Hof, Sachsen
Mein Name ist Annelies Höhle, geborene Schmidt. Ich bin am 3. Januar 1919 in Hof bei Oschatz geboren. Meine Mutter ist nach meiner Geburt mit mir wieder zurück nach Dresden gegangen. Sie war nur zur Entbindung zu Hause bei ihren Eltern. Ich bin in Dresden aufgewachsen. Mein Vater war Fritz Schmidt, meine Mutter Ida Hesse. Ich habe keine Geschwister. Mein Vater starb, als ich vier Jahre alt war.
Meine Mutter wollte zum Friedhof gehen und wollte eine Bekannte mitnehmen. Bei dieser traf sie auf Missionare. Sie ist mit den Missionaren zur Kirche gegangen. Es war Nachmittag und die FHV war versammelt. Ihr hat es so gut gefallen, vor allem die Kirchenlieder haben ihr so gut gefallen, dass sie immer wieder hingegangen ist. 1924 hat sie sich taufen lassen. Es gab große Schwierigkeiten. Die Mutter meines Vaters wohnte im gleichen Haus und sie war sehr gegen die Kirche. Sie machte meiner Mutter viele Schwierigkeiten. Später wohnten Missionare bei uns.
Als ich acht Jahre alt war, das war 1927, bin ich getauft worden. Meine Kindheit und meine Jugendzeit habe ich in der Kirche verbracht, in Dresden. In der Kirche habe ich auch meinen Mann kennengelernt. Mein Mann heißt Robert Höhle. Wir haben 1938 geheiratet. Das war eine ziemlich kritische Zeit, weil es schon so ein bisschen auf Krieg zuging, 1938, als die Deutschen in die Tschechei einmarschierten. Ich kann mich noch erinnern, dass Geschütze auf den Brücken standen.
In Dresden gab es damals zwei Gemeinden, Altstadt und Neustadt. Wir gehörten zur Gemeinde Neustadt. Mein Mann war dort Gemeindepräsident. Als der Krieg ausbrach, hatten wir ein neues Gemeindeheim in der Neustadt, ein ganz kleines Gebäude, ein ehemaliges Atelier. Die Missionare hatten uns bei der Renovierung und bei der Einrichtung geholfen. Ungefähr eine Woche, bevor der Krieg ausbrach, waren keine Missionare mehr da. Sie waren mit einem Schlag weg. Es wurden viele Brüder unserer Gemeinde eingezogen. Mein Mann und Bruder Karl Wöhe waren noch die einzigen Brüder, die da waren. Zur Altstädter Gemeinde hatten wir nur so viel Verbindung, dass wir Konferenzen zusammenhatten. Die Distriktskonferenzen waren in Altstadt. Mitglieder waren es vielleicht vierzig. Die Brüder waren alle schon zum Militär eingezogen worden und in den Kasernen untergebracht.
Ein Tag, bevor der Krieg ausbrach, ist unsere Tochter geboren, am 31. August 1939. Meine Tochter heißt Ursula Schlüter. Nach einem Jahr wurde mein Mann auch zum Militär eingezogen. Dann wurde Bruder Wöhe Gemeindepräsident. Die Gemeinde wurde immer kleiner.
Am 13. Februar 1945 sind wir von Dresden weggegangen. Wir wurden nicht ausgebombt. Wir haben zwar die ersten Bombenangriffe im Keller erlebt, aber unser Haus war stehengeblieben. Trotzdem sind wir von Dresden weggegangen, nach Hof, in den Ort, wo ich geboren bin. Dort lebte noch eine Tante von mir, die uns aufgenommen hat. Wir haben bis Juni 1945 dort gelebt. Die Zeit, als die Russen kamen, haben wir dort erlebt. Erst kam ein Anschlag von der amerikanischen Armee, dass wir alles abgeben sollten, wie Radios usw. und dass die Besetzung innerhalb von drei Tagen erfolgen würde. Dann kamen aber keine Amerikaner, sondern Russen. Das war eine böse Überraschung. Im Juni 1945 ist meine Mutter nach Dresden gegangen, um zu sehen, ob von unserer Wohnung noch etwas vorhanden war. Sie ist zu Fuß von Hof nach Lommatsch gegangen, von Lommatsch ging eine Kleinbahn nach Meißen, von Meißen ist sie wieder zu Fuß bis nach Weinböhla bei Dresden gelaufen und dort ging die Straßenbahn. Sie hat dann festgestellt, dass unser Haus noch steht, so dass wir wieder nach Hause konnten. Nach einer Woche ist sie zurückgekommen und dann haben wir uns auf den Weg gemacht, mit meiner Tochter und meinem Sohn.
Mein Sohn Winfried ist 1942 mit Downsyndrom geboren worden. Er konnte noch nicht alleine laufen. Wir sind zu Fuß von Hof nach Riesa gegangen. Damals gab es Ausgangssperre, wir durften vor sechs Uhr früh nicht aus dem Haus. Wir hatten aber den Mut, schon früher loszugehen, weil meine Mutter in Erfahrung gebracht hatte, dass von Riesa ein Schiff nach Dresden fährt. Zu diesem Schiff wollten wir gehen. Es war ein ziemliches Durcheinander: In Hof war normale Zeit und manche Orte hatten Sommerzeit. Als wir nach Riesa kamen, hatten sie dort Russenzeit. Das waren zwei Stunden Unterschied. Als wir an die Elbe kamen, war das Schiff weg, weil wir nach Normalzeit losgegangen waren und das Schiff war nach Russenzeit gefahren. Jetzt standen wir an der Elbe und sahen das Schiff sich entfernen. Das nächste Schiff fuhr erst am übernächsten Tag. Einen Tag fuhr das Schiff nach Dresden und einen Tag fuhr es zurück.
Nun wohin, mit einem Handwagen, einem Kinderwagen und zwei Kindern, die Betten und alles Mögliche auf dem Wagen? Ich habe an der Elbe gesessen und habe erst einmal geweint, weil ich nicht wusste, wie es nun weitergehen sollte. Meine Mutter sagte dann: „Ich kenne die Nachbarn von meiner Tante. Deren Eltern wohnen hier in Riesa. Wir können doch einmal versuchen, ob wir sie finden und ob sie uns für zwei Nächte zum Übernachten aufnehmen“. Wir sind zum Rathaus gegangen und meine Mutter hat nach der Familie Börner gefragt, wo sie wohnen. Der Beamter hat gesagt: „Tut mir leid, ich kann ihnen überhaupt keine Auskunft geben, alle Papiere sind verbrannt worden. Es weiß keiner, wer hier wohnt und wo“. Ein Mann hat neben meiner Mutter gestanden und hat gesagt: „Ich kenne eine Familie Börner hier in Riesa. Wenn sie mitkommen wollen, ich könnte ihnen zeigen, wo sie wohnen“. Wir sind mitgegangen und eine Frau schaute aus dem Fenster dieses Hauses, das war tatsächlich Frau Börner, die wir suchten. Sie haben uns für zwei Nächte aufgenommen. Wir konnten unseren Wagen im Hausflur unterbringen und sie haben uns auch zu essen gegeben. Zwei Nächte haben wir dort geschlafen. An dem Tag, als das Schiff wieder fuhr, hat uns Herr Börner sehr zeitig an das Schiff gebracht. So konnten wir mitfahren. Wir wurden eingeschichtet wie die Heringe ins Fass. Man konnte kaum auftreten, das Schiff war voll bis zum Gehtnichtmehr. Am späten Nachmittag sind wir in Dresden angekommen und konnten in unsere Wohnung in der Neustadt gehen. In der Wohnung waren inzwischen andere Leute. Sie hatten die Wohnung einfach aufgebrochen und wohnten darin. Wir hatten erst noch Schwierigkeiten. Ein Bruder, der als Flüchtling in unsere Gemeinde gekommen war, hat uns auf den Ämtern geholfen, damit wir unsere Wohnung wiederbekamen, wenigstens erst einmal die Küche und zwei Zimmer.
An dem Tag, als ich aus der Schule entlassen wurde, trat Hitler an die Macht. Ich ging dann zur Berufsschule und dort mussten wir – das Deutschlandlied kannten wir ja – das Lied „Die Fahne hoch“ noch dazulernen. Das wurde immer anschließend nach dem Deutschlandlied gesungen. Dort wurden wir aufgefordert, in den BDM einzutreten. Meine Mutter war dagegen. Es blieb uns eigentlich nichts anderes übrig, als dort einzutreten. Wir mussten auch entsprechende Kleidung haben, so eine Art Uniform. Meine Mutter hat es abgelehnt, mir diese Sachen zu kaufen. Ich bekam sie dann geschenkt. Durch die Kirche kannte ich schon meinen Mann, weil wir Jugendlichen oft zusammen waren. Jedenfalls hatte ich mehr Interesse, mich mit meinem Mann und den Jugendlichen zu treffen, als zur Stunde zum BDM (Bund Deutscher Mädchen) zu gehen. Ich habe oft geschwänzt.
Nachdem ich ein Jahr aus der Schule war, habe ich eine Lehre als Friseuse angefangen. Mit meinem Chef, einem Bayern und einem ordentlichen Nationalsozialisten, bin ich gar nicht klargekommen. Jedenfalls hatte ich dann eine Blinddarmerkrankung und wurde von Professor Rübsamen operiert. Er hatte meine Mutter zu sich gebeten und ihr gesagt, dass der Beruf als Friseuse nichts für mich wäre. Das Stehen wäre für den Unterleib nicht gut und er würde raten, dass wir doch einen anderen Beruf für mich suchen sollten. Ich habe dann eine Lehre als Stenotypistin angefangen. Zu der Zeit war ich mit meinem Mann schon sehr befreundet und wir haben uns dann verlobt. Ich bin nicht mehr zum BDM gegangen und bin ausgetreten.
1938 haben wir geheiratet. Eine Schwester meines Mannes war mit einem Juden verheiratet. Er hatte hier in Dresden ein Herrenkonfektionsgeschäft. Als ich ausgelernt und zu wenig Geld von dem Makler bekam, bei, dem ich gelernt hatte, habe ich mich beim Luftgaukommando bei der Luftwaffe als Stenotypistin beworben. Ich bin auch angenommen worden und arbeitete auf der August-Bebel-Straße im Luftgaukommando als Schreibkraft. Ich musste keine Uniform tragen.
Im November 1938 kam mein Chef, für den ich schreiben musste, zu mir und sagte: „Frau Höhle, sie sollen zum General kommen“. Das war außergewöhnlich, dass eine Schreibkraft zum General kommen sollte. Der General hieß Kesselring. Mein Chef sagte mir: „Machen sie sich nur keinen Kopf, das wird nicht so schlimm sein, wer weiß, was da ist“. Als ich zum General kam, sagte er: „Sie sind mit dem Juden Robert Eger verschwägert“. Ich sagte: „Ja“. Er wusste von jedem Mal, wenn ich mit der Schwester meines Mannes und ihrem Mann zusammengekommen war und er sagte zu mir: „An dem und dem Tag, von da bis da sei ich dort gewesen, bei dem Juden“. Meine Schwägerin hatte am gleichen Tag Geburtstag wie ich und wir haben zusammen gefeiert. Jedenfalls hatte man mich bespitzelt und jeder Schritt, den ich dahin gemacht hatte, war aufgezeichnet. Ich sollte mich verpflichten, keinerlei Verbindung zu dem Juden zu haben. Da habe ich gesagt: „Es tut mir leid, das kann ich nicht. Ich wohne bei meinen Schwiegereltern, wir haben da zwei Zimmer, und ich kann nicht verlangen, dass meine Schwägerin mit ihrem Mann nicht dahin kommt“. Er sagte: „Dann müssen wir sie entlassen und ich gebe ihnen den guten Rat, reichen sie von sich aus die Kündigung ein, damit in ihren Papieren nicht der Grund ihrer Entlassung steht“. Ich habe die Kündigung eingereicht und am 31. Dezember 1938 im Luftgaukommando aufgehört zu arbeiten.
Da ich wusste, dass ich schwanger war, war das gar nicht so schlimm für mich. Ich bin dann zu Hause geblieben. Wir wohnten bei meinen Schwiegereltern. Als mein Schwiegervater in Rente ging, war dann die Wohnung zu groß und zu teuer und sie hatten sich eine Kleinere gesucht. Für uns war die Wohnung auch zu teuer und wir sind zu meiner Mutter gezogen. Dort sind wir wohnen geblieben, bis wir die Nebenwohnung bekamen, kurz bevor unsere Tochter im August geboren wurde. Dort wohnten wir bis 1981. Im Krieg wohnte Bruder Wöhe über uns. Während des Angriffs war er aber in Freital bei seiner Arbeit. Er kam erst im Laufe des Tages.
Die Angriffe waren insofern schlimm, allerdings auch wenn keine Angriffe waren, weil keine Nacht ohne Sirene verging. Das bedeutete, die Kinder aus den Betten nehmen, anziehen, in den Keller gehen und dort sitzen bis Entwarnung kam und dann wieder hoch ins Bett. Meistens dauerte das eine Stunde. Mit zwei kleinen Kindern war das hart. Die Kinder konnten nicht schlafen. Wenn die Kinder am Tage gespielt haben, spielten sie nur „Alarm“. Sie krochen dann unter den Tisch, das war ihr Luftschutzkeller. Dort spielten sie mit ihren Puppen. Damals war das Spiel der Kinder.
Als wir während zwei Angriffe im Luftschutzkeller waren, war ich eigentlich verhältnismäßig ruhig, denn wir hatten abends gebetet. Man glaubt nicht, wie viele Menschen im Luftschutzkeller gebetet haben, die vorher von der Kirche gar nichts wissen wollten. Es war fürchterlich, die Angst, die die Leute hatten. Mein Sohn war im Kinderwagen, über den ich noch eine Decke geworfen hatte. Jedes Mal, wenn eine Bombe einschlug, puffte der Ruß aus dem Schornstein unten, wo der Schornsteinfeger den Ruß rausnahm. Damit das Kind nicht so belastet wurde, habe ich ihm eine Decke übergeworfen. Meine Tochter hatte ich meistens unter mir und sie sagte dann, dass sie einmal muss. Ich sagte ihr, dass sie jetzt nicht raus könne, sie müsse schon warten. Viele Menschen schrieen, wenn es pfiff, wenn eine Bombe einschlug und vorher ein Pfeifen zu hören war.
Tochter Ursula Schlüter: Ich werde nie dieses Geräusch vergessen, als ein ganzer Pulk von Flugzeugen kam, das brummte und dann pfiff es und dann war so etwas wie ein Krachen. Das hat mich lange verfolgt und manchmal habe ich das auch heute noch. Ich mochte Flugzeuge lange Zeit überhaupt nicht.
Annelies Höhle wieder: Durch die Kellerfenster sahen wir, dass es brannte. Hinter unserem Haus in dem Hof war eine Hut-Fabrik und sie hatten Lacke usw. Da waren wahrscheinlich Brandbomben drauf gefallen und es brannte lichterloh. Wir mussten noch im Keller sitzen, da es noch keine Entwarnung gab. Als ich dann hoch kam, sah ich, dass die Türen alle aufgerissen waren, obwohl sie zugemacht worden waren, alles war offen. Die Fenster waren kaputt und vor den Fenstern das Feuer. Ich habe die Gardinen runter gerissen, damit sie nicht Feuer fingen. Dann hieß es: „Es brennt auf dem Boden. Alle hoch und löschen“. Ich habe auf dem Tisch an einer Luke gestanden und habe Wassereimer rausgereicht, die andere brachten. Einmal bin ich hängen geblieben und mir ist ein Eimer übergekippt, so dass ich ganz nass war. Ein paar Leute sagten: „Gehen sie nur runter und ziehen sie sich um“. Als ich dann in der Wohnung war, ging die Sirene wieder. Der nächste Angriff kam. Die Kinder hatten wir im Keller gelassen. Der Keller war kein richtiger Luftschutzraum. Diese Luftschutzbunker gab es in Dresden nicht. Es gab nicht einen Bunker hier. In den Anlagen gab es Splitterschutzgräben. Da waren Gräben ausgehoben.
Der Gauleiter von Sachsen, Herr Mutschmann, hatte im Plaunschen Grund für sich einen Bunker. Er hatte seine Villa am großen Garten und hatte dort einen Bunker. Er hatte für sich viele Bunker, aber die Bevölkerung nicht gewarnt. Als ich aus dem Keller kam, haben wir keine Toten gesehen. Ein junger Mann aus dem Nebenhaus kam und suchte seine Eltern, die hier in der Stadt, im Zentrum wohnten. Seine Tante wohnte im Nebenhaus, das runter brannte. Er wollte in die Stadt, seine Eltern suchen. Nach einer kurzen Zeit kam er wieder und sagte: „Es ist unmöglich, in die Stadt zu kommen. Es ist unmöglich“. Er hatte Decken nass gemacht, aber es war unmöglich in die Stadt zu kommen. Auf dem Boden habe ich gesagt: „Was heult denn hier so fürchterlich?“ Das war ein Sturm, ein Geheule, es war ein Feuersturm, hervorgerufen durch den Sauerstoff, der vom Feuer aufgebraucht wurde. Das erzeugte ein Heulen und einen Sturm, der in den brennenden Gebieten Menschen direkt in das Feuer hineingezogen hat. Auf dem Altmarkt sind alle Toten gesammelt und verbrannt worden. Als wir dann in Hof waren, sollten die jungen Leute aus dem Dorf nach Dresden gehen, um zu helfen. Ein junger Mann, der wiederkam, sagte: „Er könne nichts mehr essen“. Es wäre fürchterlich gewesen, diese Toten alle auf dem Altmarkt zu sammeln und zu verbrennen. Heute wird der Altmarkt neu gemacht und ich habe gelesen, dass diese Pflastersteine von dort, wo die Toten verbrannt worden sind, als Mahnmal an einer Stelle in den Altmarkt eingefügt werden sollen. Diese Steine, die vom Feuer sehr mitgenommen sind.
Erst war mein Mann in Frankreich, in Brest, sie haben dort den Hafen mit Sperrballons geschützt. Dann wurden sie nach St. Nazaire verlegt. Er war dort, als die Engländer die erste Landung vorgenommen haben. Dann ging dort der Rückzug los, weil die zweite Landung kam und die war geglückt, so dass die Engländer auf dem Festland Fuß fassen konnten. So ging dann der siegreiche Rückzug los. In den Nachrichten hieß es immer „Ein siegreicher Rückzug“. Sie sind zurückgezogen und haben immer gesiegt. So hieß es auch bei den Nachrichten, die aus Stalingrad kamen, die haben immer gesiegt. Mein Mann ist dann zurück, immer weiter zurück bis nach Bayern. In Bayern ist er in amerikanische Gefangenschaft geraten. Er war in einem Gefangenenlager und wurde von dort zu einem Bauern als Arbeitskraft geschickt. Danach ist er in einem Entlassungslager gegangen und hat sich entlassen lassen. Er hat Papiere bekommen und ist mit einem Zug nach Dresden gefahren. Das war zu der Zeit, als noch Ausgangssperre war. Früh, fünf Uhr, klingelte es plötzlich an der Tür – da ich Angst vor den Russen hatte, schlief meine Mutter bei mir – und wir sagten uns, wer könnte das denn sein, so zeitig ist doch gar kein Ausgang? Ich ging an die Tür und da stand mein Mann. Es war kurz vor Weihnachten 1945, da kam er nach Hause. Die Freude war groß, dass alles heil und gesund war.
Er hatte dann auch wieder seine Arbeit. Wie gesagt, er musste in die Partei eintreten. Es wurde ihm gesagt, wenn er die Arbeit behalten wollte, müsste er in die SPD eintreten. Er ist dann eingetreten. In seiner Arbeitsstelle wusste man aber, dass er in die Kirche geht. Später ist er zum Parteisekretär bestellt worden und der hat ihm gesagt, er müsse sich entscheiden, entweder Kirche oder Partei. Mein Mann hat gesagt, dass er sich für die Kirche entscheide. Das war zu der Zeit, als es mit der DDR abwärts ging. Die Parteileitung sagte: „Um Himmelswillen, wollen sie auch noch einen Religionskrieg heraufbeschwören?“ Das Gespräch wurde unter den Tisch gekehrt, er blieb in der Partei. Eigentlich hat er sich gefreut, aus der Partei rauszukommen, aber er wurde nicht ausgeschlossen. Er konnte in der Kirche bleiben und gleichzeitig in der Partei.
Mein Mann war in der Gemeinde Chorleiter. Er leitete den Gemeindechor und sie haben viele schöne Chorkonzerte gegeben. Die Altstädter Gemeinde wurde ausgebombt, sie war völlig weg. Deshalb waren beide Gemeinden wieder zusammen. Erst einmal auf der Königsbrücker-Straße, in der Kleinen, die wir uns vor dem Krieg eingerichtet hatten. Wir bekamen auch ein Angebot, für die Kurt-Fischer-Allee, jetzt Stauffenberg-Allee, in der Kaserne. Das waren deutsche Kasernen von vor dem Krieg. Wir hatten einen großer Saal, das ehemalige Offiziers-Kasino und ein paar Nebenräume. Wir hatten diese zwei Möglichkeiten. Die Brüder haben sich aber für die Stauffenberg-Allee (damals Kurt-Fischer-Allee) entschieden. Ein großer Park war dabei, mit einem Luftschutzteich, den wir dann zugeschüttet haben. Es wurde Erde angefahren und wir haben alles zugeschüttet und schön gemacht. Bei Konferenzen hat sich jeder ein bisschen Verpflegung mitgebracht, da es damals noch nicht viel zu essen gab, und sie lagerten alle im Park auf ihren Decken und machten Picknick.
Mir fällt da gerade etwas ein: Bevor der Krieg zu Ende ging, als das schon sicher war, gingen die Flüchtlingsströme durch das Dorf aus, wo wir waren. Nachts kamen andauernd russische Tiefflieger. Die beschossen alles, was sich bewegte. Die Bauern fuhren nachts mit ihren Wagen nach Oschatz zum Proviantamt. Die Proviantämter wurden von der Bevölkerung gestürmt und die Bürgermeister haben veranlasst, dass die Bauern dorthin fuhren, um Lebensmittel zu holen, ganze Wagenladungen voll. Am Tage wurden die Lebensmittel an die Bevölkerung verteilt. Es gingen Zettel herum, um die und die Zeit, bei dem und dem Bauern, Behälter mitbringen, da gibt es das und das. Es gab Zucker, Kompott, Suppen, Schokolade, alles, was im Proviantamt zu haben war, auch Fleischkonserven. Als wir dann nach Dresden gegangen sind, hatten wir auf dem Handwagen einen ganz schönen Vorrat, mit dem wir uns über Wasser halten konnten. Es gab in den Geschäften nichts, es gab einfach nichts zu kaufen.
Ich kann mich noch erinnern, dass Präsident Heber J. Grant in Dresden war. Ich war damals verlobt, also noch nicht verheiratet. Mein Mann holte mich ab, ich weiß nicht, ob es zur FHV oder GFV war, da stand in der Umgebung der Kirche alles voll mit Bussen. Wir haben noch gesagt, wenn so ein Andrang zur Kirche wäre, das wäre herrlich. Wir kamen in die Gemeinde und da war der Andrang in der Kirche. Es war schnell bekannt geworden, dass der Prophet nach Dresden kommt. Von Görlitz, Freiberg von überall her waren sie mit Bussen gekommen. Das war 1936 oder 1937. Präsident Grant stand dann am Ausgang und hat allen die Hand gegeben.
Bevor die Spenden kamen, erhielten wir von ehemaligen Missionaren immer wieder Pakete, besonders von Bruder Clark. Unser jüngster Sohn ist 1949 geboren. Zu der Zeit gab es nichts, keine Windeln, nichts. Da haben wir von den Clarks alle Babysachen bekommen. Sie hatten eine Tochter, die ein Jahr älter war, also 1948 geboren, und von ihr haben sie uns alle Sachen geschickt, Windeln, Jäckchen, Mützchen. Mein Sohn hatte dann immer rosa Jäckchen an, statt blau, aber das war nicht schlimm, Hauptsache er hatte ein Jäckchen an. Sie haben uns auch Lebensmittel geschickt. Ein Missionar, Reuben Ward, schickte uns getrocknetes Rindfleisch und schrieb dazu, „Fleisch von Kuh“ oder so ähnlich. Darüber haben wir noch so herzlich gelacht. Er hat uns eine Gebrauchsanweisung mitgeschickt, wie wir das verwerten sollten.
Tochter: Erst ist es so gewesen: Sie müssen sich vorstellen, dass auch der ganze Verkehr lahm lag. Man musste große Strecken laufen, bis wieder ein Zug fuhr. Die Russen hatten alle Strecken eingleisig gemacht, die anderen Gleise ausgebaut und nach Russland gebracht, um dort wieder aufzubauen. Alle Züge waren überfüllt. Meine Oma ist immer in ihre Heimat, nach Hof gefahren und hat dort beim Bauern gearbeitet und dafür hat sie Bohnen und Kartoffeln bekommen. Sie ist mitunter auf dem Dach des Zuges gefahren, weil niemand mehr reinpasste. Die Leute hingen an der Tür und haben auf den Kupplungen gestanden. Meine Oma musste immer den Kopf einziehen, wenn es durch eine Brücke ging. Das war die erste Zeit. Sie hatte auch Probleme mit den Kontrollen der Russen. Man meinte, dass das Schieber seien, die so etwas befördern. So wurden ihr zum Teil Sachen wieder weggenommen.
Danach fing es in der Kirche an, dass die Lieferungen aus Amerika kamen. Auf einmal hatten wir sehr viele Mitglieder in der Gemeinde. Wir nannten sie „Büchsen-Mormonen“. Wir haben auch Kleidungsstücke bekommen und von den Missionaren wurden auch Malbücher und Stifte geschickt. Ich hatte zum Beispiel ein Malbuch von Roger Clark, dessen Bruder nach der Wende Missionspräsident in Berlin war. Da stand in kindlicher Schrift der Name und teils war es ausgemalt. Wir haben dann den Rest ausgemalt und uns darüber gefreut, weil es hier nichts gab. Die Sachen in der Kirche waren herrlich, zum Beispiel diese Patchwork-Decken. Damals waren die Versammlungen noch in der Woche. Meine Eltern gingen Dienstags- und donnerstags abends in die Kirche und ich hatte immer Angst, alleine zu bleiben mit meinem Bruder. Ich hatte diese herrliche Decke mit Blümchenmuster und kariert, eben verschiedene Stoffreste. Ich habe mich so gefreut und die Decke betrachtet. Wenn ich alleine blieb, gab es als ganz besondere Überraschung aus den Büchsen, die wir aus Amerika hatten, ein bisschen Trockenmilch (Milchpulver) und etwas Zucker in einer Tasse. Wir hatten ja keine Bonbons oder Schokolade. Das war die Belohnung, wenn ich alleine geblieben bin. Über die Verteilung weiß ich nichts Genaues, vielleicht kannst du darüber mehr sagen.
Annelies Höhle wieder: Die Mitglieder haben sich sehr darüber gefreut. Das war lebenserhaltend. Als unsere Tochter zur Schule kam, wog sie nur fünfzehneinhalb Kilo, sie war acht Jahre alt. Sie war nicht dünn, sie war dürr! Der Schularzt hat sie gefragt: „Kannst du dich zu Hause satt essen?“ Sie hat sich zu mir umgedreht und ich sagte ihr: „Du brauchst nicht erst die Mutti anschauen, du kannst das ruhig sagen“. Sie war vielleicht eines von den Kindern, die am meisten zu essen hatten, durch diese Hilfe von der Kirche. Aber sie aß nicht. Sie sagte dann: „Ich habe gestern erst gegessen“.
Tochter: Das waren wunderschön, die Pfirsiche und der Weizenschrot. Das Schönste war, 1947 sind wir an die Ostsee gefahren und dort hatte ich meinen achten Geburtstag. Da waren Geschwister, die uns eingeladen hatten und da gab es, genau wie hier, Schrotbrei mit Pfirsichen. Es war die Familie meines späteren Mannes. Dort, in der Ostsee, bin ich getauft worden. Ein Bruder Wächtler hat meinen Mann getauft und ich bin von meinem Vater getauft worden.