauft. Bernhard, unser jüngster Bruder hat das Haus geerbt und wir anderen Kinder haben auf ein Erbteil verzichtet, unter der Bedingung, dass sich Bernhard bis zu ihrem Tod um die Eltern kümmert. Hat er getan!
Vater starb an einem ‚Hefepilz‘, den die Ärzte nicht in den Griff bekamen, am 24. Dezember 1990, um 04.35 Uhr, Heilig Abend, im Krankenhaus Grafenau. Eine schöne Bescherung! Mutter starb am 28. Oktober 2001 im Krankenhaus in Freyung, abends gegen 22.00 Uhr.
In Spiegelau verließ ich Ende Juli 1950 die Volksschule und da ich keine geeignete Lehrstelle finden konnte, in die Glasfabrik wollte ich nicht, besuchte ich ab Oktober 1950 die neu gegründete Staatliche Mittelschule (heute Realschule) in Grafenau. Ich gehörte sozusagen zur „Gründerklasse“. Nach dreijährigem Besuch der Mittelschule schloss ich mit dem Grad der „Mittleren Reife“ ab. Von Spiegelau nach Grafenau sind es rund 8 Kilometer und alle Kinder, die in die Mittelschule nach Grafenau wollten, mussten nach Spiegelau zum Bahnhof kommen und von hier mit der Eisenbahn nach Grafenau fahren. Die Schüler kamen aus den umliegenden Dörfern per Fahrrad oder zu Fuß zum Bahnhof. Da zum Unterrichtsbeginn kein planmäßiger Personenzug verkehrte, wurde an den Güterzug ein Personenwagen angehängt. Oftmals gingen wir den Weg von Grafenau nach Spiegelau zu Fuß, wenn wir nicht rechtzeitig aus dem Unterricht weg konnten und nicht bis nachmittags um 17.00 Uhr in der Schule warten wollten. Als Pausenbrot hatte ich meistens nur vier Scheiben Brot mit Margarine bestrichen dabei. Mein Banknachbar war ganz verrückt nach meiner Brotzeit und gab mir 10 Pfennig für ein Brot. Von diesem Geld kaufte ich dann Bleistifte oder Hefte und gelegentlich mal ein Stück Pferdewurst. Die gab es immer am Mittwoch und wurde von der Pferdemetzgerei Kinateder aus Passau gebracht. Im Gasthof Setzer kauften wir einen Teller Suppe und ließen uns drei oder vier Löffel dazu bringen, da wir uns nicht jeder für sich einen Teller Suppe leisten konnten, obwohl er nur 50 Pfennig gekostet hatte. Beim Metzger am unteren Stadtplatz kauften wir sogenannten Leberpressack für 8 Pfennig je 100 g oder Negerbeutel für 10 Pfennig je 100 g. Heute heißt das Zeug Pfefferwurst oder Schwarzwurst. Wenn ich heute meinen Kindern diese Stories erzähle, sagen sie: „Papa hör auf, das glaubt dir ja doch kein Mensch!“
Ich wollte Landwirtschaftsinspektor werden, weswegen ich in eine landwirtschaftliche Lehre ging. Von September 1953 bis August 1954 lernte ich beim Landwirt Franz Mück, in Großarmschlag, Kreis Grafenau. Was ich hier nicht gelernt habe, habe ich später auch nicht gelernt. 1954 wechselte ich auf ein ehemaliges Rittergut, die Ritter von Maffeische Gutsverwaltung in Staltach, an den Osterseen gelegen, Gemeinde Iffeldorf, Kreis Weilheim-Schongau, südlich des Starnberger Sees, damals hieß er noch „Würmsee“. Auf Gut Nußdorf, bei Weilheim/Oberbayern, legte ich im Spätsommer 1955 die Landwirtschaftsgehilfenprüfung ab und kehrte zu den Eltern nach Spiegelau zurück, wo ich nach einer geeigneten Gehilfenstelle suchte. Es fand sich dann eine in Gnötzheim, in der Nähe von Uffenheim in Unterfranken. Nach der Eignungsprüfung an der Staatliche Lehranstalt in Triesdorf, kam ich also nach Gnötzheim, wo ich es immerhin einen Monat lang aushielt. Von meinem ersten Gehalt kaufte ich mir eine Fahrkarte und kehrte ins Elternhaus zurück.
Ich scheute keine Arbeit und verbrachte die Zeit bis zum Jahresende daheim. Da erhielt ich von meinem Vater die Nachricht, dass die Stuttgarter Straßenbahnen AG Leute sucht. Nach kurzem Briefwechsel erhielt ich eine Zusage und fuhr nach Stuttgart, wo ich am 29. Dezember 1955 mit der Arbeit begann. Damals erreichte man erst mit Vollendung des 21. Lebensjahres die Volljährigkeit und da ich gerade mal 19 Jahre alt war, bot man mir Arbeit in der Halle an, bis ich alt genug sei, um in den Fahrdienst zu wechseln.
Ein Arbeitskollege, der schon im Fahrdienst eingesetzt war, meinte eines Tages, dass für einen jungen Mann mit Mittlerer Reife die Arbeit in einer Straßenbahnhalle, mit Wagen waschen und Bremsklötze auswechseln, nicht das richtige sei und er war mit seinem Dienst ebenfalls nicht so recht zufrieden. Zu dieser Zeit suchte die Baden-Württembergische Bereitschaftspolizei junge Männer für den Polizeidienst. Dort bewarben wir uns. Ich bekam eine Absage, mit der Begründung, dass ich noch nicht volljährig sei und mich doch bei der Bereitschaftspolizei meines Heimatlandes bewerben soll. Sie schickten mir sogar die Adresse mit und so bewarb ich mich bei der Bayerischen Bereitschaftspolizei in Fürstenfeldbruck, machte im Juni meine Einstellungsprüfung und trat am 6. August 1956 in den Dienst der Bayerischen Polizei, wo ich bis zum Eintritt in den Ruhestand Dienst tat.
Bei der Bayer. Bereitschaftspolizei war ich in Eichstätt (Kreisfreie Stadt), vom 6. August 1956 bis zum 6. Januar 1959. Vom 7. Januar 1959 bis 18. Dezember 1959 absolvierte ich den 7. Anstellungslehrgang für den mittleren Polizeivollzugsdienst und bewarb mich um eine freie Stelle bei der Bayer. Grenzpolizei im Bereich Zwiesel im Bayerischen Wald. Da ich noch Resturlaub hatte, begann ich meinen Dienst am 16. Januar 1960 im tief verschneiten Bayerischen Wald, bei der Grenzpolizeistation Zwieslerwaldhaus.
Am 16. Mai 1959 heiratete ich noch während des Anstellungslehrganges meine erste Frau, Helga Elisabeth Friedrich. Da ich in Zwieslerwaldhaus keine Dienstwohnung erhalten konnte, wohnte ich mit einem anderen Kollegen im Ledigenzimmer. Erst im Laufe des Sommers wurde eine nicht benutzte Dienstwohnung zwangsgeräumt und nach umfangreichen Renovierungsarbeiten konnte ich dann mit meiner Familie einziehen. Hier blieb ich bis September 1967 und bewarb mich zur Flughafenpolizeigruppe nach München-Riem. Ich wurde versetzt und zog Ostern 1968 in eine Staatsbediensteten Wohnung in München-Solln, Schuchstraße 19. Den Dienst am Flughafen beendete ich im Oktober 1971 und wechselte in den Fernmeldedienst beim Präsidium der Bayer. Grenzpolizei, wo ich mit Ablauf des Monats Juni 1996 in den wohlverdienten Ruhestand ging.
In der Vorweihnachtszeit 1970 hatten wir, das waren meine damalige Frau, vier Kinder und ich, den ersten Kontakt zu den Missionaren der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und ließen uns am 27. Februar 1971 taufen. Die beiden Elders hießen Richard Jarvis und Fred Kamper. Es war ein großes Fest. Sicher kommt es nicht so häufig vor, dass sich eine sechsköpfige Familie der Kirche anschließt. Zur Taufe standen zwei Erwachsene und zwei Kinder bereit und die beiden anderen Kinder wurden gesegnet.
Am 01. April 1981wurde meine Ehe mit der damalige Frau, Helga Elisabeth Friedrich, geschieden. Sie wollte mich ganz einfach nicht mehr zum Mann. Später erfuhr ich, dass sie schon Jahre vorher in der Kirche herumposaunt hatte, dass sie sich scheiden lassen würde, sobald die Kinder etwas älter seien.
Am 2. Oktober 1981 heiratete ich meine jetzige Frau, Christiana, geborene Orsario. Wir haben einen Sohn, der am 31. März 1983 geboren wurde und momentan an der Universität Passau ein Lehramtsstudium für Gymnasien absolviert. Seine Fächer sind Deutsch und Englisch.
Hallo,
ich habe den Artikel auf der Suche nach Personen mit den Namen Heumos gefunden.
Die im Text erwähnte Tante Gretl (Margarete Heinicke) ist meine Oma väterlicherseits.
Sie ist leider 1992 verstorben.
Ihr Mann Kurt ist bereits 1968 verstorben, ein Jahr vor meiner Geburt.
Tante Liesl kenne ich ebenfalls noch aus meiner Kindheit.
Mein Vater ist Walter Heinicke, leider ist er 2003, kurz nach meiner Mutter Erika Heinicke, verstorben.
Die Begebenheiten in Plottendorf kenne ich auch noch aus Erzählungen, allerdings wußte ich nicht das Verwandte aus Schlesien dort Unterschlupf gefunden haben.
Es wäre schön wenn dieser Eintrag an Herr Rudolf Günther Eberhard Heumos übermittelt wird.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Heinicke
Lieber Thomas,
ich lasse gleich mal alle Förmlichkeiten weg. Schön, daß ich auf diese Weise von Verwandten erfahre, von denen ich bislang keine Ahnung hatte. Was mir neu ist, daß Tante Gretl und Onkel Kurt Kinder hatten. Ich stand zwar mit Tante Liesl bis zu Ihrem Tod in Kontakt, aber sie hat nie erwähnt, daß da von Tante Gretl Nachkommen existieren. In Plottendorf und Umgebung müssen ja noch einige Heumos existieren, von denen ich aber leider keine Anschriften habe. z.B. die Kinder von Onkel Robert. Durch Zufall habe ich über Bekannte von einem Manfred Heumos erfahren, der in Schkeuditz über Jahre Bürgermeister war. Stehen seither in Verbindung, wenn wir auch nicht viel Kontakt haben, so wissen wir doch von einander. Muß ihn ohnehin demnächst anrufen. Habe es versprochen, nur bin ich gesundheitlich nicht in der Lage, es jetzt zu tun.
Hoffe mal von dir zu hören.
Liebe Grüße
Eberhard.